Rückkehr zum Märchen
In diesem wetterwendischen Sommer bei Freunden am Lande zu Gast, war mir’s geschehen, daß ich, von einem ersten trügerischen Blick sonnigen Himmels verlockt, weit in die reifenden Felder hinausgewandert war, als plötzlich vom Rücken her eine schwarzschattende Wolke mich überrannte. Dunkel stand mit einemmal über den eben noch hellgoldenen Saaten und schon, noch ehe ich Unbewehrter mich flüchten konnte, prasselte rachsüchtig der Regen auf mich nieder. Auf einem nahen Hügel barg sich ein Haus, rasch lief ich empor und bat um Unterstand, bis das Unwetter vorüber sei. Eine Frau, kaum aufschauend vom emsigen Werk, ersparte mir’s, im nackten Flur zu stehen, wies mir ein Zimmer zum Warten, das sonst wohl hell sein mochte, nun aber vom Regen verschattet war, und ging wieder ans Werk. So blieb ich allein im schweigenden Raum und suchte aus Gerät und Liegenschaft Stand und Art der Insassen zu erraten. Kindern mochte diese Stube sonst wohl zugewiesen sein, das merkte ich bald, denn auf dem Polster kniete ein zerbrochener Polichinell und glotzte mich groß aus verdrehtem Glasauge an. Atlanten blickten blau und bunt von den Wänden, und auf dem Tisch lag aufgeschlagen neben einer zerlesenen Fibel ein Kinderbuch mit kolorierten Blättern. Mechanisch griff ich danach, aus jener Neugier nach Büchern, die mir nun schon verhängnisvoll tief im Blut sitzt und fast unbewußt nach Gedrucktem langt. Ein alter kleiner Schmöker war’s, abgegriffen und überjahrt, dessen zierliche Kupfer die Kinder mit grellen Farben nachgepinselt hatten, die aber zu betrachten mich’s verlockte, und ich nahm’s zur Hand. ›Gullivers seltsame Reisen‹ hieß es, ein Buch, das ich mich deutlich besann, als Kind gelesen zu haben und seitdem nicht mehr. Aber nun, da ich die Kupfer beschaute, den einen zuerst, da Gulliver, ein Riese, breitbeinig dasteht und die ganze Armee von Liliput mit Kanonen und fliegenden Fahnen zwischen seinen gespreizten Beinen durchmarschiert, und dann jenen andern, da er wieder winzig wie eine Maus zwischen den gigantischen Ähren von Brobdignac sitzt und die ungeschlachten Schnitter seine Putzigkeit staunend entdecken – da wurde jäh etwas Vergangenes mir innen wach, eine frühe Erinnerung oder zumindest die Neugier nach ihr. Und um sie zu fassen, blätterte ich die erste Seite auf und begann zu lesen, in fremder Stube, in fremdem Buch.
Und ich las noch immer, als die Tür aufging und die Frau eintrat mit den lachenden Kindern. Ich fuhr empor, nicht wenig beschämt, in so einfältig kindischem Buche lesend, von Erwachsenen ertappt zu sein, und war’s noch mehr, als ich erstaunt sah, daß längst wieder Sonne an die Fenster funkelte und ich in Gullivers Reisen ein Unwetter überlesen hatte. Ich dankte für die Gastlichkeit und ging wieder die Felder zurück, kindisch mich selber scheltend, daß ich so sehr mich an so einfältigen Reiz gefangen gegeben, aber bald kam besseres Besinnen und mir wurde klar, daß doch in allem, was zwingt, und selbst im geringsten, irgendeine starke und lebendige Gewalt wohltätig wirksam sein muß. Ob dies ein Zufall gewesen, der mich so bannte, oder geheime Kraft, wollte ich nun bewußt erproben. Am nächsten Tag sandte ich in die nahe kleine Stadt, ließ mir den ›Robinson Crusoe‹ holen (denn diese Bücher hat jede Stadt vom einen bis zum anderen Ende der Welt), und wieder war ich gefangen von fremdem Geschick. Ich segelte mit ihm im Sturm, scheiterte an der Insel, sah schaudernd die nackte Fußspur im Sand, fand Freitag, den braunen Genossen, bis endlich – die zwanzig Jahre lebte ich mit ihm in einer Stunde – das weiße Segel erschien und wir heimkehren durften in unsere Welt. Auch hier empfand ich den gleichen wohltätigen Genuß, einen dichterischen Zwang, der ohne alle schmerzhafte Gewalt die Seele frei ließ und nur die Sinne beschäftigte. Schwer und lastend schienen mir all die Bücher unserer Zeit im Vergleich zu diesem mühelos schweifenden Wandern, und undankbar dünkte ich mir selbst, Bücher, denen ich in Knabenjahren so viel Seligkeit verdankte, achtlos weggelegt zu haben, als sei dies Kind, das ich war, ganz fremd und außen von mir und nicht von innen, nur überwachsen und verwandelt entfaltet. Und langsam und bewußt ging ich seit diesen Sommertagen Schritt für Schritt zurück zu allen Büchern des Beginnes, zu den phantastischen, durch die ich als Knabe gejagt, schneller und heißer, wie die Rothäute dort durch die Prärien sausen, und weiter zu den schlichten und sagenhaften, die man noch mehr buchstabiert, als man sie liest, und schließlich zu jenen letzten weitesten, fernsten und schönsten, die man ohne das Lesen empfing, zu den Märchen, die einem erzählt werden. Und fühlte in diesem Wiederfinden zum erstenmal bewußt, eine wie hohe dichterische Kraft in diesen primitiven Dingen wirkt, fühlte staunend die Schönheit ihrer Naivität und die Kraft ihrer Anmut.
Denn Märchen, das weiß ich nun, kann man in seinem Leben zweimal und zwiefach lesen. Zuerst einfältig, als Kind, mit dem naiven Glauben, daß die belebt-bunte Welt ihrer Geschehnisse eine wahrhaftige sei, und dann, viel, viel später, mit dem vollen Bewußtsein ihrer Erfindung, mit dem frohen Willen zum Betrogensein. Zwischen diesem zwiefachen Genießen, dem naiven und dem bewußten, liegt der hochmütige Stolz des Halberwachsenen, das freche Gefühl der Flegeljahre, die zu stolz sind, sich hinzugeben an einen schönen Trug, die plump die Wahrheit wollen und eine kleine, ganz wertlose Tatsächlichkeit lieber nehmen als die reizvollste Phantasie. Mit dem Märchen geht’s wohl jedem so, daß er sie in diesen Flegeljahren verächtlich in den Winkel der Kinderstube wirft, um sie zeitlebens nicht mehr aufzuheben, und manchem auch mit der Bibel. Er hat sie beiseite gelegt, als er an Gott zu zweifeln begann, und seit damals, da sie ihm nicht mehr das heilige Buch schien, war sie ihm überhaupt keines mehr. Nie schlägt er sie vielleicht mehr auf, obzwar er tausend und tausend andere liest, und vergißt, daß dieses Buch auch neben der Religion schön ist und auch jenseits des Glaubens heilig als eines der edelsten Kunstwerke der Welt. Tolstoi hat einmal, nach der schönsten Novelle der Literatur befragt, die Erzählung von Josef und seinen Brüdern genannt, und so mag jeder, dem die Bibel seit Kindertagen fremd wurde, Esther, Hiob und Ruth mit neuer Bewunderung lesen, als Legende, als Märchen, wenn er will, aber doch als die tiefsinnigsten und schönsten des Lebens. Beseligung und Entdeckung ist in dieser Rückkehr zu den Büchern der Kindheit ein neuer, erhöhter Genuß des Lesens, der gemischt ist aus Unglauben und einem allmählichen Gläubigwerden wider den eigenen Willen. Und ich lese sie nun alle wieder gern zwischen all den dunklen und lastenden Werken unserer Zeit, und besser als jene antworten sie einem Bedürfnis nach Rast, das aller Lektüre doch zu Grunde liegt. Nach Rast von sich selber. Denn was wäre es anders, das uns zu Büchern treibt, als ein von sich Wegwollen? Das Bedürfnis, zu lernen, ist es längst nicht mehr, das hat uns die Schule verleidet. Immer ist’s nur Drang, aus den Grenzen eigener Welt zu treten, sich zu verlieren in Fremdem und doch gleichzeitig dort sich wiederzufinden im Gleichnis. Hier aber, in diesen beziehungslosen, ganz fernen, ganz außenhaften Märchen sind wir uns selber entführt und doch nirgends gespiegelt. Sie erinnern uns nicht an unser Leben: das macht sie so fern. Sie greifen nie ernstlich in unser Gefühl, sie streifen es nur: das macht sie so leicht. Sie beschäftigen bloß den inneren Blick und lassen das Herz frei, sie bezaubern, ohne zu belasten, sie sind Flamme ohne Qualm. Wundervolle Kraft vom täglichen, allzutäglichen Leben ist in ihnen. Die Gesetze unserer geregelten Stunden haben über ihr Geschehen keine Gewalt, die gemeine Ordnung ist gelöst in maßlosen Zufall. Dies im Sinnvollen Sinnlose ist ihre Magie. Etwas blumenhaft Unnützes ist in ihnen, die das Oberste, das ganz Zarte und Flaumige der Dichtung sind, hoch und unberührbar vom Erdhaft-Trüben des tatsächlichen Lebens.
Seltsam, wie spät sich unsere deutsche Welt auf diesen ihren kostbaren Besitz besann, ähnlich spät, wie wir jeder selbst in unserem eigenen Leben. Längst hatte man schon Bilder gesammelt, Bücher, Münzen, Fächer, Tabaksdosen und Handschriften, als man diese Märchen noch achtlos frei von Mund zu Mund flattern ließ, ohne sie im geschriebenen Wort zu fangen. Zwischen der Frühzeit der deutschen Dichtung und der heutigen ihrer stärksten Bewußtheit, die sie als erlesenste Schätze der Kunst wertet, stehen eben auch solche eitle selbstbewußte Flegeljahre, die jede Volksdichtung wie eine allzu breithüftige, rotbackige Schönheit verachteten und denen das Märchen bloß Altweibergeschwätz war. Die Gelehrten erst gewannen sie uns wieder zurück, die Brüder Grimm, die sie zum erstenmal sammelten und denen jetzt eine köstliche Nachlese gefolgt ist: ›Deutsche Märchen seit Grimm‹ und die wiederum nur ein Band eines gewaltigen Unternehmen sein sollen, in dem der tapfere Verleger Eugen Diederichs (den zu rühmen ich nie eine Gelegenheit versäumen möchte) alle Märchen der Vorzeit uns vereinen will.
Wie wundervoll leicht doch dieser Band ist, wie gewichtlos für die Vielfalt seines Inhalts! Nie wußte ich, eine wie große Freude es sein könnte, Märchen zu lesen als Erwachsener, jetzt, da man sie abends zur Hand nehmen kann ohne die Beängstigung des Kindes, daß Heinzelmännchen wahrhaft unter dem Bett knistern und aus dem Dunkel dann die Riesen in die Träume gestapft kommen und die Menschenfresser. Täglich lese ich nun darin, nicht zu lange freilich, um mir den Genuß zu versparen, nicht so glühend vielleicht auch wie einst, weil mir die Angst fehlt, das Gruseln und Grausen, aber immer neu entzückt von ihrer Unbeschwertheit, ihrem seligen Flug. Unendlich einfach scheinen sie im Vergleich mit der Literatur und sind doch voll Geheimnis, regellos bieten sie sich dar und gehorchen doch unbewußt großen Gesetzen. Eine ganze Wissenschaft, die Märchenforschung, steht erst am Anfang, sie zu enträtseln, ihre folkloristischen Beziehungen zu deuten, ihre Zusammenhänge mit vergangenen Religionen, mit mythischen und erotischen Symbolen wieder aufzulösen. Denn diese kleinen Märchen kommen ja, vergessen wir’s nicht, von ganz fern in unsere Zeit, aus einer Urwelt, in der noch alles Geheimnis war und das fromme Staunen im Menschen das lebendigste Gefühl. Sie, diese kleinen Geschichten, die wie eben improvisiert scheinen, wandern seit Jahrhunderten schon durch tausend Geschlechter und sind jede älter als der älteste Baum im ältesten Wald. Vom welken Mund eines greisen Mütterchens hat sie eben der Forscher vielleicht gepflückt, aber der gab es die ihre und wieder die ihre bis weit hinauf in die Zeiten, da noch Odin und Thor durch die deutschen Forste fuhren. Eine unsichtbar unendliche Kette der Worte gehen diese Geschichten durch die Zeit, immer wieder von einem Erzähler an einen Lauscher gegeben, manch einer hat ihr ein Ringlein eingefügt, und manch einer ließ wieder eines entgleiten, aber im Wesenhaften sind sie ererbt wie Erde und Scholle, wie der ganze geistige Besitz eines Volkes, wie das Zeichen des Kreuzes, wie kleiner Aberglaube, wie die Sprache selbst und jedes deutsche Wort. Auf allen Straßen der Erde sind sie unsichtbar gegangen, an alle Wände haben sie geklungen, uralt sind sie, die so jung, so eben erst aufgeblüht scheinen. Und kein Wunder, das sie erfabeln, ist vielleicht so erstaunlich als das ihrer eigenen, ganz ins Unendliche hinaus verbreiterten Existenz. Denn das gleiche Märchen, das im deutschen Dorf eine Mutter dem horchenden Kinde erzählt, murmelt drüben im Feuerland ein bemalter Greis vor den heimkehrenden Kriegern, der blinde arabische Märchenerzähler singt es am Platz vor der Kasbah, Indien und China ist es vertraut. Der Gott all dieser Menschen ist ein anderer, die Sprache, die sie reden, reicht nicht mit den letzten Wurzeln mehr eine zur andern, der Himmel, unter dem sie wohnen, die Erde, die sie treten, Form und Farbe ihres Körpers ist andersgestaltig, aber das kleine Märchen, das sie erzählen, ist allorts das gleiche. Keinem fliehenden Zauberpferd dieser kleinen Legenden, keinem sausenden Pfeil wäre so schwer nachzusetzen als diesen kleinen Märchen, wollte man sie überall aufspüren, wo sie sich eingenistet haben in die Phantasie der Völker. Und innen in ihnen ist wieder Geheimnis, denn wer vermochte es bis jetzt zu deuten, warum bestimmte Zahlen, drei und sieben, immer in ihnen wiederkehren? Hier spürt man scheu irgendwelche letzte mystische Symbole der Menschheit, spürt sie stärker in diesen einfältigen kleinen Märchen als irgendwo in den verstricktesten Beziehungen unserer gegenwärtigen geistigen Welt.
Nur genießen darf man sie darum und muß verzichten, sie zu erklären. Nie wird man es vermögen, ihre Dichter zu nennen, denn sie reichen, diese kleinen naiven Sinnspiele, zurück bis in die frommen Zeiten, da jeder ein Dichter war oder keiner. Gelegentlicher Trieb und keine höhere Absicht warf sie in die Welt, sie sind ersonnen, vielleicht ein Kind, ein armes, zu trösten oder ein schreiendes zu schrecken, eine Wanderung zu kürzen oder einen Winterabend um seine lastende Länge zu betrügen. Nicht besonnener zielbewußter Sinn hat sie gedichtet, sondern der unstet schweifende, der müßige Traum. Und so seltsam es klingt, ich glaube, diese einfachen, weisen und lieben Märchen sind eigentlich von den schlimmen Eigenschaften des Lebens erdacht, nicht der Mutige, der Starke, der Tätige haben sie gestaltet – denn all diesen ist die Wirklichkeit schon Welt genug –, sondern der Träumer, der Ofenhocker, der Listige, der Lügner und der Bramarbas, immer einer also, der nicht frei und schaffend mitten im Leben stand. Das glaube ich, weil in diesen Märchen so viel Trost ist für den Müßigen, den Unbesorgten, den Träumer und Tagedieb. Denn im Leben, im wirklichen, ist’s doch der Starke, der alles errafft, der Kluge, der viel gewinnt, der Flinke, der allen voraus ist. Wär’s nun nicht natürlich, daß alle, die rückwärts blieben, aus Trägheit und Schwäche sich diese andere Welt ersannen, die von rückwärts nach vorne schwingt, in der immer der Eilfertige zu spät kommt, der Dumme reich wird und der kluge Teufel geprellt? Traum und Trost aller vom Leben ausgeschalteten (und der Kinder darum so sehr) sind diese kleinen Märchen im Grunde, mögen sie noch so lehrhaft sich gebärden. Der Faulpelz sielt im Bett, die bösen Gesellen stecken, ihn zu schrecken, einen Topf mit kalten schwarzen Molchen ihm unter die Decke, aber wie er sie unversehens angreift, ist ein Zauber gebrochen, der Topf voll blanken Goldes und im Schlaf der Faule reich geworden. Der Dumme wieder verkauft Hof und Heim für eine kleine Haselgerte, aber sieh’, jede Tür öffnet sie ihm, und der König kann seine Schatzkammer nicht mehr hüten. Der feige Soldat rennt aus der Schlacht und kriecht in ein Mauseloch, aber ach, es weitet sich zum Gang tief in die Erde hinab, und dort sind Kammern gespeichert mit Gold und Edelstein, und in der letzten steht die Königstochter und ist wunderschön und hat auf ihn gewartet, und sie machen Hochzeit und leben selig bis an ihr seliges Ende.
Die schöne Königstochter und der junge Königssohn, sie warten ja immer mit ihrem goldenen Krönlein im blonden Haar am Ausgang eines jeden Märchens, um den armen Schäfer oder die einfältige Dirn’ zu frei’n. In Liebe und beim Hochzeitsschmaus endet’s fast immer, denn Märchen, was sind sie anders als die entlaufenen Träume der Nacht oder müßige Wünsche des Tages, und Traum und Wunsch doch wieder eines, wie Freud, der graubärtige weise Magier unsrer inneren Welt gelehrt. Sehnsucht der Erlebnislosen, Trost der Unbefriedigten, Opium der Armen sind sie und darum vorerst Seligkeit der Kinder, die ganz lichterloh brennen vor Sehnsucht und sich immer außen fühlen. Für sie ist diese Märchenwelt ein wahrhaftes Sein, uns entzückt sie als ein wesenloses Verwandeln, denn wir erkennen, daß in ihr nichts wahr und beständig ist, als die wunderbare Bewegung, mit der hier alle Gebiete des Lebens durcheinanderfluten, der letzte Tausch aller Formen, die – Natur und Mensch, Tier und Geist – sich wechselnd mit ihren Eigenschaften beschenken. Hier hält kein Wesen, kein Stand, kein Geschlecht karg wie im Wirklichen seine Eigenschaften sich eigenwillig zurück, das Märchen borgt einem das andere, Tiere haben die Stimme von Menschen und sie wieder von den Vögeln den Flug, der Hase wird Maus, die Maus wieder Sperling, Gestalt ist nicht Besitz, sondern Erborgtes, zurückzugeben und frei zu vertauschen. Der Himmel schneit Zuckerbrot, die Mühle reibt Dukaten, das Spinnrad plaudert, der Pfannkuchen lacht und springt freudig den Kindern in den Korb. Im Märchen darf jeder die Eigenschaft des anderen sich borgen, alles ist allen gemein, und unsere Welt, die wir so mühsam mit den Sinnen in Vorstellungen einzeln abteilten, gerät da mächtig ins Gleiten, schwindlig vom Wirbel der Verwandlungen, »die Welt wird Traum, der Traum wird Welt«, wie Novalis im ›Ofterdingen‹ das Gefühl des Märchenhaften mit der ihm eigentümlich visionären Kraft in eine Zeile raffte. Nichts ist mehr wahr und Welt in ihnen und doch alles, solange wir es glauben, und jede dieser kurzlebigen Lügen ist nun schon Jahrhunderte alt. Das ist ihr geheimnisvoller Doppelsinn, kurz zu sein im Trug und doch unendlich lang, denn das Märchen, das mich in dieser Sekunde losließ, wieder zurück in meine Welt, und nun selbst versunken ist, morgen fängt es einen andern wieder und so weiter, vielleicht in alle Ewigkeit.
Aber ewig, sind sie’s wirklich, diese kleinen Märchen? Ewig: leicht schwingt sich das Wort vom Mund, aber doch, schreibt man es dann hin, so sehen einen die vier Buchstaben drohend an. Zu schwer lastet das Wort auf diesen holden schmetterlingsleichten Traumgespinsten. Denn mögen sie selbst wie die Lust an der Lüge, die Magie des Traumes und die unendliche Neugier über den nahen Tag hinaus unzerstörbar sein, etwas in ihnen scheint leise welk zu werden, zu verblühen für den Menschen der Stadt. Nichts von ihnen selbst: aber ihre Welt. Denn das Märchen ist aus dem Wald gewachsen und geschwisterlich der Natur, und wie viele von heute sind ihr schon fremd! Wie viel Kinder gibt es schon, die nie allein durch einen finstern Wald gegangen, die falschen Augen des Irrlichts nie schauernd geseh’n und die geisternden Nebel des Abhanges. Ein wenig blaß sind viele dieser Schrecknisse geworden, Wolf und Bär, die schlimmen Gesellen, wir kennen sie nurmehr hinter Riegel und Gitter als gefesseltes Tier, Spindel und Kunkel, Armbrust und Felleisen, sie sind uns Begriff bloß, kaum mehr gewärtig im Bild, und die Königssöhne, sie tragen keine Kronen mehr. Immer weiter wandert das Märchen weg von unserer Welt, seine Schrecken sind zahm, seine Wunder – der Flug durch die Luft, die Stimme übers Meer – von der Technik ins Alltägliche niedergerissen. Zu viel Träume hat unsere Zeit, die Wunder zerstörende, schon zu Wirklichkeiten niedergerissen, und sie, die selbst so viele Wunder neu ersinnt, wird sich auch das Märchen neu ersinnen müssen, denn zwischen uns und die alten Märchen schiebt sich die lärmende Stadt, die Eisenbahn saust durch ihre Wälder und überschreit die Stimme der Elfen und der Tiere freundlich Gespräch. Seltsam: sie, die doch ganz Natur sind, muten manchmal schon ein wenig künstlich an, im geschlossenen Zimmer, mitten in der Großstadt gelesen, exotisch scheinen sie, weil sie das ganz Primitive bedeuten. Erst die Natur, ein Blick in den Wald, über die Berge machen sie wieder ganz rein und wahr. Denn wo Natur ist, waltet auch das Wunderbare, und ihre eigene Unbegreiflichkeit beglaubigt die verwegenste Träumerei.
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