Kapitel 2
Das war die unselige Tölpelei, mit der die ganze Sache begann. Jetzt, da ich mir beschwichtigten Bluts und aus der Distanz vieler Jahre jene einfältige Episode neuerdings vergegenwärtige, mit der alles Verhängnis seinen Anfang nahm, muß ich mir zuerkennen, eigentlich ganz unschuldig in dieses Mißverständnis hineingestolpert zu sein; auch dem Klügsten, dem Erfahrensten hätte diese »gaffe« passieren können, ein lahmes Mädchen zum Tanz aufzufordern. Aber in der Unmittelbarkeit des ersten Entsetzens empfand ich mich damals nicht nur als heillosen Tölpel, sondern als Rohling, als Verbrecher. Mir war, als hätte ich ein unschuldiges Kind mit der Peitsche geschlagen. All dies hätte schließlich mit Geistesgegenwart noch gutgemacht werden können; unwiderruflich hatte ich erst damit die Situation verdorben – dies wurde mir sofort bewußt, kaum daß der erste Stoß kalter Luft mir vor dem Hause an die Stirne sprang –, daß ich eben wie ein Verbrecher, ohne den Versuch, mich zu entschuldigen, einfach weggelaufen war.
Den Zustand, in dem ich vor dem Hause stand, vermag ich nicht zu schildern. Die Musik schwieg hinter den erleuchteten Fenstern; wahrscheinlich hatten die Spieler bloß eine Pause eingeschaltet. Aber in meinem überreizten Schuldgefühl fieberte ich mir sofort vor, um meinetwillen stocke der Tanz, alles dränge jetzt in das kleine Boudoir, um die Schluchzende zu trösten, alle Gäste, die Frauen, die Männer, die Mädchen ereiferten sich hinter jener verschlossenen Tür in einhelliger Entrüstung über den ruchlosen Mann, der ein verkrüppeltes Kind zum Tanz aufgefordert habe, um dann nach vollbrachtem Bosheitsstreich feige davonzulaufen. Und morgen – der Schweiß brach mir aus, ich fühlte ihn kalt unter der Kappe – wußte und schwätzte und behechelte schon die ganze Stadt meine Blamage. Ich sah sie schon vor mir in Gedanken, meine Kameraden, den Ferencz, den Mislywetz, und vor allem den Jozsi, den verfluchten Witzeschneider, wie sie schmatzend auf mich zukommen würden: »Na, Toni, schön führst du dich auf! Einmal wenn man dich von der Leine läßt, und du blamierst das ganze Regiment!« Monate wird dieses Hecheln und Höhnen noch weitergehen bei der Offiziersmesse; zehn, zwanzig Jahre wird ja bei uns am Kameradschaftstisch jede Dummheit nachgekaut, die irgend einer von uns einmal angestellt hat, jede Eselei verewigt sich, jeder Witz petrifiziert. Heute noch, nach sechzehn Jahren, erzählen sie die öde Geschichte vom Rittmeister Wolinski, wie er heimgekommen war aus Wien und geprotzt hatte, die Gräfin T. auf der Ringstraße kennengelernt und gleich die erste Nacht in ihrer Wohnung verbracht zu haben, und zwei Tage später stand dann in der Zeitung der Skandal von ihrem entlassenen Dienstmädel, das sich in Geschäften und bei Abenteuern hochstaplerisch selber als Gräfin T. ausgegeben hatte, und außerdem mußte der Casanova noch drei Wochen beim Regimentsarzt in die Kur gehen. Wer sich einmal vor den Kameraden lächerlich gemacht hat, bleibt lächerlich für immer, die kennen kein Vergessen, kein Verzeihen. Und je mehr ich mir’s ausmalte und ausdachte, umsomehr kam ich ins Fieber absurder Ideen. Hundertmal leichter schien es mir in diesem Augenblick, mit dem Zeigefinger einen kleinen raschen Druck am Revolver zu tun, als die Höllenqual der nächsten Tage durchzustehen, dieses ohnmächtige Warten, ob die Kameraden schon von meiner Blamage wüßten und etwa hinter meinem Rücken das Tuscheln und Schmunzeln lustig losgegangen sei. Ach, ich kannte mich gut; ich wußte, nie würde ich die Kraft haben, standzuhalten, sobald einmal das Spötteln und Höhnen und Herumerzählen angefangen hätte.
Wie ich damals nach Hause gelangte, weiß ich heute nicht mehr. Ich erinnere mich nur, der erste Griff riß den Schrank auf, wo die Flasche Slibowitz für meine Besucher stand, und ich kippte zwei, drei halbe Wassergläser herunter, um die gräßliche Übelkeit in der Kehle loszuwerden. Dann warf ich mich hin auf das Bett, angezogen wie ich war, und versuchte nachzudenken. Aber wie Blumen in einem Treibhaus ein hitzigeres und tropischeres Wachstum bekommen, so Wahnvorstellungen im Dunkeln. Wirr und phantastisch schießen sie dort im schwülen Grunde auf zu grellen Lianen, die einem den Atem würgen, und mit der Geschwindigkeit von Träumen formen und jagen sich die absurdesten Angstbilder im überhitzten Gehirn. Blamiert auf Lebenszeit, dachte ich mir, ausgestoßen aus der Gesellschaft, bespöttelt von den Kameraden, beschwätzt von der ganzen Stadt! Nie mehr werde ich das Zimmer verlassen, nie mehr mich auf die Straße wagen können, aus Furcht, einem von denen zu begegnen, die um mein Verbrechen wußten (denn als Verbrechen empfand ich in jener Nacht der ersten Überreizung meine simple Dummheit und mich selbst als Gejagten und Gehetzten des allgemeinen Gelächters). Als ich dann schließlich einschlief, kann es nur ein dünner, undichter Schlaf gewesen sein, unter dem mein Angstzustand fiebernd weiterarbeitete. Denn gleich beim ersten Augenaufschlag steht wieder das zornige Kindergesicht vor mir, ich sehe die zuckenden Lippen, die krampfig an den Tisch gekrallten Hände, ich höre das Poltern jener fallenden Hölzer, von denen ich jetzt nachträglich begreife, daß es ihre Krücken gewesen sein mußten, und eine blöde Angst überkommt mich, es könne auf einmal die Tür aufgehen und – schwarzer Rock, weißer Vorstoß, goldene Brille – stapft mit seinem dürren, gepflegten Ziegenbärtchen der Vater heran bis an mein Bett. In der Angst springe ich auf. Und wie ich jetzt vor dem Spiegel in mein von Nacht- und Angstschweiß feuchtes Gesicht starre, habe ich Lust, dem Tölpel hinter dem blassen Glas mitten ins Gesicht zu schlagen.
Aber glücklicherweise, es ist schon Tag, Schritte poltern im Gang, Karren unten auf dem Pflaster. Und bei hellen Fensterscheiben denkt man klarer als eingesackt in jene böse Dunkelheit, die gerne Gespenster schafft. Vielleicht, sage ich mir, ist doch nicht alles so fürchterlich. Vielleicht hat es gar niemand bemerkt. Sie freilich – sie wird es nie vergessen, nie verzeihen, die arme Blasse, die Kranke, die Lahme! Da blitzt ein hilfreicher Gedanke jählings in mir auf. Hastig kämme ich mein verrauftes Haar, fahre in die Uniform und laufe an meinem verdutzten Burschen vorbei, der mir in seinem armen ruthenischen Deutsch verzweifelt nachruft: »Herr Leutnant, Herr Leutnant, schon fertig ist Kaffee.«
Ich sause die Kasernentreppe hinunter und flitze so rasch an den Ulanen, die halb angezogen im Hof herumstehen, vorbei, daß sie gar nicht recht Zeit haben, stramm zu machen. In einem Saus bin ich an ihnen vorüber und beim Kasernentor draußen; geradewegs hin zum Blumengeschäft auf dem Rathausplatz laufe ich, soweit Laufen für einen Leutnant statthaft ist. In meiner Ungeduld habe ich natürlich völlig vergessen, daß um halb sechs Uhr morgens Geschäfte noch nicht offen sind, aber glücklicherweise handelt die Frau Gurtner außer mit Kunstblumen auch mit Gemüsen. Ein Karren mit Kartoffeln steht halb abgeladen vor der Tür, und wie ich heftig an das Fenster klopfe, höre ich sie schon die Treppe heruntertrappen. In der Hast erfinde ich eine Geschichte: ich hätte gestern total vergessen, daß heute der Namenstag von lieben Freunden sei. In einer halben Stunde rückten wir aus, darum möchte ich gern, daß die Blumen gleich abgeschickt würden. Also Blumen her, rasch, die schönsten, die sie hätte! Sofort schlurft die dicke Händlerin, noch in der Nachtjacke, auf ihren löchrigen Pantoffeln weiter, schließt den Laden auf und zeigt mir ihren Kronschatz, ein dickes Büschel langstieliger Rosen: wie viele ich davon haben wollte? Alle, sage ich, alle! Nur so einfach zusammenbinden, ober ob es mir lieber wäre in einem schönen Korb? Ja, ja, einen Korb. Der Rest meiner Monatsgage geht auf die splendide Bestellung, in den letzten Tagen des Monats werde ich dafür das Abendessen und das Kaffeehaus mir abknausern müssen oder Geld ausleihen. Aber das ist mir im Augenblick gleichgültig oder vielmehr, es freut mich sogar, daß mich meine Narrheit teuer zu stehen kommt, denn die ganze Zeit schon fühle ich eine böse Lust, mich Tölpel gründlich zu bestrafen, mich bitter zahlen zu lassen für meine zwiefache Eselei.
Also nicht wahr, alles in Ordnung? Die schönsten Rosen, gut arrangiert in einem Korb, und zuverlässig gleich abgeschickt! Aber da läuft mir die Frau Gurtner verzweifelt auf die Straße nach. Ja wohin denn und zu wem sie die Blumen schicken solle, der Herr Leutnant hätten ja nichts gesagt. Ach so, ich dreifacher Tölpel habe das in meiner Aufregung vergessen. Zur Villa Kekesfalva, ordne ich an, und rechtzeitigerweise erinnere ich mich dank jenem erschreckten Ausruf Ilonas an den Vornamen meines armen Opfers: für Fräulein Edith von Kekesfalva.
»Natürlich, natürlich, die Herren von Kekesfalva«, sagt Frau Gurtner stolz, »unsere beste Kundschaft!«
Und, neue Frage – ich hatte mich schon wieder zum Weglaufen bereitgemacht – ob ich nicht noch ein Wort dazuschreiben wolle? Dazuschreiben? Ach so! Den Absender! Den Spender! Wie soll sie sonst wissen, von wem die Blumen sind?
Ich trete also nochmals in den Laden, nehme eine Visitenkarte und schreibe darauf: »Mit der Bitte um Entschuldigung.« Nein – unmöglich! Das wäre schon der vierte Unsinn: wozu noch an meine Tölpelei erinnern? Aber was sonst schreiben? »In aufrichtigem Bedauern« – nein, das geht schon gar nicht, am Ende könnte sie meinen, das Bedauern gelte ihr. Am besten also gar nichts dazuschreiben, überhaupt nichts.
»Nur die Karte legen Sie bei, Frau Gurtner, nichts als die Karte.«
Jetzt ist mir leichter. Ich eile zurück in die Kaserne, schütte meinen Kaffee hinunter und halte schlecht und recht meine Instruktionsstunde ab, wahrscheinlich nervöser, zerfahrener als sonst. Aber beim Militär fällt’s nicht sonderlich auf, wenn ein Leutnant morgens verkatert in den Dienst kommt. Wie viele fahren nach durchbummelter Nacht von Wien so ausgemüdet zurück, daß sie kaum die Augen aufhalten können und im schönsten Trab einschlafen. Eigentlich kommt’s mir sogar gut zupaß, die ganze Zeit kommandieren, examinieren und dann ausreiten zu müssen. Denn der Dienst lenkt die Unruhe doch einigermaßen ab, freilich, noch immer rumort zwischen den Schläfen das unbehagliche Erinnern, noch immer steckt mir etwas dick in der Kehle wie ein galliger Schwamm.
Aber mittags, ich will gerade zur Offiziersmesse hinüber, läuft mit hitzigem »Panje Leutnant« mein Diener mir nach. Er hat einen Brief in der Hand, ein längliches Rechteck, englisches Papier, blau, zart parfümiert, rückwärts ein Wappen fein eingestanzt, ein Brief mit steiler, dünner Schrift, Frauenschrift. Ich reiße hastig den Umschlag auf und lese: »Herzlichen Dank, verehrter Herr Leutnant, für die unverdient schönen Blumen, an denen ich mich furchtbar freute und noch freue. Bitte kommen Sie doch an jedem beliebigen Nachmittag zum Tee zu uns. Ansage ist nicht nötig. Ich bin – leider! – immer zu Hause. Edith v. K.«
Eine zarte Handschrift. Unwillkürlich erinnere ich mich an die schmalen Kinderfinger, wie sie sich an den Tisch preßten, erinnere mich an das blasse Gesicht, wie es plötzlich purpurn erglühte, als hätte man Bordeaux in ein Glas geschüttet. Ich lese noch einmal, zweimal, dreimal die paar Zeilen und atme auf. Wie diskret sie hingleitet über meine Tölpelei! Wie geschickt, wie taktvoll sie zugleich ihr Gebrechen selbst andeutet. »Ich bin – leider! – immer zu Hause.« Vornehmer kann man nicht verzeihen. Kein Ton von Gekränktsein. Eine Last stürzt mir vom Herzen. Wie einem Angeklagten ist mir zumute, der schon lebenslängliches Zuchthaus sich zugesprochen vermeinte, und der Richter erhebt sich, setzt das Barett auf und verkündet: »Freigesprochen.« Selbstverständlich muß ich bald hinaus, um ihr zu danken. Heute ist Donnerstag – also Sonntag mache ich draußen Besuch. Oder nein, lieber doch schon Samstag!
Aber ich hielt mir nicht Wort. Ich war zu ungeduldig. Mich bedrängte die Unruhe, meine Schuld endgültig beglichen zu wissen, möglichst bald fertig zu werden mit dem Unbehagen einer unsicheren Situation. Denn immer kribbelte mir noch die Angst in den Nerven, bei der Offiziersmesse, im Café oder sonstwo würde jemand von meinem Mißgeschick zu sprechen anfangen: »Na, wie war denn das da draußen bei den Kekesfalvas?« Dann wollte ich schon kühl und überlegen erwidern können: »Reizende Leute! Ich war gestern nachmittags wieder bei ihnen zum Tee«, damit jeder gleich sehen könne, daß ich dort nicht etwa mit Stunk abgeglitten war. Nur einmal Strich und Punkt unter die leidige Affäre gesetzt haben! Nur einmal damit fertig sein! Und diese innere Nervosität bewirkt auch schließlich, daß schon am nächsten Tag, am Freitag also, während ich gerade mit Ferencz und Jozsi, meinen besten Kameraden, über den Korso schlendere, mich der Entschluß plötzlich überfällt: noch heute machst du den Besuch! Und ganz unvermittelt verabschiede ich mich von meinen etwas verwunderten Freunden.
Es ist eigentlich kein sonderlich weiter Weg hinaus, höchstens eine halbe Stunde, wenn man tüchtig ausschreitet. Zuerst fünf langweilige Minuten durch die Stadt, dann die etwas staubige Landstraße entlang, die auch zu unserem Exerzierfeld führt und auf der unsere Rösser schon jeden Stein und jede Biegung kennen (man kann die Zügel ganz locker lassen). Erst in ihrer halben Breite zweigt links bei einer kleinen Kapelle an der Brücke eine schmälere, von alten Kastanien beschattete Allee ab, gewissermaßen eine Privatallee, wenig benutzt und befahren und von den gemächlichen Windungen eines kleinen, tümpeligen Baches ohne Ungeduld begleitet.
Aber merkwürdig – je mehr ich mich dem kleinen Schlößchen nähere, von dem nun schon die weiße Rundmauer und das durchbrochene Gittertor sichtbar werden, um so rascher sackt mir der Mut zusammen. So wie man knapp vor der Tür des Zahnarztes nach einem Vorwand sucht, um noch kehrt zu machen, ehe man die Klingel zieht, möchte ich noch rasch echappieren. Muß es wirklich schon heute sein? Soll ich nicht überhaupt durch jenen Brief die peinliche Affäre als endgültig beigelegt betrachten? Unwillkürlich verlangsame ich den Schritt; zum Umkehren bleibt schließlich immer noch Zeit, und ein Umweg weist sich allemal willkommen, wenn man nicht den graden Weg gehen will; so biege ich, den kleinen Bach auf einem wackligen Holzbrett überquerend, von der Allee zu den Wiesen ab, um zunächst einmal von außen das Schloß zu umkreisen.
Das Haus hinter der hohen Steinmauer präsentiert sich als ein einstöckiges weitgestrecktes Gebäude im späten Barockstil, nach altösterreichischer Art mit dem sogenannten Schönbrunner Gelb gefärbelt und mit grünen Fensterläden versehen. Durch einen Hof abgesondert, drücken sich ein paar kleinere Gebäude, offenbar für das Gesinde, die Verwaltung und die Stallungen bestimmt, in den großen Park hinein, von dem ich bei jenem ersten nächtlichen Besuch nichts wahrgenommen hatte. Jetzt erst merke ich, durch die sogenannten Ochsenaugen, die ovalen Durchbrüche jener mächtigen Mauer, hineinspähend, daß dieses Schloß Kekesfalva keineswegs, wie ich unter dem Eindruck der inneren Einrichtung vermeinte, eine moderne Villa ist, sondern ein rechtes ländliches Gutsherrenhaus, ein Adelssitz alter Art, derlei ich im Böhmischen ab und zu bei Manövern im Vorbeireiten gesehen hatte. Auffällig wirkte nur der merkwürdige viereckige Turm, der, mit seiner Form ein wenig an die italienischen Campaniles erinnernd, sich ziemlich ungehörig emporstemmt, vielleicht Überrest eines Schlosses, das vor Zeiten hier gestanden haben mag. Nachträglich entsinne ich mich jetzt, vom Exerzierfeld aus diese sonderbare Warte öfters wahrgenommen zu haben, freilich in der Meinung, es sei der Kirchturm irgend eines Dorfes, und nun erst fällt mir auf, daß der übliche Turmknauf fehlt und der merkwürdige Kubus ein flaches Dach besitzt, das entweder als Sonnenterrasse oder Observatorium dient. Je mehr ich aber des Feudalen, Altererbten dieses adligen Gutsbesitzes gewiß werde, um so unbehaglicher fühle ich mich: gerade hier, wo sicher auf Formen besonders geachtet wird, mußte ich derart tölpelhaft debütieren!
Aber schließlich gebe ich mir, nach beendeter Umkreisung wieder beim Gittertor von der anderen Seite angelangt, den entscheidenden Ruck. Ich durchschreite den Kiesweg zwischen den kerzengrade geschnittenen Bäumen und lasse an der Haustür den schweren bronzegetriebenen Klopfer niederfallen, der hier nach altem Brauch statt einer Glocke dient. Sofort erscheint der Diener – sonderbar, er scheint gar nicht erstaunt über den unangemeldeten Besuch. Ohne weiter zu fragen oder meine schon vorbereitete Visitenkarte entgegenzunehmen, lädt er mich mit höflicher Verbeugung ein, im Salon zu warten, die Damen seien noch auf ihrem Zimmer, würden aber gleich kommen; daß ich empfangen werde, scheint also zweifellos. Wie einen angesagten Besuch führt er mich weiter; mit erneutem Unbehagen erkenne ich den rottapezierten Salon wieder, in dem damals getanzt wurde, und ein bitterer Geschmack in der Kehle erinnert mich, daß nebenan jener Raum mit der verhängnisvollen Ecke sich befinden muß.
Zunächst verschließt allerdings eine cremefarbene, mit goldenen Ornamenten zierlich geschmückte Schiebetür den Ausblick auf den mir deutlich gegenwärtigen Schauplatz meiner Tölpelei, aber bereits nach wenigen Minuten vernehme ich hinter dieser Tür schon Rücken von Sesseln, tuschelndes Sprechen, irgend ein verhaltenes Kommen und Gehen, das mir die Gegenwart mehrerer Personen verrät. Ich versuche die Wartezeit zu nützen, um den Salon zu betrachten: üppige Möbel Louis seize, rechts und links alte Gobelins und zwischen den Glastüren, die unmittelbar in den Garten führen, alte Bilder vom Canale Grande und der Piazza San Marco, die mir, so unbelehrt ich auch in diesen Dingen bin, kostbar zu sein scheinen. Zwar, sehr deutlich unterscheide ich nichts von diesen Kunstschätzen, denn ich horche mit gespannter Aufmerksamkeit zugleich auf die Geräusche von nebenan. Es klirrt dort leise von Tellern, es knarrt eine Tür, jetzt meine ich auch – das unregelmäßige trockene Tappen und Tocken von Krücken zu hören.
Endlich schiebt von innen eine noch unsichtbare Hand die Flügel der Tür auseinander. Es ist Ilona, die mir entgegentritt. »Wie lieb, Herr Leutnant, daß Sie gekommen sind.« Und schon führt sie mich in den mir allzu wohlbekannten Raum. In derselben Boudoirecke, auf derselben Chaiselongue hinter demselben malachitfarbenen Tisch (warum wiederholen sie die für mich so peinliche Situation?) sitzt die Gelähmte, eine weiße Pelzdecke voll und schwer über den Schoß gebreitet, so daß ihre Beine unsichtbar bleiben – offenbar soll ich »daran« nicht erinnert werden. Mit zweifellos vorbereiteter Freundlichkeit lächelt mir von ihrer Krankenecke Edith grüßend entgegen. Aber diese erste Begegnung bleibt doch ein fatales Wiedersehen, und an der genierten Art, wie sie, ein wenig angestrengt, mir die Hand über den Tisch entgegenstreckt, merke ich sofort, auch sie denkt »daran«. Keinem von uns glückt das erste verbindende Wort.
Glücklicherweise wirft Ilona rasch eine Frage in das stickige Schweigen:
»Was dürfen wir Ihnen anbieten, Herr Leutnant, Tee oder Kaffee?«
»Oh, ganz wie es Ihnen beliebt«, erwidere ich.
»Nein – was Sie lieber haben, Herr Leutnant! Nur keine Zeremonien, es ist doch ganz einerlei.«
»Also Kaffee, wenn ich bitten darf«, entschließe ich mich und bin froh, dabei zu hören, daß meine Stimme nicht allzu brüchig klingt.
Verflucht geschickt war das von dem braunen Mädel, mit einer derart sachlichen Anfrage die erste Spannung überbrückt zu haben. Aber wie rücksichtslos wiederum, daß sie gleich darauf das Zimmer verläßt, um dem Diener Auftrag zu erteilen, denn so bleibe ich ungemütlicherweise mit meinem Opfer allein. Es wäre jetzt an der Zeit, etwas zu sagen, Konversation à tout prix zu machen. Doch mir steckt ein Pfropf in der Kehle, und auch mein Blick muß etwas Verlegenes haben, denn ich wage nicht in die Richtung des Sofas zu schauen, weil sie sonst glauben könnte, ich starre auf den Pelz, der ihre lahmen Beine verdeckt. Glücklicherweise zeigt sie sich gefaßter als ich und beginnt mit einer gewissen nervös-heftigen Art, die ich jetzt zum erstenmal an ihr kennenlerne:
»Aber wollen Sie nicht Platz nehmen, Herr Leutnant? Da, rücken Sie sich doch den Fauteuil her. Und warum legen Sie Ihren Säbel nicht ab – wir wollen doch Frieden halten … dort auf den Tisch oder auf das Fensterbrett … ganz wie Sie wollen.«
Ich rücke mir etwas umständlich einen Fauteuil heran. Noch immer gelingt es mir nicht, den Blick unbefangen einzustellen. Aber energisch hilft sie mir weiter.
»Ich muß Ihnen noch danken für die wunderbaren Blumen … wirklich wunderbare Blumen sind das, sehen Sie nur, wie schön sie sich in der Vase machen. Und dann … und dann … ich muß mich auch entschuldigen für meine dumme Unbeherrschtheit … Schrecklich, wie ich mich benommen habe … die ganze Nacht konnte ich nicht schlafen, so habe ich mich geschämt. Sie haben es doch so lieb gemeint und … wie konnten Sie denn eine Ahnung haben. Und außerdem« – (sie lacht plötzlich scharf und nervös) – »außerdem haben Sie meinen innersten Gedanken erraten … ich hatte mich doch mit Absicht so gesetzt, daß ich den Tanzenden zusehen konnte, und gerade als Sie kamen, hatte ich mir nichts so sehr gewünscht, als mitzutanzen … ich bin ja ganz vernarrt in den Tanz. Stundenlang kann ich zusehen, wie andere tanzen – so zusehen, daß ich selbst jede Bewegung bis in mich hinein spüre … wirklich, jede Bewegung. Nicht der andere tanzt dann, ich bin es selbst, die sich dreht, sich beugt, die nachgibt und sich führen, sich schwingen läßt … so närrisch kann man sein, das vermuten Sie vielleicht gar nicht … Schließlich, früher als Kind hab ich schon ganz gut getanzt und furchtbar gern … und immer, wenn ich jetzt träume, ist es vom Tanz. Ja, so dumm es klingt, ich tanze im Traum, und vielleicht ist es gut für Papa, daß mir das mit … daß mir das passiert ist, sonst wäre ich von zu Hause weggelaufen und Tänzerin geworden … Nichts passioniert mich so, und ich denk mir, es muß herrlich sein, mit seinem Körper, mit seiner Bewegung, mit seinem ganzen Sein jeden Abend hunderte und hunderte Menschen zu packen, zu fassen, aufzuheben … herrlich muß das sein … übrigens, damit Sie sehen, wie närrisch ich bin … ich sammle alle Bilder von großen Tänzerinnen. Alle habe ich, die Saharet, die Pawlowa, die Karsawina. Von allen habe ich die Photographien und in allen ihren Rollen und Posen. Warten Sie, ich zeige sie Ihnen … dort, in der Schatulle liegen sie … dort beim Kamin … dort in der chinesischen Lackschatulle« – (Ihre Stimme wird plötzlich ärgerlich vor Ungeduld) – »Nein, nein, nein, dort links neben den Büchern … ach, sind Sie ungeschickt … Ja, das ist sie« – (ich hatte die Schatulle endlich gefunden und brachte sie) – »Sehn Sie, das da, das zu oberst liegt, ist mein Lieblingsbild, die Pawlowa als sterbender Schwan … ach, wenn ich ihr nur nachreisen, wenn ich sie nur sehen könnte, ich glaube, es wäre mein glücklichster Tag.«
Die rückwärtige Tür, durch die Ilona sich entfernt hatte, beginnt sich leise in den Scharnieren zu bewegen. Hastig, wie ertappt, mit einem trockenen, knallenden Wurf klappt Edith die Schatulle zu. Es klingt wie ein Befehl, den sie mir jetzt zuwirft:
»Nichts davon vor den andern! Kein Wort von dem, was ich Ihnen gesagt habe.«
Es ist der weißhaarige Diener mit den schöngeschnittenen Franz Joseph-Koteletten, der die Tür vorsichtig öffnet; hinter ihm schiebt Ilona einen reichgedeckten Teetisch auf Gummirädern herein. Sie serviert, setzt sich zu uns, und sofort fühle ich mich wieder sicherer. Den willkommenen Anlaß zur Konversation gibt die mächtige Angorakatze, die unhörbar mit dem Teewagen hereingeschlichen ist und sich nun mit unbefangener Vertraulichkeit an meinen Beinen reibt. Ich bewundere die Katze, dann beginnt ein Hin- und Herfragen, wie lange ich hier sei und wie ich mich in der Garnison fühle, ob ich den Leutnant Soundso kenne, ob ich oft nach Wien fahre – unwillkürlich entsteht ein landläufiges, unbeschwertes Gespräch, in dem sich die arge Spannung unmerklich löst. Allmählich traue ich mich sogar schon, die beiden Mädchen ein bißchen von der Seite anzusehen, völlig verschieden ist die eine von der andern, Ilona schon ganz Frau, sinnlich warm, voll, üppig, gesund; neben ihr wirkt Edith, halb Kind und halb Mädchen, vielleicht siebzehn Jahre alt, vielleicht achtzehn, noch irgendwie unfertig. Sonderbarer Kontrast: mit der einen möchte man tanzen, möchte man sich küssen, die andere wie eine Kranke verwöhnen, sie schonend streicheln, sie behüten und vor allem beschwichtigen. Denn eine merkwürdige Unruhe geht von ihrem Wesen aus. Nicht einen Augenblick hält ihr Gesicht still; bald blickt sie nach rechts, bald nach links, bald spannt sie sich auf, bald lehnt sie sich wie erschöpft zurück; und mit der gleichen Nervosität, wie sie sich bewegt, spricht sie auch, immer sprunghaft, immer staccato, immer ohne Pausen. Vielleicht, denke ich mir, daß diese Unbeherrschtheit und Unruhe eine Kompensation ist für die aufgezwungene Unbeweglichkeit ihrer Beine, vielleicht auch ein ständiges leichtes Fieber, das ihre Gesten und ihr Gespräch rascher taktiert. Aber mir bleibt wenig Zeit zum Beobachten. Denn sie versteht mit ihren raschen Fragen und der leichten, fliegenden Art ihres Erzählens die Aufmerksamkeit völlig auf sich zu ziehen; überrascht gerate ich in ein anregendes und interessantes Gespräch.
Eine Stunde dauert das. Vielleicht sogar anderthalb Stunden. Dann schattet mit einem Mal vom Salon her eine Gestalt; vorsichtig tritt jemand ein, als hätte er Furcht, zu stören. Es ist Kekesfalva.
»Bitte, bitte«, drückt er mich, da ich respektvoll aufstehen will, und beugt sich dann zu einem flüchtigen Kuß über die Stirn des Kindes. Wieder trägt er den schwarzen Rock mit dem weißen Vorstoß und der altmodischen Binde (ich habe ihn nie anders gesehen); wie ein Arzt sieht er aus mit seinen behutsam beobachtenden Augen hinter der goldenen Brille. Und wirklich wie ein Arzt an den Rand eines Krankenbetts, setzt er sich vorsichtig hin zu der Gelähmten. Merkwürdig, mit dem Augenblick, da er gekommen, scheint das Zimmer melancholischer zu schatten; die ängstliche Art, mit der er manchmal prüfend und zärtlich von der Seite auf sein Kind blickt, hemmt und dunkelt den Rhythmus unseres bisher unbefangenen Geplauders. Auch er empfindet bald unsere Befangenheit und sucht nun seinerseits eine Konversation zu erzwingen. Er fragt gleichfalls nach dem Regiment, dem Rittmeister, erkundigt sich nach dem früheren Oberst, der jetzt als Divisionär im Kriegsministerium sei. Er scheint seit Jahren unsere Personalangelegenheiten überraschend genau zu kennen, und ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, daß er aus einer bestimmten Absicht bei jedem einzelnen hohen Offizier seine besondere Vertrautheit besonders betont.
Zehn Minuten noch, denke ich mir, dann kann ich mich unauffällig empfehlen; da klopft es abermals leise an der Tür, der Diener tritt ein, unhörbar, als ob er bloßfuß ginge, und flüstert Edith etwas ins Ohr. Unbeherrscht fährt sie auf.
»Er soll warten. Oder nein, er soll mich überhaupt heute in Ruhe lassen. Er soll weggehen, ich brauche ihn nicht.«
Wir sind alle geniert durch ihre Heftigkeit, und ich erhebe mich mit dem peinlichen Gefühl, zu lang geblieben zu sein. Aber gleich rücksichtslos wie den Diener herrscht sie mich an:
»Nein, bleiben Sie! Es hat gar nichts zu sagen.«
Eigentlich liegt in dem befehlshaberischen Ton eine Ungezogenheit. Auch der Vater scheint das Peinliche zu empfinden, denn mit hilflos bekümmertem Gesicht mahnt er:
»Aber Edith …«
Und nun spürt sie selbst, vielleicht an seiner Erschrockenheit, vielleicht an meinem verlegenen Dastehen, daß ihr die Nerven durchgegangen sind, denn sie wendet sich mir plötzlich zu.
»Verzeihen Sie. Josef hätte wirklich warten können, statt da hereinzupoltern. Es ist ja nichts als die tägliche Quälerei, der Masseur, der mit mir Streckübungen macht. Der reinste Unsinn, eins, zwei, eins, zwei, auf, ab, ab, auf; davon soll alles auf einmal gut werden. Die neueste Erfindung unseres Herrn Doktors und eine völlig überflüssige Sekkatur. Sinnlos wie alle andern.«
Herausfordernd sieht sie ihren Vater an, als ob sie ihn verantwortlich machte. Verlegen (er schämt sich vor mir) beugt sich der alte Mann zu ihr nieder.
»Aber Kind … glaubst du wirklich, daß Doktor Condor …«
Doch schon hält er inne, denn um ihren Mund hat ein Zucken begonnen, die schmalen Nasenflügel erzittern. Genau so hat es damals um die Lippen gebebt, und schon ängstige ich mich vor einem neuen Ausbruch. Aber plötzlich errötet sie und murmelt nachgiebig:
»Nun gut, ich geh schon, obwohl’s gar keinen Sinn hat, gar keinen Sinn. Verzeihen Sie, Herr Leutnant, ich hoffe, Sie kommen bald wieder.«
Ich verbeuge mich und will mich verabschieden. Aber bereits hat sie sich’s wieder überlegt.
»Nein, bleiben Sie noch mit Papa, während ich abmarschiere« – sie betont das letzte Wort »abmarschiere« so scharf und staccato wie eine Drohung. Dann faßt sie die kleine bronzene Glocke, die auf dem Tisch steht, und klingelt – später erst habe ich bemerkt, daß überall im ganzen Haus in ihrer Greifnähe solche Glocken auf allen Tischen standen, damit sie jederzeit jemand herankommandieren könne, ohne auch nur einen Augenblick warten zu müssen. Die Glocke klingelt scharf und schrill. Sofort erscheint wieder der Diener, der bei ihrem Ausbruch diskret verschwunden war.
»Hilf mir«, befiehlt sie ihm und wirft die Pelzdecke ab. Ilona beugt sich zu ihr, um ihr etwas zuzuflüstern, aber »Nein«, herrscht die sichtbar Erregte die Freundin unwillig an. »Josef soll mich nur aufstützen. Ich geh schon allein.«
Was jetzt kommt, ist furchtbar. Der Diener beugt sich über sie und hebt mit einem offenbar eingelernten Griff den leichten Körper unter den Achseln mit beiden Händen hoch. Wie sie nun aufrecht steht, mit beiden Händen sich an der Lehne des Fauteuils anhaltend, mißt sie uns alle erst einzeln mit einem herausfordernden Blick; dann greift sie nach den beiden Stöcken, die unter der Decke verborgen lagen, beißt die Lippen fest zusammen, stemmt sich auf die Krücken und – tapp-tapp, tock-tock – stapft, schwankt, stößt sie sich vorwärts, schief und hexenhaft, indes der Diener hinter ihr mit vorgebreiteten Armen wacht, um sie bei einem Ausgleiten oder Nachgeben sofort aufzufangen. Tapp-tapp, tock-tock, wieder ein Schritt und wieder einer, dazwischen klirrt und knirscht etwas leise wie von gespanntem Leder und Metall: sie muß – ich traue mich nicht, auf ihre armen Beine zu sehen – irgendwelche Stützmaschinen an den Fußgelenken tragen. Wie unter einem Eisgriff krampft sich mir das Herz zusammen bei diesem forcierten Gewaltmarsch, denn ich verstehe sofort die demonstrative Absicht darin, daß sie sich nicht helfen oder in einem Rollstuhl hinausfahren läßt: sie will mir, gerade mir, sie will uns allen zeigen, daß sie ein Krüppel ist. Sie will uns wehtun aus irgendeiner geheimnisvollen Rachsucht der Verzweiflung, uns peinigen mit ihrer Pein, uns, die Gesunden, an Stelle Gottes anklagen. Aber gerade an dieser furchtbaren Herausforderung fühle ich – und noch tausendfach stärker als bei ihrem früheren verzweifelten Ausbruch, da ich sie zum Tanzen aufforderte – wie grenzenlos sie unter ihrer Hilflosigkeit leiden muß. Endlich – es dauert eine Ewigkeit – ist sie die paar Schritte bis zur Türe hin- und hergeschwankt, gewaltsam sich von einer Krücke auf die andere werfend mit dem ganzen Gewicht ihres geschüttelten, geschleuderten schmalen Körpers; ich finde nicht den Mut, ein einziges Mal scharf hinzublicken. Denn schon der harte, trockene Ton der Krücken, dieses Tock-tock des Stockaufstoßens beim Ausschreiten, das Kreischen und Schleifen der Maschinen und dazu das dumpfe Keuchen der Anstrengung beklemmt und erregt mich dermaßen, daß ich mein Herz bis an den Stoff der Uniform schlagen spüre. Schon hat sie das Zimmer verlassen, und noch immer horche ich atemlos zu, wie hinter der verschlossenen Tür das schreckliche Geräusch leiser wird und endlich erlischt.
Nun erst, da es vollkommen still geworden ist, wage ich den Blick wieder zu heben. Der alte Mann – ich merke es erst jetzt – muß unterdes leise aufgestanden sein und blickt angestrengt zum Fenster hinaus – etwas zu angestrengt blickt er hinaus. Ich sehe im unsicheren Gegenlicht nur seinen Schattenriß, aber die Schultern dieser gebeugten Gestalt zucken in zitternden Linien. Auch er, der Vater, der täglich sein Kind sich so hinquälen sieht, auch er ist von diesem Anblick zernichtet.
Die Luft steht starr im Zimmer zwischen uns beiden. Nach einigen Minuten wendet die dunkle Gestalt sich endlich um und kommt mit unsicherem Schritt, als ginge sie über glitschigen Grund, leise heran:
»Bitte nehmen Sie’s dem Kind nicht übel, Herr Leutnant, wenn sie ein wenig brüsk war, aber … Sie wissen ja nicht, wie viel man sie gequält hat in all diesen Jahren … immer etwas anderes, und es geht so furchtbar langsam vorwärts, ich versteh ja, daß sie ungeduldig wird. Aber was sollen wir tun? Man muß doch alles versuchen, man muß doch.«
Der alte Mann ist vor dem verlassenen Teetisch stehengeblieben, er blickt mich nicht an, während er spricht. Starr hält er die von den grauen Lidern fast verdeckten Augen auf den Tisch gerichtet. Wie ein Träumender greift er in die offene Zuckerdose, faßt ein viereckiges Stück, dreht es zwischen den Fingern hin und her, starrt es sinnlos an und legt es wieder weg; etwas von einem Trunkenen ist in seinem Gehaben. Noch immer kann er den Blick von dem Teetisch nicht abziehen, als hielte ihn dort etwas Besonderes im Bann. Unbewußt nimmt er einen Löffel, hebt ihn auf, legt ihn wieder hin und spricht dann gleichsam auf den Löffel zu:
»Wenn Sie wüßten, wie das Kind früher war! Den ganzen Tag ging das treppauf, treppab, sie sauste nur so über die Stiegen und durch die Zimmer, daß uns angst und bange wurde. Mit elf Jahren ritt sie auf ihrem Pony die ganzen Wiesen in einer Karriere entlang, keiner konnte sie einholen. Oft hatten wir Furcht, meine selige Frau und ich, so tollkühn war sie, so übermütig und behend, so leicht war ihr alles. Immer hatte man das Gefühl, sie brauchte nur die Arme auszubreiten und könnte fliegen … und gerade ihr mußte das zustoßen, gerade ihr …«
Der Scheitel zwischen den dünnen, weißen Haaren beugt sich immer tiefer über den Tisch. Noch immer stochert die nervöse Hand zwischen all den verstreuten Dingen herum, statt des Löffels jetzt eine müßige Zuckerzange fassend und damit runde merkwürdige Runen auf dem Tisch ziehend (ich weiß: es ist Scham, es ist Verlegenheit, er fürchtet sich nur, mich anzublicken).
»Und dabei, wie leicht ist es noch heute, sie froh zu machen. An der kleinsten Kleinigkeit kann sie sich freuen wie ein Kind. Sie kann lachen über den dümmsten Scherz und sich begeistern an einem Buch – ich wollte, Sie hätten sehen können, wie entzückt sie war, als Ihre Blumen kamen und die Angst von ihr fiel, sie hätte Sie beleidigt … Sie ahnen ja nicht, wie fein sie alles empfindet … alles spürt sie viel stärker als unsereiner. Ich weiß genau, niemand ist jetzt mehr verzweifelt als sie selbst, daß sie so unbeherrscht gewesen … Aber wie soll man … wie soll man sich denn beherrschen können … wie soll ein Kind immer wieder Geduld aufbringen, wenn es so langsam vorwärts geht, wie stillhalten, wenn man so geschlagen wird von Gott und hat doch nichts getan … niemandem etwas getan!«
Er starrte noch immer hin auf die imaginären Figuren, die seine zitternde Hand mit der Zuckerzange ins Leere zeichnete. Und plötzlich klirrte er sie wie erschreckt hin. Es war, als ob er aufwachte und dadurch erst bewußt würde, nicht zu sich allein, sondern vor einem völlig Fremden gesprochen zu haben. Mit einer ganz andern Stimme, einer wachen und gedrückten, begann er sich ungeschickt zu entschuldigen.
»Verzeihen Sie, Herr Leutnant … wie kommen Sie dazu, daß ich Sie mit unseren Sorgen beschwere! Es war nur so, weil … es kam nur so über mich … und ich wollte Ihnen doch bloß erklären … Ich möchte nicht, daß Sie von ihr schlecht denken … daß Sie …«
Ich weiß nicht, wieso ich den Mut fand, den verlegen Stammelnden zu unterbrechen und auf ihn zuzugehen. Aber plötzlich nahm ich mit beiden Händen die Hand des alten, fremden Mannes. Ich sagte nichts. Ich faßte nur seine kalte, knochige, seine unwillkürlich zurückscheuende Hand und drückte sie. Er starrte mich erstaunt an, die Brillengläser blitzten schräg empor, und hinter ihnen tastete ein unsicherer Blick weich und verlegen nach dem meinen. Ich hatte Angst, er würde jetzt etwas sagen. Aber er tat es nicht; nur die schwarzen, runden Pupillen weiteten sich mehr und mehr, als wollten sie überströmen. Auch ich spürte eine Ergriffenheit noch unerlebter Art in mir aufquellen, und um ihr zu entfliehen, verbeugte ich mich hastig und ging hinaus.
Im Vorraum half mir der Diener in den Mantel. Auf einmal spürte ich eine Zugluft im Rücken. Ohne mich umzuwenden, wußte ich, daß der alte Mann mir nachgegangen war und nun im Türrahmen stand, aus dem Bedürfnis, mir zu danken. Doch ich wollte mich nicht beschämen lassen. Ich tat, als ob ich nicht merkte, daß er hinter mir stand. Rasch, mit schlagenden Pulsen, verließ ich das tragische Haus.
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.