An Rudolf G. Binding


Salzburg, Kapuzinerberg 5


13. IV. 1928


Lieber verehrter Herr Binding, mit einem so illustren Gegner in Freundschaft die Klinge zu kreuzen, tut ritterlich wohl. Nun, ich stehe zu meiner Behauptung (und die Vorrede dieser »Drei Dichter ihres Lebens«, jener typologischen Abwandlung des Problems der Selbstdarstellung erläutert sie ausführlicher). Alle Psychologie lehrt uns, daß Träume gehemmte Wünsche sind, aus der Phantasie vorgetriebene Steigerungen über die Wirklichkeit hinaus: und was wäre Dichten denn wacher Traumakt des Künstlers? Wir steigern uns seelisch und moralisch in Werke über die eigene Unzulänglichkeit empor, wir erfinden Intensitäten des Schicksals, die uns von der Realität nichts gegeben haben: Dichten bedeutet für mich Intensificieren, sei es der Welt, sei es des Ich. Ich bin fest überzeugt, daß der Künstler fast nie so viel groben und factischen Lebensstoff verconsumiert als der Abenteurer und bloße Genußmensch, aber darin fußt ja sein Genie, daß er aus dem Tropfen das Meer, aus der Andeutung die vollendete Form, aus dem Zufall die Notwendigkeit erschafft. Der bloße Genießer muß fressen, um sich wohl zu fühlen, der Dichter, der Phantasiemensch erschafft das Bibelwort der sättigenden Brote täglich neu, er braucht keine ständige Zufuhr, keine breiten Quanten, und er hätte auch gar nicht die Möglichkeit, ständig Neues zu erleben, weil er nicht passiv-weibisch an sich nimmt, sondern auch activ-männlich aus sich selbst schaffen will. Ich hoffe meine Vorrede im Buche, das in vierzehn Tagen in Ihren Händen liegt, wird Ihnen deutlicher machen als dieses Briefblatt, daß ich nicht zwischen Dichten und Erleben einen reinen Gegensatz stelle, sondern zwischen phantasieloses Erleben (grobes Genießen) und dichterisches Erleben (actives Gestalten). Diese Stelle im Casanova ordnet sich dort größerem geistigen Zusammenhang ein, und wir werden die gezückten Klingen hoffentlich dann senken oder gar nach griechischer Heldenart austauschen. Manches wird Sie – daran zweifle ich nicht – noch befremden, so etwa, daß ich das Ideal der Selbstbiographie in einer schrankenlosen, ja sogar schamlosen Aufrichtigkeit sehe und den fast exhibitionistischen Nacktheiten eines Casanova und Hans Jäger allerhöchsten documentarischen Rang in der Weltliteratur zuweise. Aber ich betrachte (im Gegensatz zu Gundolf) den Künstler nicht von der poetischen, der literarischen Sphäre allein her, sondern als Typus, als Geschehnis im Menschlichen. Und da ja der Künstler allein das Menschliche im Menschen verrät (indes die andern Individuen es bloß in ihre Existenz auflösen), so muß er mir als Pegel dienen. Psychologie, dargetan an Gestalten, das wird immer mehr meine Leidenschaft, und ich übe sie abwechselnd an realhistorischen und poetisch-imaginierten Objecten: nun, da dies Werk (dessen Untertitel lautet: »Die Stufen der Selbstdarstellung«) vollendet ist, kehre ich wieder ins Novellistische zurück. Auch in Ihrem Werk und Wesen erkenne ich diese Teilung (oder besser gesagt: Doppelwirksamkeit), nur sind Sie sich des Dichterischen als der entscheidenden Aufgabe entschlossen bewußt (indem mich die Psychologie, die reine Seelenwissenschaft, immer gefährlicher in ihre Labyrinthe lockt).


Wie gut die Gelegenheit, Ihnen wiederum sagen zu dürfen, daß ich Sie ehre und liebe. Möge Ihnen der Frühling ein paar neue Lieder zaubern und die Sonne Ihre Prosa keltern: Sie wissen, als Feinschmecker liebe ich diese unter allen deutschen mit jener Carossas am meisten.


Dank und Gruß Ihres getreu ergebenen


Stefan Zweig


Das Buch kommt in vierzehn Tagen! Ich bin eben erst von Paris zurück.


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