An Max Herrmann-Neiße


Salzburg, Kapuzinerberg 5


14. Dez. 1927


Sehr verehrter Herr Max Herrmann!


Ich bitte Sie, an meine Aufrichtigkeit zu glauben, wenn ich Ihnen sage, daß Sie mir eine ganz besondere und ungemeine Freude durch die Übermittlung Ihres Gedichtbuches gemacht haben. Wenn man, wie wir beide, ungefähr gleichaltrig ist und nun schon fünfundzwanzig Jahre einander ab und zu an der Straßenecke der Öffentlichkeit begegnet, kennt man sich von Physiognomie und Profil. Es ist fünfzehn, es ist zwanzig Jahre her, daß ich einige Gedichte von Ihnen besonders liebe, wozu dann noch das Erstaunliche kam, mit welcher Spannkraft und bewundernswerten Kontinuität das Lyrische in Ihnen schöpferisch und intensiv geblieben ist. Wie wenige halten durch, und von diesen wenigen wie Seltene nur vermögen Farbe und Sinn der Zeit noch in sich aufzunehmen.


Es war oft mein Wunsch, Ihnen zu begegnen. Er hat sich nie erfüllt. So war es mir eine besondere Freude, daß Sie mir dieses Buch auf einen (fast schon unter der Last gebrochenen) Weihnachtstisch legten. Es ist mir nicht gegeben, Bücher dieser Art blitzschnell zu lesen und zu beurteilen; in drei oder vier Wochen will ich einmal fort ins Winterliche mit drei oder vier Büchern, und da soll das Ihre dann bestimmt dabei sein, heute schon begrüßt von anspruchsvollstem Vorgefühl. Meine Gegengabe ist beschämend schmächtig: das einzige, was ich neu veröffentlichte, ist das beifolgende kleine Büchlein, das Sie freundlich empfangen mögen.


Mit den besten Grüßen Ihr seit langem und aufrichtig ergebener


Stefan Zweig


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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.