Größe und Grenzen des Humanismus
In der Zeit zwischen seinem vierzigsten und fünfzigsten Jahr erreicht Erasmus von Rotterdam den Zenit seines Ruhms: seit Hunderten Jahren hat Europa keinen Größeren gekannt. Kein Name eines Zeitgenossen, nicht jener Dürers, Raffaels, Lionardos, Paracelsus’ oder Michelangelos wird in jenen Tagen im geistigen Kosmos mit gleicher Ehrfurcht genannt, keines Schriftstellers Werke sind in so zahllosen Ausgaben verbreitet, kein moralisches oder künstlerisches Ansehen kann sich dem seinen vergleichen. Erasmus: das bedeutet für das beginnende sechzehnte Jahrhundert den Inbegriff des Weisen schlechthin, »optimum et maximum«, das denkbar Beste und denkbar Höchste, wie Melanchthon in seinem lateinischen Lobgesang rühmt, die unwiderlegliche Autorität in wissenschaftlichen, in dichterischen, in weltlichen und geistigen Dingen. Man preist ihn bald als »doctor universalis«, bald als »Fürsten der Wissenschaft«, als den »Vater der Studien« und »den Beschützer der ehrlichen Theologie«, man nennt ihn »das Licht der Welt« oder »die Pythia des Abendlandes«, »vir incomparabilis et doctorum phoenix«. Kein Lob ist für ihn zu groß. »Erasmus«, schreibt Mutian, »erhebt sich über Menschenmaß. Er ist göttlich und in frommer Andacht zu verehren wie ein himmlisches Wesen«, und Camerarius, ein anderer Humanist, berichtet: »Jeder bewundert, verherrlicht, preist ihn, der nicht als Fremdling im Reich der Musen gelten will. Kann einer einen Brief von ihm entlocken, so ist sein Ruhm ungeheuer und er feiert den herrlichsten Triumph. Wer ihn aber sprechen durfte, der ist selig auf Erden.«
In der Tat: ein Wettlauf hat begonnen um die Gunst des vor kurzem noch unbekannten Gelehrten, der bislang mühsam mit Dedikationen, Stundengeben und Bettelbriefen sein Leben fristete, der mit erniedrigenden Schmeicheleien sich von den Mächtigen magere Pfründen herauskalfakterte – jetzt werben die Mächtigen um ihn, und allemal ist es ein Schauspiel, glorreich zu sehen, wenn irdische Gewalt und Geld dem Geiste zu dienen genötigt sind. Kaiser und Könige, Fürsten und Herzöge, Minister und Gelehrte, Päpste und Prälaten wetteifern in Untertänigkeit um des Erasmus Gunst: Kaiser Karl, der Herr beider Welten, bietet ihm eine Stelle in seinem Rat, Heinrich VIII. will ihn nach England, Ferdinand von Österreich nach Wien, Franz I. nach Paris ziehen, aus Holland, Brabant, Ungarn, Polen und Portugal kommen die lockendsten Anträge, fünf Universitäten streiten um die Ehre, ihm einen Lehrstuhl zu verleihen, drei Päpste schreiben ihm ehrfürchtige Briefe. In seiner Stube häufen sich die freiwilligen Tribute reicher Verehrer, goldene Becher und silbernes Geschirr, Fuhren Weins werden gesendet und wertvolle Bücher, alles lockt, alles ruft ihn an, um mit seinem Ruhm den eigenen zu mehren. Erasmus aber, klug und skeptisch zugleich, nimmt all diese Gaben und Ehren höflich entgegen. Er läßt sich beschenken, er läßt sich loben und rühmen, gerne sogar und mit unverhohlenem Wohlbehagen, aber er verkauft sich nicht. Er läßt sich dienen, aber er übernimmt niemandes Dienst, unerschütterlicher Vorkämpfer jener innern Freiheit und Unbestechlichkeit des Künstlers, die er als notwendige Vorbedingung jeder moralischen Wirkung erkannt hat. Er weiß, daß er für sich allein am stärksten bleibt, und welche überflüssige Torheit wäre es auch, wollte er seinem Ruhm von Hof zu Hof nachwandern, statt ihn wie einen Stern leuchtend und ruhig über sein eigenes Haus zu stellen. Erasmus braucht längst niemandem mehr nachzureisen, denn alles reist zu ihm, Basel wird durch seine Anwesenheit eine Residenz, ein geistiger Mittelpunkt der Welt. Kein Fürst, kein Gelehrter, kein Mann, der auf Ansehen hält, versäumt es, auf der Durchreise dem großen Weisen seine Reverenz zu erweisen, denn Erasmus gesprochen zu haben, gilt allgemach schon als eine Art kulturellen Ritterschlags und ein Besuch bei ihm (so wie im achtzehnten Jahrhundert bei Voltaire, im neunzehnten bei Goethe) als die sinnfälligste Ehrfurchtsbezeigung vor dem symbolischen Träger der unsichtbaren geistigen Macht. Um ein Signum von seiner Hand in ihr Stammbuch zu erhalten, pilgern hohe Adelige und Gelehrte viele Tage weit; ein Kardinal, Neffe des Papstes, der dreimal vergeblich Erasmus zu Tisch gebeten, fühlt sich, als dieser seine Einladung ablehnt, nicht entwürdigt, ihn seinerseits in der schmutzigen Druckstube Frobens aufzusuchen. Jeder Brief, den Erasmus schreibt, wird vom Empfänger in Brokat eingeschlagen und vor ehrfürchtigen Freunden wie eine Reliquie enthüllt, eine Empfehlung gar des Meisters öffnet als Sesam alle Türen, – nie hat ein einzelner Mensch, nicht Goethe und kaum Voltaire, eine solche weltgebietende Macht in Europa bloß kraft seines geistigen Daseins besessen. Von unserer Zeit her gesehen ist diese überragende Stellung des Erasmus zunächst weder aus seinem Werk noch aus seinem Wesen vollkommen verständlich; wir erblicken in ihm heute einen klugen, humanen, einen vielseitigen und vielförmigen, einen anregenden und anziehenden, aber keinen hinreißenden und weltumformenden Geist. Aber Erasmus war für sein Jahrhundert mehr als eine literarische Erscheinung, er wurde und war der symbolische Ausdruck seiner geheimsten geistigen Sehnsucht. Jede Epoche, die sich erneuern will, projiziert ihr Ideal zunächst in eine Gestalt, immer wählt sich der Zeitgeist, um sein eigenes Wesen selber sinnfällig zu begreifen, einen Menschen als Typus, und indem er dieses einzelne und oft zufällige Individuum weit über sein Maß erhebt, enthusiasmiert er sich gewissermaßen für den eigenen Enthusiasmus. Neue Gefühle und Gedanken sind immer nur einem auserlesenen Kreise verständlich, die breite Masse vermag sie in abstrakter Form niemals zu erfassen, sondern ausschließlich sinnlich und anthropomorph; darum setzt sie gerne an die Stelle der Idee einen Menschen, ein Bild, ein Vor-Bild, dem sie sich gläubig nachzubilden sucht. Dieser Zeitwunsch prägt sich für eine kurze Spanne in Erasmus vollkommen aus, denn der »uomo universale«, der Nichteinseitige, der Vielwissende, frei in die Zukunft Blickende ist der Idealtypus des neuen Geschlechts geworden. Im Humanismus feiert die Zeit ihren eigenen Denkmut und ihre neue Hoffnung. Zum erstenmal wird geistige Gewalt der bloß ererbten und überlieferten vorangestellt, und wie stark, wie schnell diese Umwertung sich durchsetzt, beweist die Tatsache, daß die alten Machtträger sich selbst freiwillig den neuen unterordnen. Es ist nur Symbol, wenn Karl V. zum Schrecken seiner Höflinge sich bückt, um dem Hirtensohn Tizian einen herabgefallenen Pinsel aufzuheben, wenn der Papst, gehorsam Michelangelos grobem Befehl, die Sixtina verläßt, um den Meister nicht zu stören, wenn die Prinzen und Bischöfe statt Waffen plötzlich Bücher und Bilder und Handschriften sammeln; unbewußt kapitulieren sie damit vor der Erkenntnis, daß die Macht des schöpferischen Geistes im Abendlande die Herrschaft angetreten hat und daß die künstlerischen Schöpfungen die kriegerischen und politischen Zeitbauten zu überdauern bestimmt sind. Zum erstenmal sieht Europa seinen Sinn und seine Sendung in der Vorherrschaft des Geistes, im Aufbau einer einheitlichen abendländischen Zivilisation, in einer vorbildlich schaffenden Weltkultur.
Für diese neue Gesinnung wählt sich die Zeit Erasmus zum Bannerträger. Als den »antibarbarus«, den Bekämpfer aller Rückständigkeit, alles Traditionalismus, als den Verkünder einer erhobeneren, freieren und humaneren Menschlichkeit, als den Wegweiser eines kommenden Weltbürgertums stellt sie ihn allen anderen voran. Wir von heute allerdings empfinden das Verwegen-Suchende, das Großartig-Ringende, das Faustische jenes Jahrhunderts in einem andern tieferen Typus des »uomo universale« unendlich großartiger ausgeprägt, in Lionardo und Paracelsus. Aber gerade, was im letzten der Größe des Erasmus Abbruch tut, seine klare (oft allzu durchsichtige) Verständlichkeit, sein Sichbegnügen mit dem Erkennbaren, sein verbindlich urbanes Wesen, machte damals sein Glück. Und instinktiv wählte die Zeit richtig: jede Welterneuerung, jede völlige Umpflügung versucht es zunächst mit den gemäßigten Reformatoren statt mit den rabiaten Revolutionären, und in Erasmus sieht die Zeit das Symbol der still, aber unaufhaltsam wirkenden Vernunft. Einen wunderbaren Augenblick lang ist Europa einig in dem humanistischen Wunschtraum einer einheitlichen Zivilisation, die mit einer Weltsprache, einer Weltreligion, einer Weltkultur der uralten, verhängnisvollen Zwietracht ein Ende machen sollte, und dieser unvergeßliche Versuch bleibt denkwürdig gebunden an die Gestalt und den Namen des Erasmus von Rotterdam. Denn seine Ideen, Wünsche und Träume haben für eine Weltstunde Europa beherrscht, und es ist sein und zugleich unser Verhängnis, daß dieser reingeistige Wille zur endgültigen Einigung und Befriedung des Abendlands nur ein rasch vergessenes Zwischenspiel blieb in der mit Blut geschriebenen Tragödie unseres allgemeinsamen Vaterlands.
Dieses Imperium des Erasmus, das zum erstenmal – denkwürdige Stunde! – alle Länder, Völker und Sprachen Europas umfaßte, war eine milde Herrschaft. Weil gewaltlos errungen, einzig durch die werbende und überzeugende Kraft geistiger Leistung, verabscheut der Humanismus jede Gewalt. Weil einzig per acclamationem erwählt, übt Erasmus keinerlei rechthaberische Diktatur. Freiwilligkeit und innere Freiheit sind die Staatsgrundgesetze seines unsichtbaren Reiches. Nicht mit Unduldsamkeit, wie vordem die Fürsten und die Religionen, will die erasmische Geisteshaltung die Menschen ihrem humanistischen und humanitären Ideal untertänig machen, sondern wie ein offenes Licht das im Dunkel sich herumtreibende Getier in seine reine Sphäre lockt, sanft überzeugend die noch Unwissenden und Abseitigen in ihre Klarheit ziehen. Der Humanismus ist nicht imperialistisch gesinnt, er kennt keine Feinde und will keine Knechte. Wer dem erlesenen Kreise nicht angehören will, möge außen bleiben, man zwingt ihn nicht, man nötigt ihn nicht gewaltsam in dieses neue Ideal; jede Unduldsamkeit – die ja immer einem innern Unverstehen entstammt – ist dieser Lehre der Weltverständigung fremd. Aber anderseits wird niemandem der Zutritt in diese neue geistige Gilde versagt. Humanist kann jeder werden, der nach Bildung und Kultur Verlangen trägt; jeder Mensch jeden Standes, Mann oder Frau, Ritter oder Priester, König oder Kaufmann, Laie oder Mönch hat Zutritt zu dieser freien Gemeinschaft, an keinen wird die Frage nach Herkunft aus Rasse und Klasse, nach Zugehörigkeit zu Sprache oder Nation gestellt. Damit erscheint ein neuer Begriff im europäischen Gedanken: der übernationale. Die Sprachen, die bisher die undurchdringliche Scheidewand zwischen den Menschen waren, sollen nicht länger die Völker trennen: eine Brücke wird geschlagen zwischen ihnen allen durch die Gemeinschaftssprache des allgültigen humanistischen Lateins, und ebenso soll das Vaterlandsideal als ein unzulängliches, weil zu enges Ideal, überwunden werden durch das europäische, das übernationale Ideal. »Die ganze Welt ist ein gemeinsames Vaterland«, proklamiert Erasmus in seiner »Querela pacis«, und von dieser überragenden Stufe europäischer Schau scheint ihm die mörderische Zwietracht der Nationen, jede Gehässigkeit zwischen Engländern, Deutschen und Franzosen ein Widersinn: »Warumb zertrennen uns alle diese närrischen Namen mehr, denn uns der Name Christi vereint?« Alle diese Zwistigkeiten innerhalb Europas sind für den humanistisch gesinnten Menschen nichts anderes als Mißverständnisse, verschuldet durch ein zu geringes Verstehen, durch eine zu geringe Bildung, und die Aufgabe des kommenden Europäers soll es werden, statt auf die eitlen Ansprüche der Duodezfürsten, der Sektenfanatiker, der Nationalegoisten sich gefühlsmäßig einzulassen, immer das Bindende und Verbindende zu betonen, das Europäische über dem Nationalen, das Allmenschliche über dem Vaterländischen, und den Begriff der Christenheit als einer bloßen Religionsgemeinschaft zu verwandeln in den einer universalen Christlichkeit, einer hingegeben dienenden und demütigen Menschheitsliebe. Die erasmische Idee zielt also höher als auf eine bloße kosmopolitische Gemeinschaft, in ihr wirkt bereits ein entschlossener Wille zu einer neuen geistigen Einheitsform des Abendlands. Zwar hatten vordem schon einzelne Menschen eine Vereinheitlichung Europas versucht, die römischen Cäsaren, Karl der Große, und später wird es Napoleon tun, aber mit Feuer und Eisen hatten diese Autokraten getrachtet, die Völker und Staaten zusammenzuschließen, mit dem Hammer der Gewalt hatte die Faust des Eroberers die schwächeren Reiche zertrümmert, um sie den stärkeren zu verketten. Bei Erasmus aber – entscheidender Unterschied! – erscheint Europa als eine moralische Idee, als eine vollkommen unegoistische und geistige Forderung; mit ihm beginnt jenes noch heute nicht erfüllte Postulat der vereinigten Staaten Europas im Zeichen einer gemeinsamen Kultur und Zivilisation.
Die selbstverständliche Vorbedingung für Erasmus, den Vorkämpfer dieser und aller Verständigungsideen, ist die Ausschaltung jeder Gewalt und insbesondere die Abschaffung des Krieges, dieses »Schiffbruchs aller guten Ding«. Erasmus ist als der erste literarische Theoretiker des Pazifismus zu betrachten; nicht weniger als fünf Schriften hat er in einer Zeit fortwährender Kriege gegen den Krieg geschrieben; 1504 die Aufforderung an Philipp den Schönen, 1514 jene an den Bischof von Cambrai, »sie möchten sich als christliche Fürsten, um Christi willen des Friedens annehmen«, 1515 in den »Adagia« den berühmten Aufsatz mit dem ewig wahren Titel: »Dulce bellum inexpertis« (»nur denen, die ihn nicht erfahren haben, scheint der Krieg schön«). 1516 spricht er in seiner »Unterweisung eines frommen und christlichen Fürsten« den jungen Kaiser Karl V. mahnend an, und schließlich erscheint 1517 die in allen Sprachen verbreitete und bei allen Völkern doch ungehörte »Querela pacis«, die »Klage des Friedens, der bei allen Nationen und Völkern Europas verworfen, vertrieben und erlegt worden ist«.
Aber schon damals, fast ein halbes Jahrtausend vor unserer Zeit, weiß Erasmus, wie wenig ein beredter Friedensfreund auf Dank und Zustimmung zu rechnen hat, »es ist dahin kommen, daß es als thierlich, nerrisch und unchristlich gilt, daß man den Mundt wider den Krieg öffnet«, was ihn aber nicht hindert, mit immer wiederholter Entschlossenheit im Zeitalter des Faustrechtes und der gröbsten Gewalttätigkeiten seine Angriffe gegen die Streitsucht der Fürsten zu eröffnen. Nach seiner Meinung ist Cicero im Recht, wenn er sagt, daß »ein ungerechter Friede noch besser sei als der gerechteste Krieg«, und ein ganzes Arsenal von Argumenten, aus dem noch heute reichlich geschöpft werden könnte, hält der einsame Streiter dem Krieg entgegen. »Wenn die Tiere einander anfallen«, klagt er, »so verstehe ichs und verzeihe es ihrer Unwissenheit«, aber die Menschen müßten erkennen, daß der Krieg an sich schon notwendigerweise Ungerechtigkeit bedeute, denn er trifft gewöhnlich nicht diejenigen, die ihn anfachen und führen, sondern fast immer falle seine ganze Last auf die Unschuldigen, auf das arme Volk, das weder von Siegen noch von Niederlagen zu gewinnen habe. »Der meist Teil erreicht die, die der Krieg gar nichts angeht, und selbst wenn es im Kriege auf das allerbeste glückt, so ist doch die Glückseligkeit eines Teils der andern Schad und Verderben.« Die Idee des Krieges sei also niemals mit der Idee der Gerechtigkeit zu verbinden, und dann – so fragt er abermals –, wie könne überhaupt ein Krieg gerecht sein? Für Erasmus gibt es weder im theologischen noch im philosophischen Bezirk eine absolute und alleingültige Wahrheit. Wahrheit ist für ihn immer vieldeutig und vielfarbig und ebenso das Recht, deshalb solle »an keinem Ort der Fürst bedächtiger sein, als sich zum Kriege zu bewegen, und nicht unbedingt auf sein Recht pochen, denn wer sieht nicht sein Sach als die gerecht an?« Alles Recht habe zwei Seiten, alle Dinge seien »gefärbt, angestrichen und durch Parteien verderbt«, und selbst wenn einer sich im Rechte dünkte, so sei das Recht nicht durch Gewalt entschieden und auch niemals durch Gewalt beendet, denn »ein Krieg wachse aus dem andern, aus einem zween«.
Für geistige Menschen bedeutet also Entscheidung durch Waffen niemals moralische Lösung eines Konflikts; ausdrücklich erklärt Erasmus, daß im Kriegsfall die Geistigen, die Gelehrten aller Nationen ihre Freundschaft nicht aufzukündigen hätten. Ihre Einstellung darf niemals sein, die Gegensätze der Meinungen, der Völker, der Rassen und Klassen durch eifernde Parteilichkeit zu verstärken, unerschütterlich haben sie in der reinen Sphäre der Menschlichkeit und Gerechtigkeit zu verharren. Ihre ewige Aufgabe bleibt, der »ungütigen, unchristlichen und thierisch wilden Unsinnigkeit des Krieges« die Idee der Weltgemeinsamkeit und Weltchristlichkeit entgegenzusetzen. Nichts wirft Erasmus der Kirche, als der höchsten moralischen Stätte, darum heftiger vor, als daß sie die große augustinische Idee des »christlichen Weltfriedens« um irdischer Machterhöhung willen preisgegeben habe. »Es schämen sich die Theologen und die Meister des christlichen Lebens nicht, Hauptanfacher, Entzünder und Beweger der Sache gewesen zu sein, die der Herr Christus so groß und sehr gehaßt hat«, ruft er zornig aus und: »Wie kommt der Bischofsstab und das Schwert zusammen, der Bischofshut und der Helm, das Evangelium und der Schild? Wie geht es an, Christus zu predigen und den Krieg, mit einer einzigen Trompet Gott und den Teufel?« Der »kriegerische Geistliche« sei also nichts als Widersinn gegen Gottes Wort, denn er verleugne die höchste Botschaft, die ihm sein Herr und Lehrer zugesprochen, als er sagte: »Friede sei mit euch!«
Immer wird Erasmus leidenschaftlich, wenn er gegen Krieg, Haß und einseitige Borniertheit die Stimme erhebt, aber diese Leidenschaftlichkeit seiner Entrüstung verwirrt niemals die Klarheit seiner Weltbetrachtung. Zugleich Idealist vom Herzen her und Skeptiker vom Verstände, war sich Erasmus aller Widerstände bewußt, die sich im realen Räume der Verwirklichung jenes »christlichen Weltfriedens«, jener Alleinherrschaft der humanen Vernunft entgegenstellten. Der Mann, der in seinem »Lob der Torheit« alle Spielarten des menschlichen Wahns und Widersinns in ihrer Unbelehrbarkeit beschrieben, gehörte nicht zu jenen idealistischen Träumern, die meinen, man könne mit geschriebenem Wort, mit Büchern, Predigten und Traktaten den immanenten Gewalttrieb der menschlichen Natur abtöten oder auch nur betäuben; er täuschte sich keineswegs über die Tatsache hinweg, daß diese Kraftlust und Kampffreude seit kannibalischen Tagen, seit Jahrhunderten und Jahrtausenden der Menschheit im Blute gärt, dumpfe Erinnerung an den Urhaß des einstigen Menschentiers gegen das andere Menschentier, und daß noch Jahrhunderte und vielleicht Jahrtausende sittlicher Erziehung und kultureller Emporgestaltung nötig sein werden zu einer völligen Entbestialisierung und Humanisierung des Menschengeschlechts. Er wußte, daß elementare Triebe sich nicht wegschwätzen lassen mit milden und moralischen Worten und nahm das Barbarische in dieser Welt als ein Gegebenes und zunächst Unüberwindliches hin. Sein eigentlicher Kampf ging darum in anderer Sphäre, er konnte als Geistmensch sich immer nur an den Geistigen wenden, nicht an die Geführten und Verführten, sondern an die Führer, an die Fürsten, die Priester, die Gelehrten, die Künstler, an jene, die er verantwortlich wußte und machte für jeden Unfrieden in der europäischen Welt. Als weitsichtiger Denker hatte er längst erkannt, daß der Gewalttrieb an sich noch nicht weltgefährlich ist. Die Gewalt allein hat einen knappen Atem; sie schlägt blind und tollwütig zu, aber ziellos in ihrem Willen, kurz in ihrem Denken, sackt sie nach solchen jähen Ausbrüchen ohnmächtig in sich zusammen. Selbst wo sie ansteckend wirkt und psychotisch ganze Gruppen erregt, werden es nur zuchtlose Rotten, die sich verlaufen, sobald die erste Hitze gekühlt ist. Nie sind im Laufe der Geschichte Aufstände und Ausbrüche ohne geistige Führung einer wirklichen Ordnung gefährlich geworden – erst wenn der Gewalttrieb einer Idee dient oder die Idee sich seiner bedient, entstehen die wahrhaften Tumulte, die blutigen und zerstörenden Revolutionen, denn erst durch eine Parole wird eine Rotte zur Partei, erst durch Organisation zur Armee, erst durch ein Dogma zur Bewegung. Alle großen gewalttätigen Konflikte innerhalb der Menschheit sind weniger verschuldet durch den blutgebundenen Gewaltwillen der Menschheit als durch eine Ideologie, die diesen Gewaltwillen entfesselt und gegen einen vorbestimmten anderen Teil der Menschheit treibt. Erst der Fanatismus, dieser Bastard aus Geist und Gewalt, der die Diktatur eines, und zwar seines Gedankens, als der einzig erlaubten Glaubens- und Lebensform dem ganzen Universum aufzwingen will, zerspaltet die menschliche Gemeinschaft in Feinde oder Freunde, Anhänger oder Gegner, Helden oder Verbrecher, Gläubige oder Ketzer; weil er nur sein System anerkennt und nur seine Wahrheit wahrhaben will, muß er zur Gewalt greifen, um jede andere innerhalb der gottgewollten Vielfalt der Erscheinungen zu unterdrücken. Alle gewaltsamen Einschränkungen der Geistesfreiheit, der Meinungsfreiheit, Inquisition und Zensur, Scheiterhaufen und Schafott hat nicht die blinde Gewalt in die Welt gesetzt, sondern der starrblickende Fanatismus, dieser Genius der Einseitigkeit und Erbfeind der Universalität, dieser Gefangene einer einzigen Idee, der in dies sein Gefängnis immer die ganze Welt zu zerren und sperren versucht.
Darum kann für den Humanisten Erasmus, der immer auf das Allgemeinsame der Menschheit als auf ihren höchsten und heiligsten Besitz hinweist, der Geistige keine schwerere Schuld auf sich laden, als wenn er dem ewig bereiten Willen der Massen zur Gewalttätigkeit mit einer einseitigen Ideologie den entscheidenden Vorwand gibt, denn er erregt damit Urkräfte, die seinen ursprünglichen Gedanken wild überrennen und seine reinsten Absichten zerstören. Ein einzelner kann die Masse in Leidenschaft jagen, aber fast nie ist es ihm auch gegeben, diese entfesselte Leidenschaft zurückzureißen. Wer sein Wort in eine geduckte Flamme haucht, muß sich bewußt sein, daß eine Lohe zerstörerisch auffährt, wer Fanatismus erregt, indem er ein einzelnes System des Daseins, des Denkens und Glaubens zum alleingültigen erklärt, muß die Verantwortlichkeit erkennen, daß er damit zur Weltentzweiung, zum geistigen oder wirklichen Krieg gegen jede andere Denk- und Lebensform aufruft. Jede Tyrannei eines Gedankens ist Kriegserklärung gegen die geistige Freiheit der Menschheit, und wer, wie Erasmus, für alle Ideen eine höchste Synthese sucht, eine allmenschliche Harmonie, muß darum jede Form der Denkeinseitigkeit, des blindesten Nicht-verstehen-Wollens als Angriff gegen seinen Verständigungsgedanken betrachten. Der humanistisch erzogene, der human gesinnte Mensch im erasmischen Sinne darf deshalb keiner Ideologie sich verschwören, weil alle Ideen ihrem Wesen nach zur Hegemonie streben, er hat an keine Partei sich zu binden, weil es Pflicht jedes Parteimenschen ist, parteiisch zu sehen, zu fühlen, zu denken. Er hat sich die Freiheit des Denkens und Handelns bei jedem Anlasse zu wahren, denn ohne Freiheit ist Gerechtigkeit unmöglich, sie, die einzige Idee, welche der ganzen Menschheit als höchstes Ideal gemeinsam sein soll. Erasmisch denken heißt darum unabhängig denken, erasmisch wirken im Sinne der Verständigung wirken. Der Erasmische, der Menschheitsgläubige hat nicht das Trennende innerhalb seines Lebenskreises zu fördern, sondern das Bindende, er hat nicht die Einseitigen in ihrer Einseitigkeit, die Feindlichen in ihrer Feindseligkeit zu bestärken, sondern Verstehen zu verbreiten und Verständigungen anzubahnen, und je fanatischer die Zeit wird in ihrer Parteilichkeit, um so entschlossener hat er in seiner Überparteilichkeit zu verharren, die auf das menschlich Gemeinsame in all diesen Irrungen und Verwirrungen blickt, unbestechlicher Anwalt der geistigen Freiheit und Gerechtigkeit auf Erden. Jeder Idee billigt darum Erasmus ihr Recht zu und keiner den Anspruch auf Rechthaberei; er, der die Torheit selbst zu verstehen und zu rühmen versuchte, steht keiner Theorie und These von Anfang feindlich entgegen und jeder im Augenblick, da sie die anderen vergewaltigen will. Der Humanist als der Vielwissende liebt die Welt gerade um ihrer Vielfalt willen und ihre Gegensätze erschrecken ihn nicht. Nichts liegt ihm ferner, als ihre Gegensätze aufheben zu wollen nach Art des Fanatikers und Systematikers, der alle Werte auf einen Nenner und alle Blumen auf eine Form und Farbe zu bringen sucht; eben dies ist ja das Signum humanistischen Geistes, Gegensätze nicht als Feindschaft zu werten und für alles scheinbar Unvereinbare die übergeordnete Einheit, die menschliche, zu suchen. Da Erasmus in sich selbst die sonst schroff feindlichen Elemente zu versöhnen wußte, Christentum und Antike, Freigläubigkeit und Theologie, Renaissance und Reformation, mußte es ihm glaubhaft scheinen, auch die ganze Menschheit werde einmal die Vielfalt ihrer Erscheinungen in ein beglückendes Zusammenspiel, ihre Widersprüche in eine höhere Harmonie verwandeln. Diese letzte Weltverständigung, die europäische, die geistige, sie bildet eigentlich das einzige religiöse Glaubenselement des sonst eher kühlen und rationalistischen Humanismus, und mit derselben Inbrunst wie die andern dieses dunklen Jahrhunderts ihren Gottesglauben, verkündet er die Botschaft seines Menschheitsglaubens: daß es Sinn, Ziel und Zukunft der Welt sei, statt ihren Einseitigkeiten ihren Gemeinsamkeiten zu leben und dadurch immer humaner, immer menschlicher zu werden.
Für diese Erziehung zur Humanität weiß der Humanismus nur einen Weg: den Weg der Bildung. Erasmus und die Erasmiker meinen, das Menschliche im Menschen könne nur gesteigert werden vermittels der Bildung und des Buches, denn nur der Ungebildete, nur der Unbelehrte gebe sich unbedenklich seinen Leidenschaften hin. Der gebildete Mensch, der zivilisierte Mensch – hier liegt der tragische Fehlschluß ihres Denkens – sei grober Gewalt nicht mehr fähig, und wenn die Gebildeten, die Kultivierten und Zivilisierten die Oberhand gewännen, so müßte das Chaotische und Bestialische von selbst abklingen, Kriege und geistige Verfolgungen zum abgelebten Anachronismus werden. In ihrer Überschätzung des Zivilisatorischen mißverstehen die Humanisten die Urkräfte der Triebwelt mit ihrer unzähmbaren Gewalt und banalisieren durch ihren Kulturoptimismus das furchtbare und kaum lösbare Problem des Massenhasses und der großen leidenschaftlichen Psychosen der Menschheit. Ihre Rechnung ist etwas zu einfach: für sie gibt es zwei Schichten, eine untere und eine obere, unten die unzivilisierte, rohe, leidenschaftliche Masse, oben den klaren Bezirk der Gebildeten, der Verstehenden, der Humanen, der Zivilisierten, und die Hauptarbeit scheint ihnen getan, wenn es gelingt, immer größere Teile der unteren Schichten, der unkultivierten, in die obere der Kultur zu ziehen. So wie in Europa immer mehr Ödland urbar gemacht wurde, in dem sich vordem wild und gefährlich die reißenden Tiere Umtrieben, so müsse es auch im Menschlichen gelingen, allmählich den Unverstand und die Roheit in unseren europäischen Bezirken auszuroden und eine freie, klare und fruchtbare Zone der Menschlichkeit zu schaffen. So setzen sie an die Stelle des religiösen Gedankens die Idee eines unaufhaltsamen Aufstiegs der Menschheit. Der Fortschrittsgedanke, lange ehe durch Darwin eine wissenschaftliche Methode, wird durch sie zum moralischen Ideal: auf ihm ruhen das achtzehnte und das neunzehnte Jahrhundert, in vieler Hinsicht sind erasmische Ideen die Hauptprinzipien der modernen Gesellschaftsordnung geworden. Dennoch wäre nichts verfehlter, als im Humanismus und vollends in Erasmus einen Demokraten und einen Vorläufer des Liberalismus zu sehen. Nicht einen Augenblick denken Erasmus und die Seinen daran, dem Volk, dem ungebildeten und unmündigen – für sie ist jeder Ungebildete ein Unmündiger – auch nur das geringste Recht einzuräumen, und obwohl sie zwar abstrakt die ganze Menschheit lieben, hüten sie sich sehr, mit dem vulgus profanum sich gemein zu machen. Blickt man näher zu, so ist bei ihnen statt des alten Adelshochmuts nur ein neuer gesetzt, jener dann durch drei Jahrhunderte weiterwirkende akademische Dünkel, der einzig dem Lateinmenschen, dem Universitätsgebildeten, den Anspruch zuerkennt, über Recht und Unrecht, über sittlich und unsittlich zu entscheiden. Die Humanisten sind ebenso entschlossen, im Namen der Vernunft die Welt zu regieren wie die Fürsten im Namen der Gewalt und die Kirche im Namen Christi. Ihr Traum zielt auf eine Oligarchie, eine Herrschaft der Bildungsaristokratie: nur die Besten, die Kultiviertesten, οίαριστοι, sollen im Sinne der Griechen die Führung der polis, des Staates übernehmen. Kraft ihres überlegenen Wissens, ihrer hellsichtigeren und humaneren Anschauung fühlen sie sich allein berufen, als Mittler und Führer in die ihnen töricht und rückständig erscheinenden Streitigkeiten zwischen den Nationen einzugreifen, aber diese Verbesserung der Zustände wollen sie durchaus nicht mit Hilfe des Volkes erzielen, sondern über die Masse hinweg. So stellen im tiefsten Grunde die Humanisten keine Absage an das Rittertum dar, sondern seine Erneuerung in geistiger Form. Sie hoffen, mit der Feder die Welt zu erobern, wie jene mit dem Schwert, und unbewußt schaffen sie sich wie jene eine eigene Gesellschaftskonvention, die sich von den »Barbaren« absondert, eine Art höfischen Zeremoniells. Sie adeln ihre Namen, indem sie sie ins Lateinische oder Griechische übersetzen, um damit ihre Herkunft aus dem Volk zu verschleiern, sie nennen sich Melanchthon statt Schwarzerd, Mykonius statt Geißhüsler, Olearius statt Oelschläger, Chytraeus statt Kochhafe und Cochlaeus statt Dobnick, sie kleiden sich mit besonderer Sorgfalt in schwarze, wallende Gewänder, um sich von dem Stande der andern Stadtleute schon äußerlich zu distanzieren. Sie würden es ebensosehr für Erniedrigung halten, ein Buch oder einen Brief in ihrer Muttersprache zu schreiben, wie ein Ritter sich entrüstete, wollte man ihm zumuten, statt hoch zu Roß vorauszuziehen, im Troß mit dem gemeinen Fußvolk zu marschieren. Jeder einzelne fühlt sich durch das gemeinsame Kulturideal zu einer besonders vornehmen Haltung in Verkehr und Umgang verpflichtet, sie meiden heftige Worte und pflegen die urbane Höflichkeit in einem Zeitalter der Grobheit und Roheit als besondere Pflicht. In Wort und Schrift, in Sprache und Haltung bemühen sich diese Aristokraten des Geistes um Vornehmheit der Gesinnung und des Ausdrucks, und so spiegelt sich noch ein letzter Glanz des sterbenden Rittertums, das mit Kaiser Maximilian ins Grab gesunken, in diesem geistigen Orden, der statt des Kreuzes das Buch zum Panier genommen. Und wie die adelige Ritterschaft der groben, eisenspeienden Gewalt der Kanonen, so wird diese edle idealistische Schar dem wuchtigen, bauernkräftigen Stoß der Volksrevolution eines Luther, eines Zwingli in Schönheit aber ohnmächtig erliegen. Denn gerade dieses Vorbeisehen am Volke, diese Gleichgültigkeit gegen die Wirklichkeit hat von vornherein dem Reich des Erasmus jede Möglichkeit der Dauer und seinen Ideen die unmittelbar wirkende Kraft genommen: der organische Grundfehler des Humanismus war, daß er von oben herab das Volk belehren wollte, statt zu versuchen, es zu verstehen und von ihm zu lernen. Diese akademischen Idealisten glaubten schon zu herrschen, weil ihr Reich weithin reichte, weil sie in allen Ländern, Höfen, Universitäten, Klöstern und Kirchen ihre Diener, Gesandten und Legaten hatten, die stolz die Fortschritte der »eruditio« und »eloquentia« in bisher barbarischen Bezirken meldeten, aber im tiefsten umfaßte dies Reich doch nur eine dünne Oberschicht und war schwach verwurzelt mit der Wirklichkeit. Wenn Briefe aus Polen und Böhmen, aus Ungarn und Portugal jeden Tag Erasmus begeisterte Botschaft brachten, wenn aus aller Herren Ländern Kaiser, Könige und Päpste um seine Gunst warben, so mochte Erasmus in manchen Augenblicken, eingeschlossen in seine Studierstube, sich dem Wahn hingeben, das Reich der Ratio sei schon dauerhaft begründet. Aber über diesen lateinischen Briefen überhörte er das Schweigen der großen Millionenmasse und auch das Murren, das immer heftiger aus diesen unmeßbaren Tiefen erdröhnte. Weil das Volk für ihn nicht vorhanden war, weil er es für unfein und eines Gebildeten für unwürdig hielt, um die Gunst der Masse zu buhlen und sich mit Ungebildeten, den »Barbaren«, überhaupt einzulassen, hat der Humanismus immer nur für die happy few und niemals für das Volk existiert, und sein platonisches Menschheitsreich ist im letzten ein Wolkenreich geblieben, eine kurze Stunde lang die ganze Welt überleuchtend, wundervoll anzuschauen, ein reines Gebilde des schaffenden Geistes, und von seiner Höhe selig niederblickend auf eine verdunkelte Welt. Aber einem wirklichen Sturm – schon ballt er sich im Dunkel – wird dieses kühle und künstliche Gebilde nicht standhalten und kampflos der Vergänglichkeit anheimfallen.
Denn dies war die tiefste Tragik des Humanismus und die Ursache seines raschen Niederganges: seine Ideen waren groß, aber nicht die Menschen, die sie verkündeten. Ein kleines Gran Lächerlichkeit haftet diesen Stubenidealisten wie immer den bloß akademischen Weltverbesserern an, dürre Seelen sie alle, wohlgesinnte, honette, ein wenig eitle Pedanten, die ihre lateinischen Namen tragen wie eine geistige Maskerade: eine schullehrerhafte Pedanterie verstaubt bei ihnen die blühendsten Gedanken. Rührend sind diese kleinen Genossen des Erasmus in ihrer professoralen Naivität, ein wenig ähnlich den braven Menschen, die man auch heute in den philanthropischen und Weltverbesserungsvereinen versammelt erblickt, theoretische Idealisten, die an den Fortschritt wie an eine Religion glauben, nüchterne Träumer, die an ihren Schreibpulten eine sittliche Welt konstruieren und Thesen des ewigen Friedens niederschreiben, während in der wirklichen Welt ein Krieg dem andern folgt und ebendieselben Päpste, Kaiser und Fürsten, die ihren Verständigungsideen begeistert Beifall zollen, gleichzeitig mit- und gegeneinanderpaktieren und die Welt in Brand setzen. Wird ein neues Cicero-Manuskript gefunden, so glaubt der humanistische Clan, das Weltall müsse in seinen Fugen vor Jubel erdröhnen, jedes kleine Pamphletchen versetzt sie in Feuer und Leidenschaft. Aber was die Menschen der Gasse bewegt, was in den Tiefen der Massen urgründig waltet, das wissen sie nicht und wollen sie nicht wissen, und weil sie in ihren Zimmern verschlossen bleiben, verliert ihr wohlgemeintes Wort jede Resonanz in die Wirklichkeit. Durch diese verhängnisvolle Absonderung, durch den Mangel an Leidenschaft und Volkstümlichkeit ist es dem Humanismus niemals gelungen, seinen fruchtbaren Ideen wirkliche Fruchtbarkeit zu geben. Der großartige Optimismus, der im Grunde ihrer Lehre enthalten war, vermochte nicht schöpferisch aufzuwachsen und sich zu entfalten, weil sich unter diesen theoretischen Pädagogen der Menschheitsideen kein einziger befand, dem die ungebrochene Naturkraft des Wortes gegeben war, um bis hinab ins Volk zu rufen. Ein großer, ein heiliger Gedanke verdorrt für ein paar Jahrhunderte in einem matten Geschlecht.
Aber doch, diese Weltstunde, da die heilige Wolke des Menschheitsvertrauens mit ihrem milden unblutigen Schein unsere europäische Erde überglänzte, sie war schön, und wenn ihr Wahn, schon seien die Völker im Zeichen des Geistes befriedet und vereint, auch ein voreiliger war, wir sollten ihr Ehrfurcht und Dankbarkeit entgegenbringen. Immer waren der Welt Menschen notwendig, die sich weigern, zu glauben, die Geschichte sei nichts als eine stumpfe, monotone Selbstwiederholung, ein in veränderter Gewandung sich gleich sinnlos erneuerndes Spiel, sondern die unbelehrbar darauf vertrauen, daß sie moralisch Fortschritt bedeute, daß auf unsichtbarer Stufenleiter unser Geschlecht aufsteige von Tierhaftigkeit zu Göttlichkeit, von brutaler Gewalt zum weise ordnenden Geist, und daß die letzte, die höchste Stufe der völligen Verständigung schon nahe, schon beinahe erreicht sei. Die Renaissance und der Humanismus schufen eine solche weltgläubige optimistische Minute: lieben wir darum diese Zeit und ehren wir ihren fruchtbaren Wahn. Denn zum erstenmal erwuchs damals unserem europäischen Geschlecht das Selbstvertrauen, alle früheren Epochen zu überholen und eine höhere, wissendere, weisere Menschheit zu formen als sogar Griechenland und Rom. Und die Wirklichkeit scheint diesen ersten Verkündern des europäischen Optimismus recht zu geben, denn geschehen nicht Herrlichkeiten in jenen Tagen, die alles Frühere übertreffen? Sind nicht in Dürer und Lionardo ein neuer Zeuxis und Apelles erstanden, in Michelangelo ein neuer Phidias? Ordnet nicht die Wissenschaft die Gestirne und die irdische Welt nach klaren und neuen Gesetzen? Schafft nicht das aus den neuen Ländern strömende Geld unermeßlichen Reichtum herbei und dieser Reichtum neue Kunst? Und ist nicht die Zaubertat Gutenbergs gelungen, die jetzt das schöpferische, das bildungszeugende Wort vertausendfacht über die Erde streut? Nein, es kann nicht mehr lange dauern, so jubeln Erasmus und die Seinen, und die Menschheit, so verschwenderisch von ihrer eigenen Kraft belehrt und beschenkt, muß ihre moralische Mission erkennen, in Hinkunft nur mehr brüderlich zu leben, sittlich zu handeln und alle Rückstände ihrer bestialischen Natur endgültig auszurotten. Wie Trompetenstoß dröhnt das Wort Ulrichs von Hutten über die Welt: »Es ist eine Lust zu leben«, und gläubig und ungeduldig sehen von den Zinnen des erasmischen Reichs die Bürger des neuen Europa einen Lichtstreif am Horizont der Zukunft erglänzen, der nach langer Geistesnacht endlich den Tag der Weltbefriedung zu verkünden scheint.
Aber es ist nicht das heilige Morgenrot, das über der finsteren Erde dämmert: es ist der Feuerbrand, der ihre idealische Welt zerstören wird. Wie die Germanen ins klassische Rom, so bricht Luther, der fanatische Tatmensch, mit der unwiderstehlichen Stoßkraft einer nationalen Volksbewegung in ihren übernationalen, idealistischen Traum. Und noch ehe der Humanismus sein Werk der Welteinigung wahrhaft begonnen hat, schlägt die Reformation die letzte geistige Einheit Europas, die ecclesia universalis, mit eisernem Hammerschlag entzwei.
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