Sendung und Lebenssinn
Erasmus von Rotterdam, einstmals der größte und leuchtendste Ruhm seines Jahrhunderts, ist heute, leugnen wir es nicht, kaum mehr als ein Name. Seine unzählbaren Werke, verfaßt in einer vergessenen, übernationalen Sprache, dem humanistischen Latein, schlafen unaufgestört in den Bibliotheken; kaum ein einziges der einstmals weltberühmten spricht noch herüber in unsere Zeit. Auch seine persönliche Gestalt ist, weil schwer faßbar und in Zwischenlichtern und Widersprüchen schillernd, von den kräftigeren und heftigeren Figuren der anderen Weltreformatoren stark verschattet worden und von seinem privaten Leben wenig Unterhaltsames zu vermelden: ein Mensch der Stille und unablässigen Arbeit erschafft sich selten eine sinnliche Biographie. Aber sogar seine eigentliche Tat ist dem Gegenwartsbewußtsein verschüttet und verborgen wie immer der Grundstein unter dem schon aufgeführten Gebäude. Deutlich und zusammenfassend sei darum vorangesprochen, was uns Erasmus von Rotterdam, den großen Vergessenen, heute noch und gerade heute teuer macht – daß er unter allen Schreibenden und Schaffenden des Abendlandes der erste bewußte Europäer gewesen, der erste streitbare Friedensfreund, der beredteste Anwalt des humanistischen, des welt- und geistesfreundlichen Ideals. Und daß er überdies ein Besiegter blieb in seinem Kampf um eine gerechtere, einverständlichere Gestaltung unserer geistigen Welt, dies sein tragisches Schicksal verbindet ihn nur noch inniger unserem brüderlichen Gefühl. Erasmus hat viele Dinge geliebt, die wir lieben, die Dichtung und die Philosophie, die Bücher und die Kunstwerke, die Sprachen und die Völker, und ohne Unterschied zwischen ihnen allen die ganze Menschheit um der Aufgabe höherer Versittlichung willen. Und er hat nur ein Ding auf Erden wahrhaft als den Widergeist der Vernunft gehaßt: den Fanatismus. Selber der unfanatischeste aller Menschen, ein Geist vielleicht nicht höchsten Ranges, aber weitesten Wissens, ein Herz nicht gerade rauschender Güte, aber rechtschaffenen Wohlwollens, erblickte Erasmus in jeder Form von Gesinnungsunduldsamkeit das Erbübel unserer Welt. Seiner Überzeugung nach wären beinahe alle Konflikte zwischen Menschen und Völkern durch gegenseitige Nachgiebigkeit gewaltlos zu schlichten, weil alle doch in der Domäne des Menschlichen liegen; fast ein jeder Widerstreit könnte vergleichsweise ausgetragen werden, überspannten nicht immer die Treiber und Übertreiber den kriegerischen Bogen. Darum bekämpfte Erasmus jedweden Fanatismus, ob auf religiösem, ob auf nationalem oder weltanschaulichem Gebiete, als den gebornen und geschwornen Zerstörer jeder Verständigung, er haßte sie alle, die Halsstarrigen und Denkeinseitigen, ob im Priestergewand oder Professorentalar, die Scheuklappendenker und Zeloten jeder Klasse und Rasse, die allorts für ihre eigene Meinung Kadavergehorsam verlangen und jede andere Anschauung verächtlich Ketzerei nennen oder Schurkerei. So wie er selbst niemandem seine eigenen Anschauungen aufzwingen wollte, so leistete er entschlossenen Widerstand, irgendein religiöses oder politisches Bekenntnis sich aufnötigen zu lassen. Selbständigkeit im Denken war ihm eine Selbstverständlichkeit, und immer sah dieser freie Geist eine Verkümmerung der göttlichen Vielfalt der Welt darin, wenn einer, ob auf der Kanzel oder auf dem Katheder, aufstand und von seiner eigenen persönlichen Wahrheit wie von einer Botschaft redete, die Gott ihm und ihm allein ins Ohr gesprochen. Mit aller Kraft seiner funkelnden und schlagenden Intelligenz bekämpfte er darum ein Leben lang auf allen Gebieten die rechthaberischen Fanatiker ihres eigenen Wahnes – und nur in ganz seltenen glücklichen Stunden lächelte er über sie. In solchen milderen Momenten erschien ihm der engstirnige Fanatismus nur als bedauernswerte Borniertheit des Geistes, als eine der unzähligen Formen der »Stultitia«, deren tausend Abarten und Spielarten er in seinem »Lob der Narrheit« so ergötzlich klassifizierte und karikierte. Als der wahrhaft und vorurteilslos Gerechte verstand und bemitleidete er sogar seinen erbittertsten Feind. Aber im tiefsten hat Erasmus immer gewußt, daß dieser Unheilgeist der menschlichen Natur, daß der Fanatismus ihm seine eigene mildere Welt und sein Leben zerstören werde.
Denn des Erasmus Sendung und Lebenssinn war die harmonische Zusammenfassung der Gegensätze im Geiste der Humanität. Er war geboren als eine bindende oder, um mit Goethe zu sprechen, der ihm ähnlich war in der Ablehnung alles Extremen, eine »kommunikative Natur«. Jede gewaltsame Umwälzung, jeder »tumultus«, jeder trübe Massenzank widerstrebte für sein Gefühl dem klaren Wesen der Weltvernunft, der er als treuer und stiller Bote sich verpflichtet fühlte, und insbesondere der Krieg schien ihm, weil die gröbste und gewalttätigste Form der Austragung inneren Gegensatzes, unvereinbar mit einer moralisch denkenden Menschheit. Die seltene Kunst, Konflikte abzuschwächen durch gütiges Begreifen, Dumpfes zu klären, Verworrenes zu schlichten, Zerrissenes neu zu verweben und dem Abgesonderten höheren gemeinsamen Bezug zu geben, war die eigentliche Kraft seines geduldigen Genies, und mit Dankbarkeit nannten die Zeitgenossen diesen vielfach wirkenden Willen zur Verständigung schlechthin »das Erasmische«. Diesem »Erasmischen« wollte dieser eine Mann die Welt gewinnen. Weil er in sich selbst alle Formen des Schöpferischen vereinte, in einem Dichter, Philolog, Theolog und Pädagog, hielt er im ganzen Weltraum eine Bindung auch des scheinbar Unversöhnlichen für möglich; keine Sphäre blieb seiner vermittelnden Kunst unerreichbar oder fremd. Für Erasmus bestand kein moralischer, kein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Jesus und Sokrates, zwischen christlicher Lehre und antikischer Weisheit, zwischen Frömmigkeit und Sittlichkeit. Er nahm die Heiden, er, der geweihte Priester, im Sinne der Toleranz in sein geistiges Himmelreich und stellte sie brüderlich zu den Kirchenvätern; Philosophie war ihm eine andere und ebenso reine Form des Gottsuchens wie die Theologie, zum christlichen Himmel sah er nicht minder gläubig empor wie dankbar zu dem griechischen Olymp. Die Renaissance mit ihrem sinnlich frohen Überschwang, sie erschien ihm nicht wie Calvin und den anderen Zeloten als die Feindin der Reformation, sondern als ihre freiere Schwester. Er anerkannte, seßhaft in keinem Lande und heimisch in allen, der erste bewußte Kosmopolit und Europäer, keinerlei Überlegenheit einer Nation über die andere, und weil er sein Herz erzogen hatte, die Völker einzig zu werten nach ihren edelsten und geformtesten Geistern, nach ihrer Elite, so dünkten sie ihn alle liebenswert. Alle diese Gutgesinnten nun aus allen Ländern, Rassen und Klassen zu einem großen Bund der Gebildeten zusammenzurufen, diesen erhabenen Versuch nahm er als eigentliches Lebensziel auf sich, und indem er Latein, die Sprache über den Sprachen, zu einer neuen Kunstform und Verständigungssprache erhob, erschuf er den Völkern Europas – unvergeßliche Tat! – für die Dauer einer Weltstunde eine übernational einheitliche Denk- und Ausdrucksform. Sein weites Wissen blickte dankbar ins Vergangene zurück, sein gläubiger Sinn vertrauensvoll der Zukunft entgegen. An dem Barbarischen der Welt aber, das Gottes Plan tölpisch boshaft mit fortwährender Feindseligkeit immer neu zu verwirren strebt, sah er beharrlich vorbei; nur die obere, die formgebende und schöpferische Sphäre zog ihn brüderlich an, und er hielt es für die Aufgabe jedes Geistigen, diesen Raum zu erweitern und zu verbreitern, damit er einmal wie das Himmelslicht einheitlich und rein die ganze Menschheit umfasse. Denn dies war der innerste Glaube (und der schöne, der tragische Irrtum) dieses frühen Humanismus: Erasmus und die Seinen hielten einen Fortschritt der Menschheit durch Aufklärung für möglich und erhofften eine Erziehungsfähigkeit des einzelnen wie der Gesamtheit durch eine allgemeinere Verbreitung von Bildung, Schrift, Studium und Buch. Diese frühen Idealisten hatten ein rührendes und fast religiöses Vertrauen in die Veredlungsfähigkeit der menschlichen Natur durch beharrliche Pflege des Lernens und Lesens. Als büchergläubiger Gelehrter zweifelte Erasmus niemals an der vollkommenen Lehrbarkeit und Erlernbarkeit des Sittlichen. Und das Problem einer völligen Harmonisierung des Lebens dünkte ihn schon gewährleistet durch diese von ihm als ganz nah erträumte Humanisierung der Menschheit.
Ein solcher hoher Traum war wohl angetan, wie ein kraftvoller Magnet aus allen Ländern die Besten der Zeit anzuziehen. Immer erschiene ja dem sittlich fühlenden Menschen die eigene Existenz unbeträchtlich und wesenlos ohne den tröstlichen Gedanken, den seelenerweiternden Wahn, auch er als einzelner könne mit seinem Wunsch und Wirken etwas hinzutun zu einer allgemeinen Versittlichung der Welt. Nur Stufe sei unsere Gegenwart zu einer höheren Vollkommenheit, nur Vorbereitung eines viel vollkommeneren Lebensprozesses. Wer diese Hoffnungskraft auf den sittlichen Fortschritt der Menschheit durch ein neues Ideal zu beglaubigen weiß, der wird Führer seiner Generation. So Erasmus. Die Stunde war seinem Gedanken europäischer Einigung im Geist der Humanität ungemein günstig, denn die großen Entdeckungen und Erfindungen der Jahrhundertwende, die Erneuerung der Wissenschaften und Künste durch die Renaissance waren seit langem wieder ein beglückendes, ein übernationales Kollektiverlebnis ganz Europas gewesen; zum erstenmal wieder nach unzähligen bedrückten Jahren beseelte die abendländische Welt Vertrauen in ihre Sendung, und aus allen Ländern strömten die besten idealistischen Kräfte dem Humanismus zu. Jeder wollte Bürger, Weltbürger werden in diesem Reich der Bildung; Kaiser und Päpste, Fürsten und Priester, Künstler und Staatsmänner, Jünglinge und Frauen wetteiferten, sich in den Künsten und Wissenschaften unterrichten zu lassen, das Latein wurde ihre gemeinsame Brudersprache, ein erstes Esperanto des Geistes: zum erstenmal – rühmen wir diese Tat! – seit dem Einsturz der römischen Zivilisation war durch die Gelehrtenrepublik des Erasmus wieder eine gemeinsame europäische Kultur im Werden, zum erstenmal nicht die Eitelkeit einer einzigen Nation, sondern die Wohlfahrt der ganzen Menschheit das Ziel einer brüderlich idealischen Gruppe. Und dieses Verlangen der Geistigen, sich im Geiste zu binden, der Sprachen, sich in einer Übersprache zu verständigen, der Nationen, sich im Übernationalen endgültig zu befrieden, dieser Triumph der Vernunft war auch der Triumph des Erasmus, seine heilige, aber kurze und vergängliche Weltstunde.
Warum konnte – schmerzliche Frage – ein so reines Reich nicht dauern? Warum gewinnen immer wieder ebendieselben hohen und humanen Ideale geistiger Verständigung, warum das »Erasmische« so wenig wirkliche Gewalt in einer doch längst über den Widersinn aller Feindseligkeit belehrten Menschheit? Wir müssen leider klar erkennen und bekennen, daß niemals ein Ideal breiten Volksmassen vollkommen Genüge tut, das einzig die allgemeine Wohlfahrt ins Auge faßt; bei den durchschnittlichen Naturen fordert auch der Haß sein düsteres Recht neben der bloßen Liebesgewalt, und der Eigennutz des einzelnen will von jeder Idee auch rasche persönliche Nutznießung. Immer wird der Masse das Konkrete, das Greifbare eingängiger sein als das Abstrakte, immer darum im Politischen jede Parole am leichtesten Anhang finden, die statt eines Ideals eine Gegnerschaft proklamiert, einen bequem faßbaren, handlichen Gegensatz, der gegen eine andere Klasse, eine andere Rasse, eine andere Religion sich wendet, denn am leichtesten kann der Fanatismus seine frevlerische Flamme am Haß entzünden. Ein bloß bindendes, ein übernationales, ein panhumanes Ideal dagegen wie das erasmische entbehrt selbstverständlich für eine Jugend, die ihrem Gegner kämpferisch ins Auge sehen will, das optisch Eindrucksvolle und bringt niemals jenen elementaren Anreiz wie das stolz Absondernde, das jedesmal den Feind jenseits der eigenen Landesgrenze und außerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft aufzeigt. Immer werden es darum die Parteigeister leichter haben, welche die ewig menschliche Unzufriedenheit in eine bestimmte Windrichtung jagen; der Humanismus aber, die erasmische Lehre, die für keinerlei Haßleidenschaft Raum hat, setzt heroisch ihre geduldige Anstrengung auf ein fernes und kaum sichtbares Ziel, sie ist und bleibt ein geistaristokratisches Ideal, solange das Volk, das sie sich träumt, solange die europäische Nation nicht verwirklicht ist. Zugleich Idealisten und doch Kenner der menschlichen Natur, dürfen darum die Anhänger einer zukünftigen Menschheitsverständigung niemals im unklaren sein, daß ihr Werk ständig von dem ewig Irrationalen der Leidenschaft bedroht ist, sie müssen aufopfernd bewußt bleiben, daß immer wieder in den Zeiten eine Sturzflut des Fanatismus, geballt aus den Urtiefen der menschlichen Triebwelt, alle Dämme überfluten und zerreißen wird: fast jede neue Generation erlebt solch einen Rückschlag, und es ist dann ihre moralische Aufgabe, ihn ohne innere Verwirrung zu überdauern.
Die persönliche Tragik des Erasmus aber bestand darin, daß gerade er, der unfanatischeste, der antifanatischeste aller Menschen, und gerade in dem Augenblick, da die übernationale Idee zum erstenmal Europa sieghaft überglänzte, in einen der wildesten Ausbrüche nationalreligiöser Massenleidenschaft hinabgerissen wurde, den die Geschichte kennt. Im allgemeinen reichen jene Geschehnisse, die wir historisch bedeutsame nennen, gar nicht bis in das lebendige Volksbewußtsein hinab. Selbst die großen Wogen des Krieges ergriffen in früheren Jahrhunderten nur einzelne Völkerschaften, einzelne Provinzen, und im allgemeinen konnte es bei sozialen oder religiösen Auseinandersetzungen dem Geistigen gelingen, sich abseits zu halten vom Getümmel, unbeteiligten Herzens vorüberzublicken an den Leidenschaften des Politischen – Goethe dafür das beste Beispiel, der ungestört inmitten des Tumults der napoleonischen Kriege an seinem inneren Werke schafft. Manchmal aber, sehr selten in den Jahrhunderten, entstehen gegensätzliche Spannungen von solcher Windstärke, daß die ganze Welt wie ein Tuch in zwei Teile zerrissen wird, und dieser riesige Riß geht quer durch jedes Land, jede Stadt, jedes Haus, jede Familie, jedes Herz. Von allen Seiten faßt dann mit ihrem ungeheuren Druck die Übergewalt der Masse das Individuum, und es kann sich nicht wehren, nicht retten vor dem kollektiven Wahn; ein solcher rasender Wogenzusammenprall erlaubt keinen sicheren, keinen abseitigen Stand. Derart vollkommene Weltentzweiungen können sich entzünden an der Gegensatzreibung eines sozialen, eines religiösen und jedes anderen geistig-theoretischen Problems, aber im Grunde ist es immer für den Fanatismus gleichgültig, an welchem Stoff er sich entflammt; er will nur brennen und lodern, seine aufgestaute Haßkraft entladen, und gerade in solchen apokalyptischen Weltstunden des Massenwahnes zersprengt am häufigsten der Dämon des Krieges die Ketten der Vernunft und stürzt sich frei und lustvoll über die Welt.
In solchen furchtbaren Augenblicken des Massenwahnes und der Weltparteiung wird der Wille des einzelnen wehrlos. Vergebens, daß der Geistige sich retten will in die abgesonderte Sphäre der Betrachtung, die Zeit zwingt ihn hinein in das Getümmel zur Rechten oder zur Linken, in die eine Rotte oder in die andere, zur einen Parole oder zur anderen Partei; keiner unter den Hunderttausenden und Millionen von Kämpfern braucht dann mehr Mut, mehr Kraft, mehr moralische Entschlossenheit in solchen Zeiten als der Mann der Mitte, der sich keinem Rottenwahn, keiner Denkeinseitigkeit unterwerfen will. Und hier beginnt die Tragödie des Erasmus. Er hatte als der erste deutsche Reformator (und eigentlich der einzige, denn die anderen waren eher Revolutionäre als Reformatoren) nach den Gesetzen der Vernunft die katholische Kirche zu erneuern gesucht; aber ihm, dem weitsichtigen Geistmenschen, dem Evolutionär, sendet das Schicksal den Tatmenschen entgegen, Luther, den Revolutionär, den dämonisch Getriebenen dumpfer deutscher Volksgewalten. Mit einem Schlage zertrümmert Doctor Martins eiserne Bauernfaust, was die feine, bloß mit der Feder bewehrte Hand des Erasmus zaghaft zärtlich zu binden sich bemühte. Für Jahrhunderte wird die christliche, die europäische Welt zerspalten, Katholiken gegen Protestanten, Norden gegen Süden, Germanen gegen Romanen – es gibt in diesem Augenblick nur eine Wahl, eine Entscheidung für den deutschen, den abendländischen Menschen: entweder papistisch oder lutherisch, entweder Schlüsselgewalt oder Evangelium. Aber Erasmus – dies seine denkwürdige Tat – weigert sich als der einzige unter den Führern der Zeit, Partei zu nehmen. Er tritt nicht auf die Seite der Kirche, er tritt nicht auf die Seite der Reformation, denn er ist beiden verbunden, der evangelischen Lehre, weil er sie aus Überzeugung als erster gefordert und gefördert, der katholischen Kirche, weil er in ihr die letzte geistige Einheitsform einer stürzenden Welt verteidigt. Aber rechts ist Übertreibung und links ist Übertreibung, rechts Fanatismus und links Fanatismus, und er, der so unabänderlich antifanatische Mensch, will nicht der einen Übertreibung dienen und nicht der anderen, sondern einzig seinem ewigen Maß, der Gerechtigkeit. Vergeblich stellt er sich, um das Allmenschliche, das gemeinsame Kulturgut aus diesem Zwist zu retten, als Mittler in die Mitte und damit an die gefährlichste Stelle; er versucht, mit seinen nackten Händen Feuer und Wasser zu mischen, die einen Fanatiker zu versöhnen mit den anderen: unmögliche und darum doppelt großartige Bemühung. Erst versteht man in beiden Lagern seine Haltung nicht und hofft, weil er milde spricht, man könne ihn für die eigene Sache gewinnen. Kaum aber daß sie beide begreifen, daß dieser Freie für keine fremde Meinung Ehre und Eid gibt und keinem Dogma Schützenhilfe leisten will, prasselt von rechts und links Haß nieder auf ihn und Verhöhnung. Weil Erasmus zu keiner Partei will, zerfällt er mit beiden, »den Guelfen gelte ich als Ghibelline und den Ghibellinen als Guelfe«. Einen schweren Fluch spricht Luther, der Protestant, über seinen Namen aus, die katholische Kirche wiederum setzt alle seine Bücher auf den Index. Aber nicht Drohung und nicht Beschimpfung können Erasmus bewegen, zur einen Partei zu gehen oder zur anderen; nulli concedo, keinem will ich angehören, diesen seinen Wahlspruch macht er bis zum letzten wahr, homo per se, Mann für sich allein, bis in die letzte Konsequenz. Gegenüber den Politikern, den Führern und Verführern zur einseitigen Leidenschaft hat der Künstler, der Geistmensch im Sinne Erasmus’, die Aufgabe, der Verstehend-Vermittelnde zu sein, der Mann des Maßes und der Mitte. Er hat an keiner Front zu stehen, sondern einzig und allein gegen den gemeinsamen Feind allen freien Denkens: gegen jeden Fanatismus; nicht abseits von den Parteien, denn mitzufühlen mit allem Menschlichen ist der Künstler berufen, sondern über ihnen, au-dessus de la mêlée, die eine Übertreibung bekämpfend und die andere, und bei allen denselben unseligen, unsinnigen Haß.
Diese Haltung des Erasmus, diese seine Unentschiedenheit oder besser sein Sich-nicht-entscheiden-Wollen haben die Zeitgenossen und Nachfahren höchst simpel Feigheit genannt und den klarsinnig Zögernden als lau und wetterwendisch verhöhnt. In der Tat: Erasmus ist nicht wie ein Winkelried gestanden mit offener Brust gegen die Welt, dies furchtlos Heroische war nicht seine Art. Er hat sich vorsichtig zur Seite gebogen und verbindlich geschwankt wie ein Rohr nach rechts und links, aber nur, um sich nicht brechen zu lassen und immer wieder sich aufzurichten. Er hat sein Bekenntnis zur Unabhängigkeit, sein »nulli concedo«, nicht stolz vor sich her getragen wie eine Monstranz, sondern wie eine Diebslaterne unter dem Mantel versteckt; in Schlupfwinkeln und auf Schleichwegen hat er sich zeitweilig geduckt und gedeckt während der wildesten Zusammenstöße des Massenwahnes; aber – dies das Wichtigste – er hat sein geistiges Kleinod, seinen Menschheitsglauben, unversehrt heimgebracht aus dem furchtbaren Haßorkan seiner Zeit, und an diesem kleinen glimmenden Docht konnten Spinoza, Lessing und Voltaire und können alle künftigen Europäer ihre Leuchte entzünden. Als der einzige seiner geistigen Generation ist Erasmus der ganzen Menschheit treuer geblieben als einem einzelnen Clan. Abseits vom Schlachtfeld, keiner Armee angehörig, von beiden befehdet ist er gestorben, einsam, allein. Einsam, jedoch – dies das Entscheidende – unabhängig und frei.
Die Geschichte aber ist ungerecht gegen die Besiegten. Sie liebt nicht sehr die Menschen des Maßes, die Vermittelnden und Versöhnenden, die Menschen der Menschlichkeit. Die Leidenschaftlichen sind ihre Lieblinge, die Maßlosen, die wilden Abenteurer des Geistes und der Tat: so hat sie an diesem stillen Diener des Humanen fast verächtlich vorbeigesehen. Auf dem Riesenbild der Reformation steht Erasmus im Hintergrund. Dramatisch erfüllen die anderen ihr Schicksal, all diese Besessenen ihres Genius und Glaubens, Hus erstickt in der lodernden Flamme, Savonarola am Brandpfahl in Florenz, Servet ins Feuer gestoßen von Calvin, dem Zeloten. Jeder hat seine tragische Stunde: Thomas Münzer zwickt man mit glühenden Zangen, John Knox nagelt man an seine Galeere, Luther, breitbeinig in die deutsche Erde gestemmt, dröhnt gegen Kaiser und Reich sein »Ich kann nicht anders«. Thomas Morus und John Fisher drückt man das Haupt nieder auf den mörderischen Block, Zwingli liegt, mit dem Morgenstern erschlagen, auf dem Blachfeld von Kappel, – unvergeßliche Gestalten sie alle, wehrhaft in ihrer gläubigen Wut, ekstatisch in ihrem Leiden, groß in ihrem Geschick. Hinter ihnen brennt die verhängnisvolle Flamme des religiösen Wahnes ins Weite, die verwüsteten Burgen des Bauernkrieges zeugen lästernd für den von jedem Zeloten anders mißverstandenen Christus, die zerstörten Städte, die geplünderten Gehöfte des dreißigjährigen, des hundertjährigen Krieges, diese apokalyptischen Landschaften, sie klagen die irdische Unvernunft des Nicht-nachgeben-Wollens vor den Himmeln an. Mitten aber aus diesem Getümmel, ein wenig hinter den großen Kapitänen des Kirchenkrieges und deutlich abseits von ihnen allen, blickt das feine, von leichter Trauer überschattete Gesicht des Erasmus. Er steht an keinem Marterpfahl, seine Hand ist mit keinem Schwert bewehrt, keine heiße Leidenschaft verzerrt sein Gesicht. Aber klar hebt sich das Auge, das blauleuchtende und zarte, das Holbein unvergänglich gemalt, und blickt durch all diesen Tumult der Massenleidenschaften herüber in unsere nicht minder aufgewühlte Zeit. Eine gelassene Resignation umschattet seine Stirne – ach, er kennt diese ewige Stultitia der Welt! –, doch ein leichtes, ganz leises Lächeln der Sicherheit spielt um seinen Mund. Er weiß, der Erfahrene: es ist der Sinn aller Leidenschaften, daß sie einmal ermüden. Es ist das Schicksal jedes Fanatismus, daß er sich selbst überspielt. Die Vernunft, sie, die ewige und still geduldige, kann warten und beharren. Manchmal, wenn die anderen trunken toben, muß sie schweigen und verstummen. Aber ihre Zeit kommt, immer kommt sie wieder.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.