Gefährliche Begegnung
Ach, wär ich nie in eure Schulen gegangen.
Hyperion
Das erste in Hölderlins Entschluß zur Freiheit ist der Gedanke an das Heroische des Lebens, der Wille, das »Große« zu suchen. Doch ehe er sich vermißt, es in der eigenen Brust zu entdecken, will er »die Großen« sehen, die Dichter, die heilige Sphäre. Nicht Zufall treibt ihn gerade nach Weimar: dort sind Goethe und Schiller und Fichte und ihnen zur Seite wie die leuchtenden Trabanten um die Sonne Wieland, Herder, Jean Paul, die Schlegels, Deutschlands ganzer geistiger Sternenhimmel. Solche gesteigerte Atmosphäre zu atmen, sehnt sich sein allem Unpoetischen geradezu gehässiger Sinn: hier hofft er antikische Luft nektarisch einzusaugen und in dieser Agora des Geistes, in diesem Kolosseum dichterischen Ringens die eigene Kraft zu erproben.
Solchem Ringen aber will er sich erst bereiten, denn der junge Hölderlin fühlt sich geistig, fühlt sich gedanklich und im Sinne der Bildung nicht vollwertig neben Goethes umspannendem Weltblick, neben Schillers »kolossalischem«, in gewaltigen Abstraktionen wirkendem Geiste. So meint er – der ewig waltende deutsche Irrtum! – sich systematisch »bilden«, Philosophie in Kollegien »belegen« zu müssen. Genau wie Kleist vergewaltigt auch er seine durchaus spontane, exaltive Natur durch den zwanghaften Versuch, seine Himmel sich metaphysisch zu erläutern, seine dichterischen Pläne mit Doktrinen zu unterlegen. Ich fürchte, es ist noch niemals mit dem notwendigen Freimut ausgesprochen worden, wie verhängnisvoll damals nicht nur für Hölderlin, sondern für die ganze deutsche dichterische Produktivität die Begegnung mit Kant, die Beschäftigung mit der Metaphysik geworden ist.
Und mag auch die traditionelle Literaturlehre es auch ferner noch als herrlichen Höhepunkt feiern, daß die deutschen Dichter damals Kants Ideen eilig in ihre dichterischen Bezirke aufnahmen – ein freier Blick muß endlich wagen, die verhängnisvollen Schäden dieser dogmatisch-grüblerischen Invasion festzustellen. Kant hat – ich spreche hier eine streng persönliche Überzeugung aus – die reine Produktivität der klassischen Epoche, die er mit der konstruktiven Meisterschaft seiner Gedanken überwältigte, unendlich gehemmt, der Sinnlichkeit, der Weltfreudigkeit, dem Freilauf der Phantasie bei allen Künstlern durch die Ablenkung auf einen ästhetischen Kritizismus unendlichen Abbruch getan. Er hat jeden Dichter, der sich ihm hingab, im rein Dichterischen dauerhaft gehemmt und wie könnte auch ein Nur-Gehirn, ein Nur-Geist, ein solcher gigantischer Eisblock jemals wirkliche Fauna und Flora der Phantasie befruchten, wie könnte dieser steife, lebensloseste Mensch, der sich zum Automaten des Denkens entpersönlicht hatte, von diesem Manne, der nie eine Frau berührte, nie den Umkreis seiner Provinzstadt überschritt, der jedes Zähnchen seines Tageräderwerkes um die gleiche Stunde durch fünfzig, nein durch siebzig Jahre automatisch kreisen ließ – wie könnte, so frage ich, eine solche Nichtnatur, ein dermaßen unspontaner, selbst zu einem starren System gewordener Geist (dessen Genialität eben in dieser fanatischen Konstruktivität beruht) jemals den Dichter fördern, den sinnlichen, vom heiligen Zufall des Einfalls beschwingten, von der Leidenschaft ständig ins Unbewußte getriebenen Menschen? Kants Einfluß zieht die Klassiker von ihrer ursprünglichsten Leidenschaft ab und unmerklich in einen neuen Humanismus hinein, in eine Gelehrtenpoesie. Oder ist es im letzten nicht unendlichster Blutverlust für die deutsche Dichtung gewesen, wenn Schiller, der Former der bildhaftesten deutschen Gestalten, sich ernst im Gedankenspiel abmüht, die Dichtung in Kategorien zu spalten, in naive und sentimentalische, und wenn Goethe mit den Schlegels über klassisch und romantisch dissertiert? Ohne es zu wissen, ernüchtern sich die Dichter an der Überhelle des Philosophen, an dem kalten rationalistischen Licht, das von diesem systematischen, kristallinisch gesetzhaften Geiste ausgeht, gerade wie Hölderlin nach Weimar kommt, hat Schiller schon die Rauschkraft seiner frühen, seiner dämonischen Inspiration verloren und Goethe (dessen gesunde Natur mit einem urtümlichen Feindschaftsinstinkt gegen alles systematisch Metaphysische tätig reagierte) sich mit seinem Hauptinteresse der Wissenschaft zugewandt. In welchen rationalistischen Sphären ihre Gedanken kreisten, zeugt heute noch ihr Briefwechsel, dieses herrliche Dokument vollendeten Welterfassens, aber doch unendlich eher der Briefwechsel zweier Philosophen oder Ästhetiker als dichterische Konfession: das Poetische ist in jenem Augenblick, da Hölderlin zu den Dioskuren tritt, unter der magnetischen Konstellation Kants vom Mittelpunkte abgerückt und an die Außenperipherie ihrer Persönlichkeit geschoben. Eine Epoche des klassischen Humanismus hat begonnen, nur daß, im verhängnisvollen Gegensatz zu Italien, die gewaltigsten Geister der Epoche nicht wie Dante und Petrarca und Boccaccio aus der kühlen Welt der Gelehrsamkeit in die dichterische Sphäre flüchten, sondern daß Goethe und Schiller aus ihrer göttlichen Gestaltungswelt in die kältere der Ästhetik und Wissenschaft für (unwiederbringliche) Jahre zurücktreten.
So wächst auch in allen Jüngeren, die zu jenen als den Meistern aufgesehen haben, der verhängnisvolle Wahn, sie müßten »gebildet«, müßten »philosophisch geschult« sein. Novalis, dieser engelhaft abstrakte Geist, Kleist, dieser schwelgerische Triebmensch, beides Naturen, denen die konkrete Geisteskälte Kants und all der Spekulativen nach ihm absolut kontrapunktisch entgegengesetzt war, werfen sich aus einem Unsicherheitsgefühl – nicht aus einem Instinkt – in das ihnen feindliche Element. Und auch Hölderlin meint, sich verpflichtet zu sein, den ästhetisch-philosophischen Jargon der Zeit zu reden, und alle Briefe aus der Jenenser Epoche sind voll von schalen Begriffsdeuteleien, von jenen rührend kindlichen Anstrengungen des Philosophierenwollens, das so sehr wider sein tieferes Wissen, sein unendliches Ahnen war. Denn Hölderlin ist geradezu der Typus eines illogischen, ja unintellektuellen Geistes, seine Gedanken, oft großartig wie Blitze aus irgendeinem Himmel der Genialität niederzuckend, bleiben absolut paarungsunfähig, ihr magisches Chaos widerstrebt jeder Bindung und Verflechtung. Was er vom »bildenden Geiste« sagt:
Nur was blühet, erkenn ich,
Was er sinnet, erkenn ich nicht,
das deutet ahnungsvoll seine Grenze: nur die Ahnung des Werdens vermag er auszudrücken, nicht die Schemata, die Begriffe des Seins zu gestalten. Hölderlins Ideen sind Meteore – Himmelssteine und nicht Blöcke aus einem irdischen Steinbruch, mit geschliffenen Kanten zu einer starren Mauer (jedes System ist eine Mauer) zu schichten. Sie liegen frei in ihm, wie sie niederstürzen, er braucht sie nicht zu formen, nicht zu schleifen; und was Goethe einmal von Byron sagt, trifft tausendmal besser auf Hölderlin zu: »Er ist nur groß, wenn er dichtet. Wenn er reflektiert, ist er ein Kind.« Dieses Kind aber setzt sich in Weimar auf Fichtens, auf Kantens Schulbank und würgt so verzweifelt mit Doktrinen, daß Schiller selbst ihn mahnen muß: »Fliehen Sie womöglich die philosophischen Stoffe, sie sind die undankbarsten…, bleiben Sie der Sinnenwelt näher, so werden Sie weniger in Gefahr sein, die Nüchternheit in der Begeisterung zu verlieren.« Und es dauert lange, bis Hölderlin die Gefahr der Nüchternheit gerade im Irrgarten der Logik erkennt, das feinste Barometer seines Wesens, die sinkende Produktion erst zeigt ihm an, daß er, der Flugmensch, in eine Atmosphäre geraten ist, die auf seine Sinne drückt. Dann erst stößt er gewaltsam die systematische Philosophie von sich: »Ich wußte lange nicht, warum das Studium der Philosophie, das sonst den hartnäckigen Fleiß, den es erfordert, mit Ruhe belohnt, warum es mich, je uneingeschränkter ich mich ihm hingab, nur um so friedloser und selbst leidenschaftlich machte. Und ich erkläre es mir jetzt daraus, daß ich in höherem Grade, als es nötig war, mich von meiner eigentümlichen Neigung entfernte.«
Aber die zweite, die gefährlichere Enttäuschung kommt von den Dichtern. Boten des Überschwangs waren sie ihm von ferne erschienen, Priester, die das Herz aufhoben zum Gotte: er hoffte erhöhte Begeisterung von ihnen, von Goethe und insbesondere von Schiller, den er nächtelang im Tübinger Stift gelesen und dessen »Carlos« die »Zauberwolke seiner Jugend« gewesen. Sie sollen ihm, dem Unsicheren, geben, was einzig das Leben verklärt, Aufschwung ins Unendliche, erhöhte Feurigkeit. Aber hier beginnt der ewige Irrtum des zweiten und dritten Geschlechts zu den Meistern: sie vergessen, daß die Werke ewig jung bleiben, daß am Vollendeten die Zeit vorbeirinnt wie Wasser am Marmor, ohne sich zu trüben, daß aber die Dichtermenschen selbst inzwischen altern. Schiller ist Hofrat geworden, Goethe Geheimrat, Herder Konsistorialrat, Fichte Professor: sie sind alle schon in ihr Werk gebannt, im Leben verankert, und nichts ist dem vergeßlichen Wesen, dem Menschen, vielleicht so fremd wie die eigene Jugend. So wird das Mißverstehen schon durch die Jahre prädestiniert: Hölderlin will von ihnen Begeisterung, und sie lehren ihn Bedächtigkeit, er begehrt an ihrer Nähe stärker zu flammen, und sie dämpfen ihn zu milderem Licht. Er will Freiheit von ihnen gewinnen, die geistige Existenz, und sie mühen sich, ihm eine bürgerliche Stelle zu besorgen. Er will sich ermutigen zu dem ungeheuren Schicksalskampf, und sie bereden ihn (gutmeinendst) zu einem billigen Frieden. Er will sich heiß, und sie wollen ihn kühl: so verkennt sich bei aller geistigen Neigung und privater Sympathie das erhitzte und das erkaltete Blut in ihren Adern.
Schon die erste Begegnung mit Goethe ist symbolisch. Hölderlin besucht Schiller, trifft dort einen älteren Herrn, der kühl eine Frage an ihn richtet, die er gleichgültig beantwortet – am Abend erst erschreckend erfahrend, daß er zum erstenmal Goethe gesehen. Er hat Goethe nicht erkannt – damals nicht und im geistigen Sinn niemals – und Goethe niemals ihn: außer im Briefwechsel mit Schiller erwähnt ihn in fast vierzig Jahren Goethe nie mit einer Zeile. Und Hölderlin wiederum war so einseitig zu Schiller hingezogen, wie Kleist zu Goethe: beide zielen sie nur auf den einen der Dioskuren mit ihrer Liebe und mißachten mit der eingeborenen Ungerechtigkeit der Jugend den andern. Nicht minder verkennt Goethe wiederum Hölderlin, wenn er schreibt, es drücke sich in seinen Gedichten »ein sanftes, in Genügsamkeit sich auflösendes Streben aus«, und er mißversteht Hölderlins, des Ungenügsamsten, tiefste Leidenschaft, wenn er an ihm »eine gewisse Lieblichkeit, Innigkeit, Mäßigkeit« rühmt und ihm, dem Schöpfer der deutschen Hymne, nahelegt, »besonders kleine Gedichte zu machen«. Die ungeheure Witterung für das Dämonische versagt hier bei Goethe vollkommen, deshalb entbehrt seine Beziehung zu Hölderlin auch der üblichen Heftigkeit der Abwehr: es bleibt bei einer milden gleichgültigen Bonhomie, ein kühles Vorbeistreifen ohne tieferen Blick, das Hölderlin so tief verletzte, daß noch der längst in Dunkelheit Verfallene (der im Wahnsinn noch dumpf vergangene Neigung und Antipathie unterschied) sich zornig abwandte, wenn ein Besucher Goethes Namen aussprach. Er hatte die gleiche Enttäuschung erlebt wie alle deutschen Dichter der Zeit, jene Enttäuschung, die Grillparzer, gekühlter im Empfinden und gewohnter, sich zu verbergen, endlich klar formulierte: »Goethe hat sich der Wissenschaft zugewandt und forderte in einem großartigen Quietismus nur das Gemäßigte und Wirkungslose, indes in mir alle Brandfackeln der Phantasie sprühten.« Selbst der Weiseste war nicht so weise, um alternd zu verstehen, daß Jugend nur ein anderes Wort ist für Überschwang.
Hölderlins Verhältnis zu Goethe ist also ein durchaus organisch unverbundenes: es hätte nur gefährlich werden können, wenn Hölderlin Goethes Ratschläge befolgt und sich zum Idyllischen, zum Bukolischen folgsam temperiert hätte: sein Widerstand gegen Goethe ist darum Selbstrettung im höchsten Sinn. Tragisch dagegen und Sturm bis hinab in die Wurzeln seines Wesens wird die Beziehung zu Schiller, denn hier muß sich der Liebende gegen den geliebtesten Menschen, das Gebilde gegen seinen Bildner, der Schüler wider den Lehrer behaupten. Die Verehrung für Schiller ist das Fundament seiner Weltbeziehung, darum droht auch seine ganze Welt mit der tiefen Erschütterung zu stürzen, die Schillers zweifelnde, laue und ängstliche Haltung in seiner empfindlichen Psyche hervorruft; aber dieses Mißverstehen Schillers und Hölderlins ist eines höchster ethischer Ordnung, an liebender Abwehr, an schmerzlichem Losreißen einzig jenem Nietzsches von Wagner gleich. Auch hier überwindet der Schüler den Meister zugunsten der Idee und wahrt lieber die höchste Treue, die zum Ideal, als jene der bloßen Gefolgschaft. In Wahrheit bleibt Hölderlin Schiller treuer als Schiller sich selbst.
Denn wohl ist Schiller in jenen Jahren noch Herr seines bildenden Sinns, noch geht rauschend jenes unvergleichliche Pathos der Rede bis in das Herz der deutschen Nation: aber dennoch hat sich die sinnliche Abkältung ins Geistige, das Entjugendlichen bei dem bresthaften, an Krankenstuhl und Stube gebundenen Dichter früher vollzogen als bei dem älteren Goethe. Nicht daß sich Schillers Enthusiasmus verflüchtigt hätte oder verkleinert – er hat sich nur theoretisiert, die aufschäumende rebellische Träumerkraft des In-Tyrannos-Schillers sich gestaltend kristallisiert in eine »Methodik des Idealismus«; aus einer Feuerseele ward eine Feuersprache, aus Gläubigkeit ein bewußter Optimismus, der dann nur einen Handgriff braucht, um als der deutsche Liberalismus bürgerlich handlich zu sein. Schiller erlebt nur noch mit dem Geiste, nicht mehr mit der »Unteilbarkeit« (die Hölderlin fordert) des ganzen Seins, der aufgebotenen Existenz. Und es muß eine seltsame Stunde für den ehrlichen klaren Mann gewesen sein, als Hölderlin zum erstenmal vor ihn tritt. Denn dieser Hölderlin ist ja sein ureigenstes Geschöpf: nicht daß er ihm bloß die Form des Verses und die geistige Orientierung dankt, sondern sein ganzes Denken ist seit Jahren ausschließlich nur von den Ideen Schillers, von seinem Glauben an die Erhöhung der Menschheit genährt. Er ist vollkommen von ihm dichterisch gezeugt und gestaltet, so sehr sein ideelles Produkt wie die andern Schwärmerjünglinge, wie der Marquis Posa und Max Piccolomini: so erkennt er in Hölderlin seine eigene Übersteigerung, sein menschgewordenes Wort. Alles, was Schiller von dem Jüngling gefordert, Begeisterung, Reinheit, Überschwang, das ist bei Hölderlin Leben geworden, dieser junge Schwärmer lebt das Schillersche Postulat der idealischen Forderung als Existenz. Hölderlin lebt den Idealismus, den Schiller nur noch rhetorisch-dogmatisch fordert, er glaubt an die Götter und das Griechenland, die für Schiller längst bloß großartige dekorative Allegorien wurden, er erfüllt die Mission des Dichters, die jener nur schwärmend postuliert. In Hölderlin werden seine eigenen Theorien, seine Ahnungen plötzlich leibhaft sichtbar: darum dies geheime Erschrecken Schillers, als er den Jüngling, seinen Dichterjüngling, zum erstenmal leibhaft sieht, sein postuliertes Ideal als lebendigen Menschen. Er erkennt ihn sofort: »Ich fand in diesen Gedichten viel von meiner eigenen Gestalt, und es ist nicht das erste Mal, daß mich der Verfasser an mich mahnte«, schreibt er an Goethe, und mit einer gewissen Rührung beugt er sich zu dem äußerlich so demütigen, innerlich aber lodernden Menschen wie in den Rückschein eigenen erloschenen Jugendfeuers. Aber gerade diese vulkanische Feurigkeit, dieser Enthusiasmus (den er dichterisch unablässig propagiert) erscheint dem gereiften Manne als gefährlich für den normalen Lebenszustand: Schiller kann an Hölderlin menschlich nicht gutheißen, was er dichterisch gefordert, den schäumenden Überschwang, das Auf-eine-Karte-Setzen der ganzen Existenz, und so muß er – tragischer Zwiespalt – seine eigene Gestalt, den idealischen Schwärmer, als lebensunfähig ablehnen. Sein profunder Blick wird sofort gewahr, daß jener Idealismus, den er von den deutschen Jünglingen gefordert, nur in einer idealischen Welt, im Drama, am Orte sei, daß aber hier, in Weimar und Jena, diese poetische Unbedingtheit, diese dämonische Nicht-Konzilianz des inneren Willens einen jungen Menschen zerstören müsse. »Er hat eine heftige Subjektivität – sein Zustand ist gefährlich, da solchen Naturen schwer beizukommen ist«: wie von einer abstrusen Erscheinung spricht er von dem »Schwärmer« Hölderlin, fast genau also wie Goethe vom »pathologischen« Kleist; beide erkennen sie bei beiden sofort intuitiv den vorbrechenden Dämon, die explosive Gefahr der überhitzten und gestauten Innerlichkeit. Während Schiller aber in der Dichtung solche Heldenjünglinge lyrisch emportreibt und in ihr Übermaß selig hineinstürzen läßt, hinab in den Abgrund ihres Gefühls, sucht im realen Leben der gutmütige, freundliche Mann Hölderlin zu mäßigen. Er bemüht sich für seine private, seine bürgerliche Existenz, verschafft ihm Stellung und seinem Werke einen Verlag – mit innerster Herzensneigung fördert ihn Schiller in geradezu väterlicher Weise. Und, um die gefährliche Spannung des Überschwangs in ihm zu lockern und zu lindern, um ihn »vernünftig zu machen«, drückt er (bei aller Neigung) sanft und planmäßig auf sein Emporstreben, ohne zu ahnen, wie schon leisester Druck diesen Empfindsamen zerbrechen kann. So verwirrt sich allmählich die beiderseitige Stellung: Schiller spürt über Hölderlins Haupt mit dem tiefen Blick des Schicksalbildners das Beil der Selbstvernichtung drohen – Hölderlin fühlt sich wieder von dem »einzigen Manne, an den er seine Freiheit verloren«, von Schiller, »von dem er unabwendig dependiert«, wohl im äußeren Sinne gefördert, doch im tiefsten Wesen nicht verstanden. Er hatte Aufschwung erhofft, Bestärkung – »ein freundlich Wort aus eines tapferen Mannes Herzen ist wie ein geistig Wasser, das aus der Tiefe der Berge quillt und die geheime Kraft der Erde uns mitteilt in seinem kristallenen Tropfen«, sagt Hyperion –; aber sie geben beide nur, Schiller und Goethe, tropfenweise und lau ihre Zustimmung. Niemals teilen sie verschwenderisch Begeisterung aus und entflammen ihm das Herz. So wird Schillers Nähe bei aller Beglückung allmählich zur Qual für Hölderlin: »Ich war immer in Versuchung, Sie zu sehen, und sah Sie immer nur, um zu fühlen, daß ich Ihnen nichts sein konnte«, schreibt er ihm aus einem innern, schmerzvollen Abschied. Und endlich spricht er die Dissonanz seines Gefühls offen aus: »deswegen darf ich Ihnen wohl gestehen, daß ich zuweilen in geheimem Kampfe mit Ihrem Genius bin, um meine Freiheit gegen ihn zu retten«. – Sein Tiefstes, so erkennt er, darf er ihm nicht mehr anvertrauen, der seine Gedichte bekrittelt, seine Überschwänge dämpft, der ihn klein, lau haben will, nicht »subjektivistisch und überspannt«. Aus Stolz inmitten seiner Demut verbirgt er vor Schiller seine wesenhafteren Gedichte, zeigt nur das Spielhafte, das Epigrammatische seiner Produktion, denn ein Hölderlin kann sich nicht wehren, nur beugen und verbergen, das ist seine ewige Haltung. Er bleibt vor den Göttern seiner Jugend ewig auf den Knien: nie schwindet die Verehrung, die Dankbarkeit für jenen, der die »Zauberwolke seiner Jugend« gewesen und seiner Stimme den Gesang geliehen. Und Schiller beugt sich ab und zu mit gefällig förderndem Wort, und Goethe geht freundlich-gleichgültig vorbei. Aber sie lassen ihn liegen auf seinen Knien, bis ihm der Rücken bricht.
So wird die ersehnte Begegnung mit den Großen zu Verhängnis und Gefahr, das freie Jahr in Weimar, von dem er Vollendung der Werke geträumt, fast vergebens vertan. Die Philosophie – dieses »Hospital für verunglückte Poeten« – hat ihn nicht gefördert, die Dichter ihn nicht erhoben: ein Torso ist Hyperion geblieben, das Drama nicht geendet und trotz äußerster Sparsamkeit seine Mittel erschöpft. Die erste Schlacht um sein Schicksal als dichterische Existenz scheint verloren, denn Hölderlin muß wieder der Mutter zur Last fallen und mit jedem Bissen Brot heimlichen Vorwurf mitwürgen. Aber in Wahrheit hat er gerade in Weimar seine größte Gefahr sieghaft bestanden: er hat sich nicht abbringen lassen von der »Unteilbarkeit der Begeisterung«, nicht mäßigen und temperieren, wie jene Wohlmeinenden es wollten. Sein Genius hat sich in seinem tiefsten Element behauptet und gegen alle Klugheit der Dämon ihm eine Unbelehrbarkeit des Instinkts gegeben. So erwidert er Schillers und Goethes Bemühungen, ihn zum Idyllischen, zum Bukolischen, zum Maßvollen dauernd niederzukämpfen, nur mit wilderem Ausbruch. Der Goetheschen Mahnung an die Poesie im Euphorion:
Nur mäßig! mäßig!
Nicht ins Verwegne,
Daß Sturz und Unfall
Dir nicht begegne…
Bändige! bändige,
Eltern zuliebe,
Überlebendige,
Heftige Triebe!
Ländlich im stillen
Ziere den Plan,
diesem Ratschlag zum poetischen Quietismus, zur Idyllik, antwortet er leidenschaftlich:
Was sänftiget ihr dann, wenn in den Ketten
Der ehrnen Zeit die Seele mir entbrennt,
Was nehmt ihr mir, den nur die Kämpfe retten,
Ihr Weichlinge, mein glühend Element?
Dies »glühend Element«, die Begeisterung, in der Hölderlins Seele lebt wie der Salamander im Feuer, ist rein zurückgebracht aus der Versuchung der Klassikerkühle – schicksalstrunken wirft er, »den nur Kämpfe retten«, sich ein zweites Mal ins Leben hinaus, und
in solcher Esse wird dann
Auch alles Lautre geschmiedet.
Was ihn zerbrechen soll, härtet ihn zuvor, und was ihn härtet, zerbricht ihn.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.