Goethes Leben im Gedicht


Zum 28. August 1916


Ins furchtbar Gemeinsame verkettet, ist dem einzelnen für weniges jetzt die Seele ganz frei; der innere Tag, fast jedem ist er genommen vom äußeren Zwang, das gewohnte Tun dem liebsten Wunsch entfremdet und selbst dem Gefühl der reine Ausdruck verwehrt. Freude aus sich hochschweben zu lassen, wie geht es heute an, da der Blick sich umflort an der nahen Tragik einer selbstmörderischen Welt, und der Zorn wiederum, ihm ist das Wort verweigert und der Erbitterung die Sprache erwürgt. Gefangen im stählernen Netz der Zeit sind die Gefühle. In allem ist die Seele behindert und beschränkt, und nur einer Regung vermag sie sich freizuhalten, aber der besten vielleicht: der Dankbarkeit. Wenn jetzt zwischen den gepreßten Stunden eine noch klar und rein herüberglänzt in das Chaos des Geschehens, ihr dankbar zu sein, ist noch verstattet, und sie, die seltene, zu genießen, wird Pflicht und Rettung zugleich.


Solche, jetzt siebenfach kostbare Stunden danke ich einem kleinen Buch, das kürzlich den Weg zu mir gefunden hat und das ich seitdem noch nicht aus meinem Leben ließ. Immer ist es bei mir, denn seine zwei biegsamen Lederbändchen, die auf Dünndruckpapier anderthalbtausend Seiten ohne Zwang zusammenpressen, schmiegen sich leicht der Tasche ein; immer sind sie da, wenn der Wunsch nach ihnen greift, in der Straßenbahn oder auf einem Spaziergang, immer und überall fügen sie sich leicht der tastenden Hand und schlagen sich spendend auf vor dem inneren Blick. Dem ich diese treuen Begleiter im Letzten danke, ihn, der diese wunderbare, ganz einzig handliche Ausgabe der deutschen Klassiker durch seine Initiative und Generosität schuf, ihn findet freilich mein Dank nicht mehr; Alfred Walter Heymel, den Begründer der Großherzog Wilhelm Ernst-Ausgabe deutscher Klassiker, hat der Tod in Flandern vom Sattel gehoben, und auch er, dessen Werk in dieser neuen Form ich in diesen Tagen wie zum erstenmal genieße, auch er, Goethe, ist irdischem Danke entrückt. Der Anlaß ist ins allgemeine zurückgefallen, und so dankt in mir das Gefühl nur dem eigenen Erlebnis.


Nun habe ich’s schon gesagt, daß ich der Neuausgabe von Goethes Gedichten in dieser entzückenden Taschenform seltene und nun siebenfach seltene Freude schulde, aber keineswegs möchte ich’s vordringlich als sonderliche und persönliche Entdeckung rühmen, daß Goethesche Gedichte, wann immer sie wieder einem sich auftun, unendliche Tröstung schaffen, noch mich vermessen, von ihnen etwas Neues und Bedeutsames rühmen zu können. Sie anzupreisen, Goethes Gedichte, tut wahrlich nicht not, dann wer kennt sie nicht? Im flüchtigsten Wort des Gespräches eines jeden von uns ist viel von ihnen geheimnisvoll unbewußt als geprägtes Wort lebendig, Sprichwort und Rede sind getränkt von ihrem Saft, Schrift und Satzbild trächtig von ihren lebendigen Kräften. Mit dem Buchstaben, mit dem Alphabet fast schon lernt der Deutsche sie sich ein, denn schon aus der viereckigen Fibel, die man noch mit kleinen Händen vor dem ungeübten Blick hob, buchstabierte man sich die ersten heraus, das ›Heideröslein‹ etwa oder ›Gefunden‹. Aufsteigend in der Schule, ist man anderen Versen dann vertraut geworden, hat manche selbst vor dem Katheder unsicher und als etwas unwillig Gelerntes gestammelt, hat diese Balladen später vielleicht, getragen vom flügelnden Schlag der Stimme Kainzens, in sich eingeklungen, andere wieder – und von Jahr zu Jahr andere – sich selbst entdeckt beim Schein einer abendlichen Leuchte oder auf einem Gang übers Feld. So allgemein bekannt und vertraut sind sie dem Deutschen Goethes Gedichte, daß der Begriff der Bildung fast bestimmt ist und gebunden an ihre Kenntnis – und doch, und doch, wie konnte es geschehen, daß sie mir diesmal neu wurden, ohne mir je fremd gewesen zu sein, daß ich sie wieder las in dieser Ausgabe wie zum erstenmal und ihnen dankte wie vielleicht nie zuvor? Was hat sie, die immer schon Seelenhaften, nun so seltsam neubeseelt, daß ihr altgewohnter Besitz sich nochmals zurückverwandeln konnte in ein wie erstes Erleben?


Nur ein Geringes ist in dieser neuen Gesamtausgabe anders als in allen bisherigen, nichts ist verwandelt in Gewicht und Gehalt, nur die Form ist leicht gewandelt und – da der Sinn an Formen hängt – mit ihr auch der innere Sinn. Eine kleine Verschiebung, eine anscheinend ganz unbeträchtliche, eine philologische Umstellung ist vorgenommen, aber so wie im Kaleidoskop ein kleiner Ruck genügt, um das farbige Glasmosaik in ein ganz neues Ornament zusammenrieseln zu lassen, so hat hier in dieser neuen Anordnung der kleine Ruck einer liebevoll gewandten Hand den Sinn des Ganzen wesenhaft verwandelt. Bisher waren fast alle Ausgaben entweder Auswahlen, deren Lese und Ordnung der Geschmack und die persönliche Absicht des Wählenden bestimmte, oder sie ordneten sich als Gesamtausgaben jener Gruppierung der Ausgabe letzter Hand nach, die im wesentlichen noch von Goethe selbst herstammt. Dort war die gewaltige Zahl der Gedichte um einzelne Kreise, einzelne Begriffe methodisch gereiht, deren Überschriften »Natur«, »Kunst«, »Antiker Form sich nähernd«, »Gott und Welt« Goethe selbst mit prägnanten Denksprüchen begleitete. Wie ein Blumenstrauß waren dort die Verse zusammengebunden um einen inneren Begriff, das ungeheure lyrische Reich aufgeteilt in einzelne Provinzen der Seele und der Sinne. Hier nun ist die künstlerische Einordnung zerstört, um der Übersicht willen das Organische nicht der Kunst, sondern des Lebens erstrebt. Zum erstenmal in einer Gesamtausgabe erscheinen hier Goethes Gedichte chronologisch geordnet, einzig gereiht nach dem bunt-bedeutsamen Durcheinander ihrer Entstehung. Die kunstvollen Blumensträuße sind wieder aufgebunden und von sorglicher Hand jede einzelne wieder eingesenkt in das Erdreich, in die Landschaft seines zeugenden Lebens, das ordnende Prinzip nicht in der Kunst Goethes, sondern in seiner Existenz gefunden, die wir längst gewohnt sind, selbst als ein Kunstwerk zu betrachten und zu verstehen. Es sind eigentlich nicht Goethes Gedichte mehr, die diese neue Ausgabe uns genießen läßt, sondern Goethes Leben im Gedicht.


Bei jedem anderen Dichter wäre die Zulänglichkeit und Ersprießlichkeit eines solchen Unternehmens, das unscheinbar und bescheiden eine kaum übersehbare Fülle philologischen Fleißes in sich schließt, in Diskussion zu ziehen. Bei Goethe aber, der seinem schöpferischen Werk die Formel fand: »Poetischer Gehalt ist Gehalt des eigenen Lebens«, dient in wunderbarer Wechselwirkung jede Biographie zum Begreifen seines Kunstwerkes, jedes Kunstwerk zum Erfassen seiner irdischen Natur. Bei keinem so sehr wie bei ihm steigert sich das Genießen des Gestalteten so durch die Beziehung auf sein Leben, erklärt sich Bedeutsamstes der inneren Welt so sehr durch äußeren Anlaß. Alles, auch das Entfernteste, hat ja bei ihm Bezug auf Tatsächlichkeiten, und niemand hat es deutlicher als er selbst bekannt, damals im denkwürdigen Gespräche mit Eckermann: »Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte: sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden«, und mit diesem Bekenntnis uns berechtigt, diesen Bezug immer wieder aufs neue zu suchen. Liest man die Gedichte nun zum erstenmal in dieser neuen Ordnung, ganz so wie sie vor einem Jahrhundert Tag um Tag, Jahr um Jahr seiner steigenden und allmählich wieder erstarrenden Schöpfungskraft entquollen sind, so erlebt man sie in einem neuen und viel persönlicheren Sinn als je zuvor, denn alles hat nun Beziehung auf sein Schicksal, spiegelt in leichten oder starken Reflexen fremde Gestalten, Frauen und Landschaften, Stadt und Reisen bis ins einzelne Gedicht hinein. Gleichsam ein Hintergrund ist hinter jedes einzelne gestellt, ein Rahmen jedem Bilde umtan, der seine Farben seltsam verstärkt, und mancher Klang in einem oft gelesenen Vers hat mit einem Male seltsam bewegte Resonanz von verklungenem Leben. Was früher ein Beisammensein war von Gedichten, ist nun eine einzige Wanderschaft durch die gesegneten siebzig Jahre seiner schaffenden Existenz, durch die Landschaft seines unvergleichlichen Lebens.


Wunderbar, wie man sie fühlt, diese Landschaft seines Lebens, geführt vom Gedicht, denn nicht still und kalt liegt sie da, gleichsam in seinem warmen Blute wandern wir hin und spüren nachfühlend die Jahreszeiten des Lebens. Frühling, Sommer, Herbst und Winter ist darin, mit allen Mysterien des Überganges, und gleichzeitig schließt jenes andere Geheimnis sich auf, das Erwachen der Kunst, das Blühen und Erstarren des bildnerischen Triebes mit dem blühenden und wieder erkaltenden Blute. Das erste Blatt gleich das Gelegenheitsgedicht des Achtjährigen an seine Großeltern ›Bey dem erfreulichen Anbruch des 1757. Jahres seinen hochgeehrten und herzlichgeliebten Großeltern von derselben treugehorsamsten Enkel gewidmet‹. Es tut die Frankfurter Kinderstube rührend auf, zeigt wie ein kleines Pastell den Knaben im heimischen Kreis. Ungelenk, starr wie die Schrift auf dem gelblichen Blatt, das im Hause am Hirschgraben zu Frankfurt zu sehen ist, plagt sich der Ausdruck mit vorgezeichneten Formen: wie die Feder der kindischen Hand, so wehrt sich das Wort noch dem Reim. Ein paar Seiten weiter und wir blättern seine Knabenjahre mit, an denen die spielerischen Versuche immer mehr Gelenkigkeit gewinnen, französische und deutsche, englische Gedichtlein fließen flink und sauber von der leichten Schülerhand. Dann plötzlich eine Überschrift: Leipzig, der muntere Vogel ist flügge geworden und aus dem Nest. Mit einmal ist er nun der junge Student, der an der Pleiße zwischen Spaß und Spiel, Kolleg und Tanzen, Reiten und Fechten modische Verslein macht, Verse, die sich bald in Alexandrinerfloskeln verschnüren, mit bunten Schäferbändern behängen, bald wieder im burschikosen Übermut den Mummenschanz sich abreißen und mit derben Reimen wie mit der Peitsche knallen. Unwillkürlich blättert man sich dazu das Silhouettenbildnis des damaligen Studenten Johann Wolfgang auf, das zierliche Bürschchen mit Zopf, Puderquaste und Spazierstock, aus dessen Profil noch ganz der spielerische Knabe lugt, der sich vergnüglich in Klein-Paris die Zeit vertreibt. Man blättert weiter in diesen lyrischen Tändeleien, blättert weiter vorbei an der neuen Jahreszahl, dem neuen Orte Straßburg, um plötzlich in wundervoller Überraschung zu erschrecken. Denn da ist plötzlich ein Gedicht, ein wirkliches Gedicht, das vollendete herrliche Gedicht mit dem strömenden, stürmenden Anfang: »Es schlug mein Herz; geschwind zu Pferde!« Staunend spürt man, hier hat aus losem Spiel plötzlich das ewig-unbegreifliche Wunder in diesem Menschen begonnen, das nicht mehr endet für ihn und nicht mehr für uns, hier ist in diesen Friederiken-Liedern zum erstenmal das deutsche lyrische Gedicht geschaffen und vollendet zugleich. Und von diesem Blatte an, von diesem ersten wahrhaften Gedicht, das den lyrischen Menschen in ihm gleichsam aufgesprengt hat, strömt’s dahin, strömt’s, ein ungeheurer rauschender Bach diese ganzen anderthalbtausend Seiten mit einer Fülle, die immer unbegreiflicher wird an jedem erneuten Erleben. Die wundervollen Jahre kommen, die Jahre von Wetzlar, Frankfurt und Weimar, die frühlingshaft-triebstarken Jahre, die der Alternde dann voll erhabener Wehmut in dem Vorspiel zum ›Faust‹ wieder heraufbeschwor als jene:


Da sich ein Quell gedrängter Lieder
Ununterbrochen neu gebar.


Das Gestirn steigt an zum Mittag des Lebens, weit sind die Fernen erhellt im immer klareren Licht des Erkennens, aller Zeiten und Völker Horizont wölbt sich über der einzelnen Existenz, alle Formen sind gewonnen und aus ihnen die Harmonie. Die unendliche Landschaft der Goetheschen Welt in der Vielfalt seines Gedichts, nun erst, in diesem mählichen Aufstieg vom spielerischen und dumpfen Beginn, nun erst fühlt man sie in ihrer einzigen Gewalt. Und fühlt zugleich schon, wie seine eigene Gestalt in der ungeheuren Allegorie seiner gesteigerten Existenz wieder zu verschwinden beginnt. Der sich in den ersten Blättern dieses Buches so restlos, so leidenschaftlich verriet, allmählich beginnt er sich zu verbergen. Der Weise verschattet den Dichter, der öffentlich wirkende Mensch den stürmenden Gestalter, das Symbol die Anschauung, die Scharade das Geständnis, orphisches Dunkel das bewegte Farbenspiel: wunderbar fühlt man in dem Marmorwerden des Gedichts die erste Kühle vom Alter her, das Erkälten des Blutes im antikisch-orientalischen Formenzwang. Legt man nun ein Bildblatt sich neben das Buch, so ist’s die Abbildung der steinernen Büsten David d’Angers oder Rauchs, das Bildnis des Weisen, dem mehr als vordem das unruhig dunkle Auge nun die hochgewölbte freie Stirn das Antlitz bedeutsam macht. Unmerklich ist man im Blut seiner Gedichte ans Ende seines breitgefügten, ewig fruchtbereiten Lebens mitgealtert, und eben an dieser Sanftheit und Selbstverständlichkeit des Überganges spürt, erlebt man das einzig Organische dieser Existenz, in der sich nichts in starren gewaltsamen Epochen stößt und grenzt, sondern alles in einheitlicher Verknüpfung sich ablöst und steigert. So viel immer auch in ihm neu beginnt, nichts ist doch jemals ganz zu Ende, alles hat seine »Dauer im Wechsel«, und kaum hat man’s je ergreifender gefühlt, wie – er hat es selbst das erhabene Vorrecht der Großen genannt – in dem versteinerten, erstarrenden, einsamen, abseitig sich fördernden Meister die Jugend, die eigene, immer wieder noch einmal anhebt. Man liest die Verse der späten Jahre zu Weimar, bittere Sprüche, marmorne Bildungen starkvergeistigten Gefühls, schon weht’s einen kühl an, da wendet man das Blatt, »Reise nach Franken« steht darauf oder »Reise nach Böhmen« mit einer späten Zahl seines Lebens, und man spürt eine Begegnung, denn in diesen Versen an Marianne v. Willemer oder Ulrike v. Levetzow belebt sich wunderbar noch einmal der lyrische Gestalter in ihm, und staunend erkennt man das Wunder der ewigen Erneuerung des Gefühls. Nie, vom ersten bis zum letzten Blatt, das die mit zitternder Hand in den Märztagen des Todesjahres hingeworfenen Verszeilen birgt, steht man innerlich allein und fremd in dieser ungeheuren Landschaft seines Wirkens, und mit großartiger Geste faßt der Siebzigjährige den ganzen Ertrag dieses Weltblickes in die einzige lyrische Zeile zusammen: »Wie es auch sei, das Leben, es ist gut.«


Dieses tiefe Geheimnis der Selbstverwandlung der Kunst mit dem fortgelebten, von Kindheit zum Alter, ständig belebtem Leben, dieses Geheimnis eines Werkes, das über zwei Menschenalter hin sich wölbt, war schon im ›Faust‹ und im ›Wilhelm Meister‹ uns einmal mitzufühlen gegönnt, in beiden Werken, die seine Jugend begonnen, sein Alter vollendet und sein Leben geschaffen hat. Diese organisch gestaltete Anordnung seiner Gedichte läßt es uns nun zum drittenmal betrachtend fühlen, daß Werk und Leben ein einziges untrennbares, blühendes und langsam welkendes Wesen bei Goethe sind, und niemals hat man es vielleicht besser gefühlt als im vergleichenden Genießen, denn jedes Gedicht ist nun durchtränkt vom Sinn des Ganzen und das Ganze wieder beseelt von jedem einzelnen Vers. Daß auch notwendigerweise das Nichtige einbezogen ist, die zahllosen Verse, in denen das tote Material des Verses und des Reimes in Abwesenheit des produktiven Elements sich gleichsam selbst fortgedichtet hat, gerade dies verinnerlicht und verwahrheitlicht das menschliche Bild, ohne das des Künstlers zu vermindern. Gerade in dem zeitlichen Nebeneinander des großartigen Gedichtes mit den kleinlichsten Gelegenheitsversen mag der Unbelehrte spüren, daß auch in dem gewaltigen Menschen wie im Täglichen auch im Geistigen die niederen Funktionen den erhabenen eng benachbart sind und eben die Gemengtheit des Gestalteten die nur gelegentliche Gegenwart des Genius in der Wirrheit des täglichen Tages zum höheren Wunder macht. Vermenschlichung eines Werkes fördert immer mehr sein letztes Verstehen als seine Vergöttlichung, und diese wird hier geboten durch die Gesamtheit, die wahllose, seiner Verse und die sinnvolle Anordnung in ihrem eigentlichsten Sinne, dem seines eigenen Lebens.


Und dieses Leben Goethes, mehr als je, erneut sich’s in diesen unseren Tagen. Zwei umfassende, breitwuchtige und innerlich tiefgründige Darstellungen, die Houston Stewart Chamberlains und Georg Simmels, haben fast gleichzeitig es in seiner ganzen bedeutsamen Fülle darzustellen versucht, in einem Tafelwerk ›Goethes äußere Erscheinung‹ hat man handlich alle Bilder dem Blick vereint, und in Weimar sind die Kärrner am Königsbau unablässig am Werk. Es galt lange als gute literarische Sitte, ihrer zu spotten, daß sie jeden Waschzettel bergen, jeder Spur bis in Staub und Schutt nachspürten, die er jemals gegangen – mir war’s nie gegeben, diese stille und doch leidenschaftliche Tätigkeit als eine minderwertige zu empfinden, denn jede Hingabe an das Gewaltige will mir fruchtbar erscheinen und gerade diesen regen stillen Menschen danke ich vielfachsten Gewinn. Hans Gerhard Gräf, der diese meisterhafte Anordnung der Gedichte schuf (die auf schwierigsten Konjekturen ruht, auf Entzifferungen mühevollster Art und Forschungen, die über Jahre hingehen), hat in dem neunbändigen Werk ›Goethe über seine Dichtungen‹ ein einziges Kompendium der Selbstbewertung eines Dichters geschaffen, und das nüchterne Diarium, das Kalendarium, das er plant, wird uns – möge er’s doch vollenden! – Tag für Tag dieses exemplarischen Lebens, die ganze Tätigkeit von jedem Morgen zum Abend zeigen und damit dem ewig unverständlichen Geheimnis von Goethes Lebenskunst näher bringen, als jede weitschweifige und geistige Darstellung. Schicht für Schicht bauen dort fleißige Hände die ganze irdische Existenz noch einmal auf, allmählich wandert jedes Blatt, das er geschrieben, jedes Bild, das ihn darstellt, nach Weimar wieder hin, in das Haus, von dem in zahllosen Manifestationen die Flut, die niemüde, seines Wirkens sich ausströmte in die Welt, ebbt sie wieder zurück. Jedes Möbelstück – wie viele mußten zurückgeholt werden aus ihrer Diaspora – steht nun wieder auf dem alten Platze und grüßt die Besucher wie einst, da sie ihn selbst suchten, den Gewaltigen; mitten im Kriege haben die Sorglichen mit deutschem Bedacht dort die Sammlungen von Steinen, Pflanzen, Kameen, an denen er mit so viel Liebe hing, in die er so viel Zeit und suchende Kraft verinnerlicht hat, sichtbar gemacht und damit eine neue Facette seiner Existenz belichtet. Einzelarbeiten scheinen sie alle zu tun und sind doch Wirkende gemeinsamer Tat, denn mehr als ein Denkmal ist es, ein starres, das sie schaffen, die Tat in Weimar gilt im letzten der Erneuerung seiner realen Existenz, einem sichtlichen Symbol seiner inkommensurablen Persönlichkeit. Dort, wo es körperlich verloschen ist, sein Leben, baut es sich geistig aus seinen eigenen Elementen wieder auf, und in dem Maße, als er durch die Zeit, die fühllose, ferner wird, macht ihn sorgliche Hingabe und werktätige Liebe wieder nah.

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