Kapitel 14


Jener angekündigte Ausflug setzte bereits in aller Frühe mit einer kleinen Fanfare der Fröhlichkeit ein. Das erste, was ich beim Erwachen in meinem sauberen, von der hereinstrahlenden Sonne blank erhellten Gastzimmer vernahm, waren lachende Stimmen. Ich trat ans Fenster und erblickte, angestaunt vom ganzen Gesinde, den aus der Remise wohl noch zur Nachtzeit herangeholten mächtigen Reisewagen der alten Fürstin, ein herrlich antiquarisches Museumsstück, vor hundert, vielleicht schon vor hundertfünfzig Jahren vom Wiener Hofkarossier in der Seilerstätte für einen Urahnen gebaut. Das eigentliche Gehäuse der Karosse, gegen den Stoß der massigen Räder durch kunstvolle Federung geschützt, war in der Art der alten Tapeten mit Schäferszenen und antiken Allegorien ein wenig einfältig bemalt, vielleicht waren die einstmals lebhafteren Farben auch schon verblaßt. Innen verbarg die seidengepolsterte Karosse – wir hatten Gelegenheit, dies auf der Fahrt in vielen Einzelheiten auszuprobieren – allerlei raffinierte Bequemlichkeiten, wie aufklappbare Tischchen, Spiegelchen und Parfümflakons. Selbstverständlich mutete dies Riesenspielzeug eines verschollenen Jahrhunderts zunächst etwas unwirklich und maskeradenhaft an, doch gerade dies zeitigte den freundlichen Effekt, daß sich Diener und Gesinde heiter wie in Karnevalslaune bemühten, das schwerfällige Schiff der Landstraße richtig flott zu machen. Mit besonderem Eifer ölte der Maschinist der Zuckerfabrik die Räder und hämmerte prüfend am eisernen Beschlag, während, mit Sträußen wie zu einer Hochzeitsfahrt geschmückt, die vier Pferde angespannt wurden, was Jonak, dem alten Kutscher, Gelegenheit zu stolzen Belehrungen gab. Angetan mit der verblichenen fürstlichen Livree und überraschend beweglich auf seinen gichtigen Beinen, explizierte er dem jungen Gesinde, das zwar Bicycle fahren und allenfalls schon einen Motor handhaben, nicht aber einen Viererzug richtig zügeln konnte, all seine Kunstgriffe und Kenntnisse. Er war es auch, der noch gestern nachts dem Koch erläutert hatte, wie sehr bei Schnitzeljagden und ähnlichen Eskapaden die Ehre des Hauses es unbedingt erfordere, daß auch an den entlegensten Orten, in Wald und Wiese, ein Imbiß ebenso exakt und üppig serviert werde wie im Speisesaal des Schlosses. So räumte unter seiner Aufsicht der Diener damastene Tischtücher, Servietten und Silberzeug zusammen, alles in den wappengeschmückten Etuis der einstmals fürstlichen Silberkammer. Dann erst durfte der Koch, eine weißleinene Tellermütze über dem strahlenden Gesicht, den eigentlichen Proviant heranbringen, gebratene Hühner und Schinken und Pasteten, frisch gebackenes Weißbrot und ganze Batterien von Flaschen, jede einzeln in Stroh gebettet, um die Fährlichkeit holpriger Landstraßen unbeschädigt zu bestehen. Als Vertreter des Kochs wurde ein junger Bursche zum Servieren mitgesandt und ihm jener Platz hinter dem Wagen angewiesen, wo in früheren Zeiten neben dem diensthabenden Lakaien in farbigem Federhut der fürstliche Läufer stand.


Dank derlei umständlicher Aufmachung bekam schon die Zurüstung etwas heiter Theatralisches, und da sich die Kunde unserer sonderbaren Ausfahrt im Umkreis rasch verbreitet hatte, fehlte es diesem freundlichen Spektakel nicht an Zuschauern. Von den Nachbardörfern waren in ihren bunt-ländlichen Sonntagsgewändern die Bauern gekommen, aus dem nahen Armenhaus die alten verhutzelten Weiber und grauen Männlein mit ihren unvermeidlichen Tonpfeifen. Aber vor allem waren es die nacktbeinigen Kinder von fern und nah, die, vor Staunen ganz verzaubert, von den geschmückten Pferden zum Kutscher emporstarrten, in dessen vertrockneter und doch noch fester Hand das geheimnisvoll verknotete lange Zügelgewinde zusammenlief. Nicht minder begeisterte sie Pista, den alle sonst nur in der blauen Chauffeursuniform kannten, und der nun in seiner altfürstlichen Livree das silberhelle Jagdhorn schon erwartungsvoll in der Hand hielt, um das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Dazu war allerdings nötig, daß wir gefrühstückt hatten, und als wir uns schließlich dem festlichen Fuhrwerk näherten, konnten wir nicht umhin, vergnügt festzustellen, daß wir einen bedeutend weniger feierlichen Anblick boten als die pompöse Karosse und die funkelnden Lakaien. Kekesfalva wirkte ein bißchen komisch, als er, mit seinem unvermeidlichen Schlußrock angetan, steifbeinig wie ein schwarzer Storch die mit den fremden Adelsemblemen gezierte Karosse bestieg, die jungen Mädchen hätte man sich eigentlich im Rokokokostüm zu sehen gewünscht, das Haar weiß gepudert, das schwarze Schönheitspflästerchen auf der Wange, einen bunten Fächer in der Hand, und mir selbst wäre wahrscheinlich die weißleuchtende Reitertracht von anno Maria Theresia gemäßer gewesen als meine blaue Ulanka. Doch auch ohne solche historische Kostümierung schien es den guten Leutchen schon feierlich genug, als wir uns endlich in den großen schwerfälligen Kasten setzten: Pista hob das Jagdhorn, ein heller Ton schmetterte über das aufgeregte Winken und Grüßen des versammelten Gesindes, kunstvoll schlug der Kutscher mit seiner Peitsche eine riesige Schwinge in die Luft, daß es knallte wie ein Schuß. Der erste Anriß der massigen Kutsche gab einen schönen scharfen Ruck, der uns lachend gegeneinander kollern ließ, dann aber steuerte der wackere Lenker sehr geschickt die vier Pferde durch das Gittertor, das uns von unserer weitgebauchten Karosse aus mit einmal beängstigend schmal erschien, und wir landeten glücklich auf der Chaussee.


Daß wir viel Aufsehen, aber auch erstaunlichen Respekt auf unserem ganzen Wege erregten, war eigentlich kaum verwunderlich. Seit Jahrzehnten hatte man im ganzen Umkreis nicht mehr die fürstliche Karosse und den Viererzug gesehen, und den Bauern schien ihr unvermutetes Neuauftauchen Vorankündigung eines fast übernatürlichen Ereignisses. Vielleicht dachten sie, wir führen zu Hofe oder der Kaiser sei gekommen oder sonst etwas Unvorstellbares passiert, denn wie weggemäht flogen überall die Hüte herab, begeistert liefen die barfüßigen Kinder uns endlos nach; begegnete uns auf dem Wege ein anderer Wagen, mit Heu beladen, oder eine leichte Landkalesche, so sprang der fremde Kutscher hurtig vom Bock und hielt mit abgerissenem Hut seine Pferde an, um uns vorbeizulassen. Uns gehörte selbstherrlich die Straße, uns wie in feudalen Zeiten das ganze schöne üppige Land mit seinen wogenden Feldern, uns die Menschen und die Tiere. Schnell freilich ging die Fahrt in diesem massigen Vehikel nicht vor sich, aber dafür bot sie doppelte Gelegenheit, viel zu beobachten und zu belachen, und davon machten vor allem die beiden Mädchen ausgiebigen Gebrauch. Immer bezaubert ja das Neue die Jugend, und all diese Ungewöhnlichkeiten, unser sonderbares Gefährt, die devote Ehrfurcht der Leute bei unserem unzeitgemäßen Anblick und hundert andere kleine Zwischenfälle steigerten die Stimmung der beiden zu einer Art Luft- und Sonnenrausch. Insbesondere Edith, die seit Monaten nicht richtig aus dem Hause gekommen war, funkelte ihren unbändigen Übermut hemmungslos in den herrlichen Sommertag hinein.


Die erste Station machten wir in einem kleinen Dorf, wo eben die schwingenden Glocken zum sonntäglichen Kirchgang riefen. Durch die Felder sah man in den engen Durchlässen zwischen Acker und Acker die letzten Nachzügler dem Dörfchen zustreben; inmitten der sommerlich hohen Garben nahm man von ihnen nichts Weiteres wahr als bei den Männern die flachen seidenschwarzen Hüte und bei den Frauen die buntbestickten Hauben. Von allen Richtungen her zog wie eine dunkle Raupe diese wandernde Linie sich durch das wogende Gold der Felder, und gerade als wir durch die – nicht eben sehr reinliche – Hauptstraße zum flüchtenden Schrecken einiger schnatternden Gänse einfuhren, hielt die summende Glocke inne. Der Sonntagsgottesdienst begann. Und unerwarteterweise war es Edith, die stürmisch verlangte, wir sollten alle aussteigen und an der Andacht teilnehmen.


Daß auf ihrem bescheidenen Marktplatz eine so unglaubwürdige Karosse anhielt, und der Gutsherr, den sie alle vom Hörensagen kannten, mit seiner Familie – denn dazu zählten sie mich anscheinend – gerade in ihrem Kirchlein der Andacht beiwohnen wollte, rief bei den biederen Landleuten mächtige Erregung hervor. Der Mesner kam herausgelaufen, als ob dieser ehemalige Kanitz der leibhaftige Fürst Orosvár wäre, und teilte beflissen mit, daß der Priester mit dem Beginn der Messe warten wolle; ehrfürchtig gesenkten Hauptes bildeten die Leute Spalier, und sichtliche Rührung bemächtigte sich ihrer, sobald sie die Hinfälligkeit Ediths wahrnahmen, die von Josef und Ilona gestützt und geführt werden mußte. Immer erschüttert es gerade die einfachen Leute, wenn sie erkennen, daß Unglück sich nicht scheut, auch die »Reichen« gelegentlich grimmig anzufassen. Ein Rauschen und Raunen entstand, aber dann brachten die Frauen geschäftig Kissen heran, damit die Gebrechliche – selbstverständlich in der ersten Bankreihe, die sich rasch geleert hatte – möglichst bequem sitzen könne; fast hatte es den Anschein, als zelebriere dann der Priester für uns die Messe mit besonderer Feierlichkeit. Ich selbst wurde von der rührenden Einfachheit dieses Kirchleins sehr ergriffen; der helle Gesang der Frauen, der rauhe, etwas ungelenke der Männer, die naiven Stimmen der Kinder schien mir reinere und unmittelbarere Gläubigkeit zu bekennen als die viel kunstvolleren Zelebrierungen, wie ich sie im heimischen Stephansdom oder in der Augustinerkirche sonntäglich gewohnt war. Aber von eigener Andacht wurde ich wider meinen Willen abgelenkt, als ich zufällig auf Edith, meine Nachbarin, blickte und geradezu erschrocken bemerkte, mit welcher brennenden Inbrunst sie betete. Nie hatte ich bisher an irgendeinem Anzeichen vermuten können, daß sie fromm erzogen oder gesinnt sei; nun gewahrte ich eine Art des Gebets, das nicht wie jenes der meisten eine eingelernte Gewohnheit war; das blasse Gesicht gesenkt wie jemand, der gegen großen Sturm geht, die Hände angeklammert an das Pult, die äußeren Sinne gleichsam nach innen gezogen, und nur unbewußt die Worte mitmurmelnd, verriet sie in ihrer ganzen Haltung die Gespanntheit eines Menschen, der ein Äußerstes mit aufgebäumter und gesammelter Kraft erzwingen will. Manchmal zitterte die dunkle hölzerne Kirchenbank bis zu mir herüber, so inbrünstig ging das Erschüttertsein und Beben dieses ekstatischen Betens in das starre Holz. Ich begriff sofort, daß sie sich an Gott um ein Bestimmtes wandte, daß sie von ihm etwas wollte. Und was diese Kranke, diese Gelähmte begehrte, dies mitzufühlen war nicht schwer.


Auch als wir Edith nach beendetem Gottesdienst wieder in den Wagen geholfen hatten, blieb sie noch längere Zeit ganz in sich gekehrt. Sie sprach kein Wort. Nicht mehr wandte sie sich übermütig neugierig nach allen Seiten: es war, als hätte diese halbe Stunde inbrünstigen Ringens ihre Sinne erschöpft und ermüdet. Selbstverständlich blieben wir gleichfalls zurückhaltend. Es wurde eine stille und allmählich schläfrige Fahrt, bis wir knapp vor Mittag im Gestüt anlangten.


Dort freilich erwartete uns besonderer Empfang. Die Burschen der nächsten Umgebung hatten – offenbar von unserem Besuch verständigt – sich just die ungebändigten Pferde des Gestüts herangeholt und jagten uns in einer Art arabischer Fantasia in schärfstem Galopp entgegen. Prächtig waren sie anzusehen, diese sonnverbrannten jauchzenden Jungen, offen das Hemd, bunte, lange Bänder wegschwingend von den niederen Hüten, weiß und breit die Pampashosen; wie eine Beduinenhorde stoben sie auf den ungesattelten Pferden stürmisch heran, als wollten sie uns in einem Ruck überrennen. Schon spitzten unsere Gäule unruhig die Ohren, schon mußte mit angestemmten Beinen der alte Jonak die Zügel scharf halten, als sich die wilde Bande auf einen plötzlichen Pfiff hin kunstvoll zum geschlossenen Zuge formte, der uns dann als übermütiges Cortège bis zum Hause des Gestütsverwalters begleitete.


Dort gab es für mich gelernten Kavalleristen allerhand zu sehen. Den beiden Mädchen dagegen brachte man die Fohlen heran, und sie konnten sich gar nicht fassen über die ängstlich neugierigen Tiere mit ihren eckigen, ungeschickten Beinen und dummen Mäulern, die noch gar nicht verstanden, den dargereichten Zucker richtig zu knabbern. Während wir alle so heiter beschäftigt wurden, hatte der Küchenbursche unter Jonaks sorglicher Leitung einen prächtigen Imbiß im Freien angerichtet. Bald erwies sich der Wein als dermaßen kräftig und gut, daß unsere bisher gedämpfte Fröhlichkeit sich immer übermütiger äußerte. Alle plauderten wir gesprächiger, kameradschaftlicher, unbefangener als je, und so wenig wie irgend ein Wölkchen den seidenblauen Himmel, überflog mich während all dieser Stunden der schattende Gedanke, daß ich dieses schmächtige Mädchen, das am herzlichsten, am lautesten, am glücklichsten von uns allen lachte, immer nur als Leidende, als Verzweifelte, als Verstörte gekannt oder daß dieser alte Mann, der die Pferde mit der Kenntnis eines Veterinärs prüfte und abtätschelte, mit jedem Burschen spaßte und ihnen Trinkgelder zusteckte, derselbe war, der mich vor zwei Tagen aus irrsinniger Angst wie ein Traumwandler nächtens angefallen. Auch mich selber erkannte ich kaum, so leicht und wie von warmem Öl aufgelockert gingen mir die Glieder. Ich probierte nach Tisch, während man Edith im Zimmer der Frau des Gestütsverwalters ein wenig rasten ließ, hintereinander ein paar Pferde durch. Um die Wette sprengte ich mit ein paar der jungen Burschen über die Wiesen und empfand in diesem Lockerlassen der Zügel und meiner selbst ein nie gekanntes Gefühl der Freiheit. Ach, hier bleiben können, niemandem Untertan, frei in den freien Feldern, flughaft frei! Das Herz war mir ein wenig schwer, als ich, schon ganz ins Weite galoppiert, von fern den Ruf des Jagdhorns vernahm, das zur Rückkehr mahnte.


Für diese unsere Rückkehr hatte der wohlerfahrene Jonak der Abwechslung wegen einen andern Weg gewählt, vermutlich auch, weil diese Straße längere Zeit durch ein kleines kühlendes Wäldchen führte. Und wie schon alles glückhaft sich fügte an diesem gelungenen Tage, erwartete uns noch eine letzte, eine beste Überraschung; einfahrend in ein unscheinbares Zwanzighäuserdorf, erwies sich die einzige Straße dieses abgelegenen Fleckens als fast gänzlich versperrt durch ein Dutzend leere Leiterwagen. Sonderbarerweise fand sich niemand zur Stelle, um für unsere mächtig ausladende Karosse Platz zu schaffen; es war, als seien im ganzen Umkreis die Menschen vom Boden verschluckt. Jedoch bald klärte sich diese übersonntägliche Leere auf, als Jonaks geschulte Hand mit der riesigen Peitsche einen Knall in die Luft hieb, der einem Pistolenschuß durchaus ähnlich war, denn kaum daß einige Leute erschrocken herbeiliefen, entstand ein heiteres Mißverständnis. Es ergab sich nämlich, daß der Sohn des reichsten Bauern der Gegend mit einer armen Verwandten aus einem anderen Weiler gerade Hochzeit feierte; vom Ende der für uns versperrten Dorfstraße, wo eine Scheune zum Tanz ausgeräumt worden war, stürzte jetzt, ganz blutrot vor Beflissenheit, der ziemlich korpulente Brautvater heraus, um uns zu bewillkommnen. Vielleicht glaubte er ehrlich, der weltbekannte Gutsherr von Kekesfalva habe eigens das Vierergespann anschirren lassen, um ihm und seinem Sohn die Ehre seiner Gegenwart beim Hochzeitsfest zu erweisen, vielleicht nutzte er nur aus Eitelkeit unser zufälliges Vorbeifahren aus, um bei den andern sein dörfliches Ansehen zu erhöhen. Jedenfalls bat er mit vielen Bücklingen, Herr von Kekesfalva und seine Gäste möchten gütigst, indes man die Straße räume, die Gnade haben, ein Glas seines eigenen ungarischen Landweins auf die Gesundheit des jungen Paars zu leeren; wir wiederum waren viel zu gut gelaunt, um uns einer derart wohlgemeinten Aufforderung zu entziehen. So wurde Edith vorsichtig herausgehoben, und durch eine breite raunende und staunende Gasse ehrfürchtigen Volks zogen wir wie Triumphatoren in den bäuerlichen Tanzsaal ein.


Dieser Tanzsaal erwies sich bei näherer Betrachtung als eine ausgeräumte Scheune, in der beiderseits über geleerten Bierfässern eine Estrade aus losen Brettern aufgebaut war. Rechts thronten an einem langen, mit weißem Bauernlinnen bedeckten und mit Flaschen und Speisen reichlichst bestandenen Tisch rings um das Brautpaar die Angehörigen der Familie sowie die unvermeidlichen Honoratioren, der Pfarrer und der Gendarmeriekommandant. Auf der gegenüberliegenden Estrade hatten die Musikanten sich niedergelassen, schnurrbärtige und ziemlich romantische Zigeuner, Geige, Baßgeige und Zimbal; auf dem festgestampften Tanzboden der Tenne drängten sich die Gäste, indes die Kinder, die in den überfüllten Raum nicht mehr Einlaß gefunden hatten, als muntere Zaungäste teils von der Tür aus zuguckten, teils von den Sparren des Dachstuhls ihre Beine niederbaumeln ließen.


Selbstverständlich mußten sofort einige der minder noblen Verwandten von der Ehrenestrade abrücken, um uns Platz zu machen, und ein sichtliches Staunen über die Leutseligkeit der hohen Herrschaften hob an, als wir uns ohne jede Befangenheit unter die biederen Leutchen mischten. Vor Aufregung schwankend, holte der Brautvater eigenhändig einen mächtigen Krug Wein, füllte die Gläser und erhob die Stimme laut zu dem Ruf: »Auf das Wohl des gnädigen Herrn«, der sofort in begeistertem Echo bis weit hinaus auf die Gasse dröhnte. Dann schleppte er seinen Sohn und dessen neue Ehehälfte heran, ein scheues, etwas breithüftiges Mädchen, dem die festlich bunte Tracht und der weiße Myrtenkranz ein rührendes Aussehen verliehen; feuerrot vor Aufregung und ungeschickt knickste sie vor Kekesfalva, respektvoll küßte sie Edith die Hand, die mit einmal sichtlich erregt wurde. Jedesmal wirkt ja auf junge Mädchen der Anblick einer Hochzeitszeremonie verwirrend, weil in diesem Augenblick eine geheimnisvolle Solidarität des Geschlechts sich der Seele bemächtigt. Errötend zog Edith das demütige Mädchen an sich, umarmte sie und nahm dann, sich plötzlich besinnend, einen Ring – es war ein schmaler altväterlicher, nicht sehr kostbarer Ring – vom Finger und steckte ihn der Braut an, die ihrerseits durch diese unvermutete Gabe völlig entgeistert war. Verängstigt blickte sie auf den Schwiegervater, ob sie ein derart großes Geschenk auch wirklich annehmen dürfe. Kaum daß dieser stolz zustimmend nickte, brach sie vor lauter Beglückung in Tränen aus. Neuerdings flutete eine begeisterte Welle von Dankbarkeit uns entgegen; von allen Seiten drängten die schlichten und gar nicht verwöhnten Leute herzu; man merkte ihren Blicken deutlich an, daß sie gern etwas Besonderes getan hätten, um uns ihre Erkenntlichkeit zu zeigen, aber keiner wagte es, an so hohe »Herrschaften« auch nur ein Wort zu richten. Zwischen ihnen stolperte die alte Bäuerin mit Tränen in den Augen wie eine Trunkene von einem zum andern, ganz geblendet von der Ehre, die der Hochzeit des Sohnes widerfahren war, indes der Bräutigam in seiner Befangenheit abwechselnd auf seine Braut, auf uns und auf seine schweren blitzenden Röhrenstiefel glotzte.


In diesem Augenblick tat Kekesfalva das Klügste, um dieser schon peinlich werdenden Ehrfürchtigkeit Einhalt zu gebieten. Er schüttelte dem Brautvater, dem Bräutigam und einigen Honoratioren herzlich die Hand und bat sie, man möchte doch nicht um unseretwillen das schöne Fest unterbrechen. Die jungen Leute sollten nach Herzenslust weiter tanzen; keine größere Freude könnten sie uns bereiten, als unbekümmert fortzufahren. Gleichzeitig winkte er den Primas zu sich, der, die Geige unter den rechten Arm gesteckt, in einem gleichsam erstarrten Bückling vor der Estrade gewartet hatte, warf ihm einen Geldschein zu und bedeutete ihm, zu beginnen. Dieser Geldschein mußte ziemlich groß gewesen sein, denn wie unter einem elektrischen Schlag zuckte der scharwenzelnde Bursche auf, stürzte jäh zu seiner Estrade zurück, blinkte den Musikanten zu, und im nächsten Augenblick legten die vier Burschen los, wie es wirklich nur Ungarn und Zigeuner können. Schon der erste Zimbalschlag zerschlug mit seiner reißerischen Kraft alle Befangenheit. Im Nu formten sich Paare, der Tanz stampfte los, wilder und überschwenglicher als vorher, denn unbewußt fühlten alle die Burschen und Mädel den Ehrgeiz, uns zu zeigen, wie richtige Ungarn tanzen können. In einer Minute war der eben noch ehrfürchtig stille Saal in einen hitzigen Wirbel von schwingenden, springenden, stampfenden Körpern verwandelt; bis auf die Estrade hinauf klirrten die Gläser bei jedem Takt, so wuchtig und wild donnerte die begeisterte Jugend los.


Edith blickte mit blitzenden Augen in das Getümmel. Plötzlich fühlte ich ihre Hand auf meinem Arm. »Sie müssen auch tanzen«, befahl sie. Glücklicherweise war die Braut noch nicht in den Wirbel gezogen, ganz taumlig starrte sie auf den Ring an ihrem Finger. Als ich mich vor ihr verbeugte, errötete sie zuerst über die ungeziemende Ehre, ließ sich aber willig führen. Unser Beispiel machte wiederum dem Bräutigam Mut. Er forderte, von seinem Vater heftig angestupft, Ilona auf, und nun hämmerte der Zimbalspieler noch besessener auf sein Instrument los, wie ein schwarzer schnurrbärtiger Teufel strich der Primas seine Geige; ich glaube, niemals vordem und nachdem ist in diesem Dorfe so bacchantisch getanzt worden wie an jenem Hochzeitstag.


Aber noch immer hatte sich das Füllhorn der Überraschungen nicht völlig ausgestreut. Angelockt von dem verschwenderischen Geschenk an die Braut, hatte sich eine jener alten Zigeunerinnen, wie sie bei solchen Festen niemals fehlen, zur Estrade hinaufgedrängt und redete Edith heftigst zu, sich aus der Hand wahrsagen zu lassen. Diese zeigte sich sichtlich geniert. Einerseits ehrlich neugierig, schämte sie sich andererseits, in Gegenwart so vieler Zuschauer solchem Hokuspokus nachzugeben. Ich schaffte rasch Rat, indem ich Herrn von Kekesfalva und alle andern sanft von der Estrade wegdrängte, damit niemand etwas von den geheimnisvollen Prophezeiungen erlauschen könne, und den Neugierigen blieb nichts übrig, als von ferne lachend zuzuschauen, wie mit manchem Abrakadabra die hingekniete Alte Ediths Hand nahm und studierte; jeder in Ungarn kennt ja den ewigen Trick dieser Weiber zur Genüge, jedem das Allererfreulichste zu künden, um dann an der guten Botschaft kräftig zu profitieren. Aber zu meinem Erstaunen schien Edith alles, was die krumme Person ihr mit rauher und eilfertiger Stimme zuflüsterte, merkwürdig zu erregen. Jenes Zittern um ihre Nasenflügel begann, das bei ihr heftige Anspannung unvermeidlich begleitete. Immer tiefer sich niederbeugend, horchte sie hin, manchmal sich ängstlich umschauend, ob nicht jemand mitlausche; dann winkte sie ihren Vater heran, flüsterte ihm etwas befehlend zu, worauf er, gefügig wie immer, in die Brusttasche griff und der Zigeunerin einige Noten zusteckte. Der Betrag mußte nach dörflichen Begriffen ein unermeßlich großer gewesen sein, denn das alte gierige Weib fiel wie hingemäht in die Knie, küßte, einer Besessenen gleich, Edith den Rocksaum und strich mit unverständlichen Beschwörungen immer hastiger über die lahmen Füße hin. Dann sprang sie mit einem Ruck weg, als hätte sie Angst, jemand könnte ihr das viele Geld wieder abnehmen.


»Gehen wir jetzt«, raunte ich rasch Herrn von Kekesfalva zu, denn mir fiel auf, wie blaß Edith geworden war. Ich holte Pista; er und Ilona schleppten und stützten die Schwankende mit ihren Krücken hin zum Wagen. Sofort stockte die Musik, keiner der braven Leute wollte sich’s nehmen lassen, mit Winken und Rufen unsere Abfahrt zu begleiten. Die Musikanten umringten den Wagen, um rasch einen letzten Tusch loszulegen, das ganze Dorf schrie und tobte »Hoch« und »Hoch«; wahrhaftig, der alte Jonak hatte gute Mühe, die solches Kriegsgetöse nicht mehr gewöhnten Pferde zu bändigen.


Ich blieb ein wenig beunruhigt wegen Edith, der ich im Wagen gegenübersaß. Sie zitterte noch immer am ganzen Leibe; etwas Heftiges schien sie zu bedrängen. Und auf einmal brach ein jähes Schluchzen aus ihr hervor. Aber es war ein Schluchzen des Glücks. Sie weinte, während sie lachte, und lachte, während sie weinte. Zweifellos hatte die listige Zigeunerin ihr baldige Genesung prophezeit, vielleicht sogar noch anderes dazu.


Aber »Ach laßt mich, laßt mich doch«, wehrte die Schluchzende ungeduldig ab. In diesem Durchschüttertsein schien sie eine ganz neue und merkwürdige Lust zu fühlen. »Laßt mich, laßt mich doch«, wiederholte sie immer wieder. »Ich weiß ja, daß sie eine Schwindlerin ist, diese Alte. Ach, ich weiß es schon selbst. Aber warum soll man nicht einmal dumm sein! Warum sich nicht einmal ganz ehrlich betrügen lassen!«

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