Die Nachfolge


Immer entsteht geistige Tragik, wenn ein Fund genialer ist als sein Finder, wenn ein Gedanke, den ein Künstler, ein Forscher faßt, ihm nicht faßbar wird und er ihn halbgestaltet aus den Händen lassen muß. So Mesmer. Er hat eines der wichtigsten Probleme der Neuzeit angepackt, ohne es zu bewältigen, er hat eine Frage in die Welt geworfen und sich selbst vergeblich um die Antwort gequält. Aber Fehlgänger, ist er doch immerhin Vorausgänger, Wegbahner und Zielbereiter, denn unleugbare Tatsache: alle psychotherapeutischen Methoden von heute und ein gut Teil aller psychotechnischen Probleme gehen kerzengerade auf diesen einen Mann, Franz Anton Mesmer, zurück, der als erster sichtbar die Gewalt der Suggestion mit einer zwar anfängerischen und umwegigen Praxis bewiesen, aber doch immerhin bewiesen gegen das Gelächter, den Hohn und die Verachtung einer bloß mechanischen Wissenschaft. Dies allein erhebt schon sein Leben zur Leistung, sein Geschick in die Geschichte.


Mesmer hat als erster geschulter Arzt der Neuzeit die Wirkung erlebt und immer wieder hervorgerufen, die von einer suggestiven Persönlichkeit, von ihrem Nahsein, Sprechen, Reden und Befehlen auf erschütterte Kranke heilsam ausgeht – er vermochte sie nur nicht zu deuten und sah in dieser ihm unverständlichen seelischen Mechanik noch mittelalterliche Magie. Ihm fehlt (wie allen seinen Zeitgenossen) der entscheidende Begriff der Suggestion, jener seelisch heilkräftigen Kraftübertragung, die (über diesen Punkt gehen noch heute die Meinungen auseinander) entweder durch Fernwirkung des Willens oder durch Ausstrahlung eines inneren Fluids sich vollzieht. Seine Schüler rücken schon näher an das Problem heran, jeder von einer anderen Richtung: es bildet sich eine sogenannte fluidistische und eine animistische Schule; Deleuze, der Vertreter der fluidistischen Theorie, bleibt Mesmers Anschauung von der Ausdünstung eines körperlichen Nervenstoffes, einer Substanz getreu, er glaubt – wie die Spiritisten an die Telekinese und manche Forscher an die Odlehre –, daß tatsächlich eine organische Absonderung unseres körperlichen Ichstoffes möglich sei. Der animistische Schüler Mesmers, der Chevalier Barbarin, leugnet wieder jede Stoffübertragung des Magnetiseurs auf den Magnetisierten und sieht nur eine rein seelische Weiterleitung des Willens in das fremde Bewußtsein. So benötigt er gar nicht die Mesmersche Hilfshypothese des unergründlichen Fluids. »Croyez et veuillez« ist seine ganze Zauberformel – eine Auffassung, die dann die Christian Science, die Mind Cure und Coué glatt übernehmen. Immer mehr aber dringt seine psychologische Erkenntnis durch, daß Suggestion einer der entscheidendsten Machtfaktoren aller seelischen Beziehungen sei. Und diesen Prozeß des Willenszwanges, der Willensvergewaltigung, kurzweg der Hypnose, stellt 1843 Braid in seiner »Neurypnologie« endlich experimentell und völlig unwidersprechlich dar. Schon einem deutschen Magnetiseur namens Wienholt war es 1818 aufgefallen, daß sein Somnambule rascher einschlief, sobald er selbst einen bestimmten Rock mit glänzenden Glasknöpfen trug. Aber dieser ungelehrte Beobachter entdeckte da noch nicht den entscheidenden Zusammenhang, daß durch diese Ablenkung des Auges auf das Glänzende die Müdigkeit des äußeren Sinnes und damit die innere Nachgiebigkeit des Bewußtseins gefördert werde. Braid übt nun als erster praktisch die Technik, durch kleine, blitzende Kristallkugeln den Blick des Mediums voraus zu ermüden, ehe er mit seinen suggestiven Streichungen einsetzt: damit ist die Hypnose als technische und geheimnislose Handlung und Behandlung in die so lange mißtrauische Wissenschaft eingeführt. Zum erstenmal wagen jetzt Universitätsprofessoren in Frankreich – allerdings vorerst nur bei Geisteskranken – den verlästerten und verfemten Hypnotismus im Hörsaale anzuwenden, Charcot in der Salpêtrière in Paris, Bernheim an der Fakultät von Nancy. Am 13. Februar 1882 wird (freilich ohne auch nur mit einer Silbe des ungerecht Abgewiesenen Erwähnung zu tun) Mesmer in Paris rehabilitiert, indem die Suggestion – vormals Mesmerismus genannt – als wissenschaftliches Hilfsverfahren von derselben Fakultät anerkannt wird, die ihn hundert Jahre lang in die Acht getan hat. Nun der große Bann gebrochen ist, stürmt die lange gehemmte Psychotherapie von Erfolg zu Erfolg. Als Schüler Charcots kommt ein junger Nervenarzt, Sigmund Freud, an die Salpêtrière und lernt dort die Hypnose kennen – sie wird ihm zur Brücke, die er bald hinter sich verbrennt, sobald er das Reich der Psychoanalyse betreten, auch er also im dritten Erbschaftsgrad noch Fruchtgenießer von Mesmers scheinbar ins Dürre geschleudertem Samen. Ebenso schöpferisch wirkt sich der Mesmerismus auf die religiösen und mystischen Seelenbewegungen der Mind Cure und der Autosuggestion aus. Nie hätte Mary Baker-Eddy ihre Christian Science begründen können ohne Kenntnis des »veuillez et croyez«, ohne die Überzeugungstherapie Quimbys, der seinerseits wieder vom Mesmer-Schüler Poyen seine Anregung empfing. Undenkbar wäre der Spiritismus ohne die von Mesmer zuerst angewendete Kette, ohne den Begriff der Trance und der damit verbundenen Hellsichtigkeit, undenkbar die Blavatsky und ihre theosophische Gilde. Alle okkulten Wissenschaften, alle telepathischen, telekinetischen Experimente, die Hellseher, die Traumsprecher stammen in letzter Linie aus Mesmers »magnetischem« Laboratorium. Eine ganz neue Art der Wissenschaft beginnt aus der verlästerten Überzeugung dieses verschollenen Mannes, man könne durch suggestive Einwirkung die Seelenkräfte im Menschen zu Leistungen steigern, wie sie durch schulmäßig medizinische Behandlung nie erreichbar seien, – eines Mannes, der redlich in seinem Wollen, richtig in seinem Ahnen war und nur irrig im Erklärungsversuch seiner eigenen wichtigen Tat.


Aber vielleicht – wir sind vorsichtig geworden in einer Zeit, da eine Entdeckung die andere überrennt, da die Theorieen von gestern schon über Nacht welk werden und jahrhundertealte sich plötzlich erneuern – vielleicht irren sogar diejenigen, die heute noch hochmütig Mesmers bestrittenste Idee eines übertragbaren, von Mensch zu Mensch strömenden Persönlichkeitsfluidums ein Phantasma nennen, denn möglicherweise verwandelt sie die nächste Weltstunde unvermutet in Wahrheit. Wir, denen ohne Draht und Membran ein gesprochenes Wort in eben derselben Sekunde aus Honolulu oder Kalkutta ins Ohr schwingt, wir, die wir den Äther von unsichtbaren Sendungen und Wellen durchschüttert wissen und gerne glauben, daß noch unzählige solcher Kraftstationen von uns ungenützt und unerkannt im Kosmischen wirken, wir haben wahrhaftig nicht mehr den Mut, von vornherein die Anschauung abzulehnen, daß von lebendiger Haut und erregtem Nerv beeinflussende Strömungen ausgehen, wie sie Mesmer unzulänglich »magnetische« nannte, daß in den Beziehungen von Mensch zu Mensch vielleicht nicht doch ein Prinzip, ähnlich dem »animalischen Magnetismus« wirksam sei. Denn warum sollte die menschliche Körpernähe, dieselbe, die einer erloschenen Perle wieder den Glanz und die leuchtende Lebenskraft erneut, nicht tatsächlich eine Aura von Wärme oder Strahlung um sich entwickeln können, die auf andere Nerven erregend oder beruhigend wirkt? Warum nicht wirklich zwischen Körpern und Seelen sich geheime Strömungen und Stauungen ereignen, Anziehungen und Abstoßungen, Sympathie und Antipathie zwischen Individuum und Individuum? Wer wagt in dieser Sphäre heute ein kühnes Ja oder ein freches Nein? Vielleicht wird eine mit immer verfeinerten metrischen Apparaten arbeitende Physik morgen schon nachweisen, daß, was wir heute als bloß seelische Kraftwelle annehmen, doch etwas Substanzhaftes, eine tatsächlich sichtbare Wärmewelle, eine elektrische oder chemische Auswirkung darstellt, wägbare und meßbare Energie, daß wir also sehr ernst nehmen müssen, was unsere Vorväter als Narrheit belächelt. Vielleicht, vielleicht hat also auch Mesmers Gedanke von der schöpferisch ausstrahlenden Seelenkraft noch eine Wiederkehr, denn was ist Wissenschaft anderes als die unablässige Taterfüllung uralter Menschheitsträume? Jede neue Erfindung enthüllt und bestätigt immer nur Ahnungen eines einzelnen, zu allen Zeiten ging jeder Tat ein Gedanke voraus. Die Geschichte aber, zu eilig, um gerecht zu sein, sie dient immer nur dem Erfolg. Nur die Leistung rühmt sie, die glorreich vollendete, nicht den kühnen, den mit Unmut und Undank verfolgten Versuch. Nur den Beender preist sie, nicht die Beginner, einzig den Sieger hebt sie ins Licht, die Kämpfer wirft sie ins Dunkel: so Mesmer, den ersten der neuen Psychologen, der unbedankt das ewige Schicksal des Zufrühgekommenen auf sich nahm. Denn immer wieder erfüllt sich der Menschheit ältestes und barbarisches Gesetz, einst im Blute und heute noch im Geiste, jenes unerbittliche Gebot, das zu allen Zeiten verlangte, die Erstlinge müßten geopfert werden.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.