Verse eines Gottsuchers
In »Die Nation«, Ausgabe 23 (1905/06)
Dem vielleicht seltsamsten der deutschen Versbücher, dem ›Cherubinischen Wandersmann‹ des Angelus Silesius ist nun nach zwei Jahrhunderten ein Schwisterkind geworden in dem ›Stundenbuch‹ des Rainer Maria Rilke. Denn dies ist ein Buch, das sich so gar nicht in unsere Lyrik fügen will. Ganz von ferne scheint es zu kommen, losgelöst von Sprache und Form unseres Ausdrucks, ganz vertieft in sich selbst, wie in einen sehr farbigen Traum. Und alle seine Verse, mögen sie den Anbeginn in den flüchtigsten Äußerungen sinnlicher Wahrnehmung nehmen, wachsen – wie Bäume aus der breiten Erde empor in den unsichern Himmel steigen – zu Gott empor. Die vielleicht zweihundert Gedichte des Buches sprechen zu Gott in demütiger, wilder, flehender, drängender, schluchzender Apostrophe. Aller Reichtum, den wir von Rilkes früheren Werken kennen, ist hier in das Wort »Gott« versammelt. Und Melodie, Farbe, Glanz darüber gegossen, daß es immer wieder neu und zwingend wird.
Man wird geneigt sein, diese Gottsuchersehnsucht bei einem so raffinierten Artisten wie Rilke von vornherein als Heuchelei zu betrachten. Frömmigkeit glaubt man nur den Primitiven. Aber die Frage ist reicher an Möglichkeiten der Erklärung, denn Rilkes Religiosität ist nicht Frömmigkeit, sondern Glauben, genießende und im Wort sich erst ganz erfüllende Lebensbewunderung. Er, der sensibelste der deutschen Dichter, zart wie ein vielverästeltes Blatt, das den Tau aus der Luft saugt, die Sonnenstrahlen trinkt und mit fiebernder Faser jeden Atem des Windes, – er hat immer die leiseste Regung bis in die Tiefe der Empfindung getragen, hat der wechselnden Sinne verschiedene Berührung: Ton, Farbe, Duft, Zeichen, Regung, die unsägliche Verschiedenheit der Lebensäußerungen im Gefühle so vermengt, daß sie einander Symbole sein konnten und einander bereichern. Bei dieser immensen Fähigkeit der Verinnerlichung in das Urgefühl mußte nun sich mählich der Sinn für die immanente Einheit aller Dinge entwickeln und aller Eindrücke rauschende Flut einmünden in ein Meer. Und da nimmt er ein Wort und schleudert alles hinein. Oder vielmehr: er schafft sich die Vorstellung des Begriffes, der diese leuchtende Unendlichkeit tragen kann. Und wie er nach einem Namen sucht, der reich genug sein könnte, um Symbol solcher Fülle zu sein, da findet er den Namen Gott. Und schafft Gott um nach seinem Ebenbilde. Silesius war anderen Weg gegangen: er fühlte Gottes Größe, und als er sie zu schildern, nach einem Ausdruck rang, schuf er sich die Kunst, schuf sich zum Dichter aus einem Prediger. Rilke wiederum, von den wunderbar wachsenden Formen seiner Kunst sehnsüchtig gereizt, ihnen im Leben etwas zu nennen, dem sie dienen könnten, denkt an den höchsten Namen, und nun glühen alle seine Farben, singen alle Töne empor in dieses Licht. Wie im Orient die Prediger von den Türmen Gottes Größe in die Ferne rufen, so spricht hier der Dichter, spricht mit jener erhobenen Stimme und doch mit jener leisen Beschämung, die weiß, daß Gott sich nicht aussagen läßt. »Wer Gott beweist, der ist ihm immer fern.« Heftiger als je bei allen Mystikern ist hier der Gedanke ausgesprochen, daß Gott nur in den Erscheinungen erfaßbar ist, nicht in der Essenz, und daß nie das All der Erscheinungen gemeinsam überschaut, also Gott erkannt werden könne. Das hat das Judentum vielleicht am tiefsten von allen Religionen gefühlt, als es verbot, den Namen Gottes jemals hinzuschreiben – eines der schwergesühntesten Verbrechen – und nur gestattete, in der Schrift jenes bekannte Symbol zu gebrauchen. Und das ist Rilkes Werk in diesem Buche auch, Gott unablässig durch Symbole zu erläutern.
»Für dich nur schließen sich die Dichter ein
und sammeln Bilder, rauschende und reiche,
und gehn hinaus und reifen durch Vergleiche
und sind ihr ganzes Leben so allein…
Und Maler malen ihre Bilder nur,
damit du unvergänglich die Natur,
die du vergänglich schufst, zurückempfängst:
alles wird ewig. Sieh’, das Weib ist längst
in der Madonna Lisa reif wie Wein;
es müßte nie ein Weib mehr sein,
denn Neues bringt kein neues Weib hinzu.
Die, welche bilden, sind wie du.«
Aber aus diesen Erläuterungen wächst der Begriff. Jede Farbe, jedes Wort, jede Musik, die ihn wiedergeben will, schafft ihn auch zugleich, und wie das aller Kunst Wunderbarstes ist, daß sie eigentlich nur wiedererzählen und etwas Geschautes nachbilden will und dabei es erst als ein Neues werden läßt – so wächst hier Gott für den Dichter langsam empor. Und im tiefsten fühlt er, daß er ihn schafft, der sich doch von ihm erschaffen fühlt.
»Werkleute sind wir: Knappen, Jünger, Meister
Und bauen dich, du hohes Mittelschiff.«
Und dieser Gedanke der individuellen Gottschöpfung, tausendfach verzweigt mit vielen blütetragenden Ästen durch das Buch, zeitigt die nötige Folgeerkenntnis, daß dieses Gottes Leben an dem eigenen hängt, daß der Gott, der von einem eigen erschaffen ist, nicht über einen hinaus lebt. Und der Dichter bricht in die bange Frage aus:
»Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe?…
… Mit mir verlierst du deinen Sinn.
Nach mir hast du kein Haus, darin
Dich Worte, nah und warm begrüßen.
Es fällt von deinen müden Füßen
Die Samtsandale, die ich bin.«
Das sind jene tiefen und schon in das Dunkel des Unbewußten hinüberzitternden Erkenntnisse, die man für leicht hält, wiegt man sie in der hohlen Hand, leicht wie Edelsteine. Und man ahnt kaum, wieviel harte Berge um sie durchwühlt sein mußten, ahnt nicht die verarbeiteten, verwachten Nächte, die zerschundenen Hände. Man fühlt nur ein Licht darin glänzen und ahnt nicht, daß dies ein geheimnisvolles, dem tiefsten Dunkel entnommenes Licht ist, das erst wieder zu brennen anfängt, wenn eine gleiche Seele es beschaut.
Vielen wird dieses wunderbare Versbuch ganz stumm bleiben. Und wer die Hetzjagd nach gereimter Verstiegenheit durch moderne Bücher liebt, wird hier auf seine Rechnung kommen, denn einzelne Verse – unerhört in der Verwegenheit der Vergleiche – reizen tatsächlich, wenn man sie aus dem Zusammenhang, aus dem Erdreich der dunklen, mystischen Atmosphäre reißt, zur Heiterkeit. Und auch – wie immer – scheint manchmal der wildeste, inbrünstigste Fanatismus in seinem wilden Willen, Gott zu vermenschlichen, ganz an sein Herz zu reißen, fast als Blasphemie. Das ›Stundenbuch‹ verlangt mit Liebe gelesen zu werden. Und vor allem nicht auf einen Zug, sonst macht es müde wie Psalmodieren. Wie ein Gebetbuch, in stiller Stunde, wenn man schon ehrfürchtig bereitet ist, will es aufgeschlagen sein, und dann fühlt man wirklich den Orgelklang von Versen, wie sie keiner – keiner! – heute in Deutschland schöner, voller, klingender und reicher schreibt. Eben weil das breite Publikum an diesem Buch vorübergehen wird, sei es mit allem Nachdruck und mit aller Liebe gesagt: es ist eines der reichsten unserer neuen Poesie, und der Name Rainer Maria Rilkes einer derer, die bleiben werden.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.