Heimkehr in Vergessenheit


Armer Mesmer! Niemand ist über den tumultuarischen Einbruch des nach ihm benannten Mesmerismus entsetzter als er selbst, der unschuldige Wortvater. Wo er redlich eine Heilmethode aufzuforsten suchte, tobt und stampft jetzt in maßloser Verzückung ein bacchantischer Schwärm leichtfertiger Nekromanten, Pseudomagier und Okkultisten, und durch die unselige Namensgebung Mesmerismus fühlt Mesmer sich für den moralischen Flurschaden verantwortlich. Vergebens wehrt sich der Schuldig-Unschuldige gegen die ungerufenen Nachfolger: »In dem Leichtsinn, in der Unvorsichtigkeit derjenigen, welche meine Methode nachahmen, liegt die Schuld vieler Vorurteile, die sich gegen mich erhoben haben.« Aber wie seine eigenen Übertreiber dementieren? Seit 1785 ist der »animalische Magnetismus« Mesmers überrannt und erschlagen vom Mesmerismus, seinem brutaleren Bastard. Was die vereinten Feinde, Akademie und Wissenschaft, nicht zustande gebracht, haben seine wüsten und lärmenden Nachtreter glücklich erreicht: für Jahrzehnte gilt Mesmer jetzt als leichtfertiger Gaukler und Erfinder einer Jahrmarkt-Scharlatanerie.


Vergebens protestiert, vergebens kämpft ein paar Jahre der lebendige Mensch Mesmer gegen das Mißverständnis Mesmerismus: aber immer behält der Irrtum von Tausenden gegen einen einzelnen recht. Alle sind jetzt gegen ihn: seine Feinde, daß er zu weit gegangen, seine Freunde, daß er ihre Übertreibungen nicht mit übertreibt, und vor allem verläßt ihn die bisher so hilfreiche Zeit. Die Französische Revolution schwemmt mit einem Ruck Mesmers jahrzehntelange Arbeit in Vergessenheit. Eine Massenhypnose, weit wilder als die Konvulsionen vor dem Baquet, schüttelt das ganze Land, jetzt nimmt statt Mesmers bloß magnetischen die Guillotine ihre unfehlbaren Stahlkuren vor. Jetzt haben sie keine Zeit mehr, die Prinzen und Herzoginnen und aristokratischen Philosophen, geistreich über das Fluid zu plaudern, zu Ende sind die Séancen in den Schlössern und die Schlösser selbst zerstört. Freunde und Feinde, die Königin und den König, Bailly und Lavoisier, fällt das gleiche geschliffene Eisen. Nein, vorbei ist die Zeit, da man sich philosophisch über Heilmagie und ihre Meister erregte, jetzt denkt die Welt nur an Politik und vor allem an den eigenen Kopf. Mesmer sieht seine Klinik veröden, das Baquet verlassen, die mühsam verdiente Million Franken zerblättern zu wertlosen Assignaten, nichts bleibt ihm als das nackte Leben, und selbst dieses erscheint bedroht. Bald wird ihn das Schicksal seiner deutschen Landsleute Trenck, Cloots, Kellermann, Adam Lux belehren, wie locker ein ausländischer Kopf während des Terrors an seinem Halsknorpel hängt, und daß ein Deutscher besser tut, seinen Aufenthalt zu wechseln. So schließt Mesmer sein Haus und flüchtet im Jahr 1792, völlig verarmt und vergessen, vor Robespierre aus Paris.


Hic incipit tragoedia. Über Nacht aus Ruhm und Reichtum gerissen, achtundfünfzigjährig und allein, verläßt ein enttäuschter müder Mann die Stätte seiner europäischen Triumphe und weiß nicht, was beginnen und wo sein Haupt zur Ruhe legen. Die Welt braucht, die Welt will ihn plötzlich nicht mehr, ihn, den sie gestern noch wie einen Heiland gefeiert und mit allen Ehren und Huldigungen überschüttet. Ist es nicht ratsamer, jetzt in der stillen Heimat am Bodensee bessere Zeiten abzuwarten? Aber dann erinnert er sich, daß er in Wien noch ein Haus hat, das ihm durch den Tod seiner Frau zugefallen ist, das schöne Haus auf der Landstraße; dort hofft er die rechte Rast für sein Alter und sein Studium zu finden. Fünfzehn Jahre, so meint er, müssen doch genügen, um auch den heißesten Haß müde zu machen. Die alten Ärzte, seine Feinde von einst, liegen längst im Grab, Maria Theresia ist gestorben und zwei Kaiser nach ihr, Joseph II. und Leopold – wer denkt da noch an die unglückselige Affäre des Fräuleins Paradies!


So glaubt er, in Wien auf Ruhe hoffen zu dürfen, der alte Mann. Aber die hochlöbliche Hofpolizeistelle Wien hat ein gutes Gedächtnis. Kaum angelangt, am 14. September 1793, wird »der berüchtigte Arzt« Doktor Mesmer schleunigst vorgeladen und nach seiner »vorhergehenden Ubikation« befragt. Da er angibt, nur in Konstanz und »dasiger Gegend« gewesen zu sein, werden sofort im Amtssprengel Freiburg »sachdienliche Erkundigungen« über seine »bedenklichen Gesinnungen« eingezogen, der altösterreichische Amtsschimmel beginnt zu wiehern und setzt sich in Trab. Leider treffen vom Stadthauptmann in Konstanz günstige Nachrichten ein, daß Mesmer sich dort »untadelhaft betragen« und »sehr einsam gelebt« und »niemand in bezug auf irrig gefährliche Grundsätze« etwas bemerkt habe. So muß man warten, um ihm, wie seinerzeit im Falle des Fräuleins Paradies, einen festeren Strick zu drehen. Tatsächlich, es dauert nicht lange, und bald wird eine neue Affäre aufgezäumt. Im Hause Mesmers wohnt im Gartenpavillon eine Prinzessin Gonzaga. Als höflicher, wohlerzogener Mann macht Dr. Mesmer dieser seiner Mieterin einen Anstandsbesuch. Da er aus Frankreich kommt, spricht die Prinzessin natürlich über die Jakobiner und äußert sich über sie in denselben Ausdrücken, wie man heute in denselben Kreisen von russischen Revolutionären spricht. In ihrer Entrüstung bezeichnet sie – ich zitiere wörtlich den französisch verfaßten Spitzelbericht – »ces gueux comme des régicides, des assassins, des voleurs«. Mesmer nun, obgleich selbst vor dem Terror geflüchtet und obwohl er sein ganzes Vermögen durch die Revolution verloren hat, findet als geistiger Mensch solche Definierungen einer welthistorischen Kulturbegebenheit doch etwas zu simpel und sagt etwa, schließlich kämpften diese Leute doch für die Freiheit, und sie seien persönlich keine Diebe, sie besteuerten eben die Reichen zugunsten des Staates, und Steuern hebe der Kaiser ja schließlich auch ein. Die arme Prinzessin Gonzaga fällt beinahe in Ohnmacht. Da ist ja ein leibhaftiger Jakobiner im Hause! Kaum daß Mesmer die Türe zuklinkt, stürzt sie mit der Schreckensnachricht zu ihrem Bruder, dem Grafen Ranzoni, und zum Hofrat Stupfel; gleich ist auch (wir sind in Altösterreich) ein Naderer zur Stelle, ein angeblicher »Chevalier« Desalleur, den der Polizeibericht freilich nur als einen »gewissen« Desalleur bezeichnet (sie dürfte mehr von ihm wissen). Dieser Spitzel sieht eine herrliche Gelegenheit, ein paar Bankozettel zu verdienen, und schreibt sofort einen submissesten Bericht an die allerhöchste Kabinettskanzlei. Dort beim Grafen Colloredo das gleiche aschgraue Entsetzen: ein Jakobiner in der braven Stadt Wien! Kaum kehrt Seine Majestät, der Gotterhaltekaiser Franz, von der Jagd zurück, so übermittelt man ihm schonend die furchtbare Nachricht, daß ein Anhänger »der französischen Zügellosigkeit« in seiner Residenz hause, und Seine Majestät »resolviert« sofort, daß eine genaue Untersuchung anzustellen sei. So wird »mit Vermeidung alles Aufsehens« am 18. November der arme Mesmer in einen abgesonderten Arrest des Polizeihauses gebracht.


Aber wieder einmal zeigt sich, wie dumm man tut, voreilig Spitzelberichten zu trauen. Der Immediatbescheid der Polizei an den Kaiser erweist sich als reichlich lendenlahm, denn es »erhellet aus der gepflogenen Untersuchung, daß Mesmer jener staatsgefährlichen frechen Reden weder geständig noch derselben auf rechtsbeständige Art überwiesen sei«, und recht kläglich schlägt in seinem »alleruntertänigsten Vortrag« der Polizeiminister Graf Pergen vor, daß Mesmer »mit einer nachdrücklichen Warnung und scharfem Verweise zu entlassen sei«. Was bleibt da dem Kaiser Franz übrig, als die »allerhöchste Resolution« zu verlautbaren: »Mesmer ist des Arrestes zu entlassen und, da selber selbst sich äußert, von hier in die Gegend seines Geburtsortes baldigst abzureisen, so ist darauf zu wachen, daß solcher alsogleich abreise und sich während der Zeit seines noch so kurzen Aufenthaltes in keine verdächtigen Reden einlasse.« Aber bei dieser Entscheidung fühlt sich die hochlöbliche Polizei nicht sehr wohl. Schon vorher hatte der Minister mitgeteilt, daß die Verhaftung Mesmers »bey seinen Partheygängern, deren er hier mehrere hat, nicht geringe Bewegung verursache«; nun fürchtet man, Mesmer werde öffentliche Beschwerde gegen die infame Behandlung einlegen. So verfaßt »ad mandatum Excellentissimi« die Polizeihofstelle noch folgendes Aktenstück zur Vertuschung der Affäre, das als Musterbeispiel altösterreichischen Kurialstils in ein Museum gehört. »Da Mesmers Entlassung nicht für einen Beweis seiner Unschuld gelten kann, indem er durch die gekünstelte Verdrehung angezeigtermaßen von ihm geäußerter bedenklicher Reden sich keineswegs von dem gegen ihn zurückbleibenden Verdacht ganz gereinigt hat, derohalben auch mit der wirklichen Ankündigung des consilii abeundi bloß in der Rücksicht verschonet worden ist, weil er sein Vorhaben, ohne Verschub sich wegbegeben zu wollen, von selbst dringend vorgestellet hat: so ist zu erkennen zu geben, daß die Eindruckung nicht statthabe, auch Mesmer wohl tuen würde, von irgendeiner öffentlichen Rechtfertigung abzustehen und vielmehr die gelinde Behandlung, so ihm widerfuhr, zu erkennen.« Die »Eindruckung«, die Veröffentlichung findet also nicht statt, die Affäre wird vertuscht, und zwar so gründlich, daß man hundertzwanzig Jahre von diesem abermaligen Hinauswurf Mesmers aus Wien nichts erfuhr. Aber die Fakultät darf zufrieden sein: jetzt ist der unbequeme Medikus für immer in Österreich erledigt.


Wohin nun, alter Mann? Das Vermögen ist verloren, in der Heimat Konstanz lauert die kaiserliche Polizei, in Frankreich tobt der Terror, in Wien wartet das Stockhaus. Krieg, unaufhörlicher, mitleidsloser Krieg aller Nationen gegen alle flutet vor und wieder zurück über alle Grenzen. Und ihn, den greisen geprüften Forscher, den verarmten vergessenen Mann, ekelt dieser tolle Tumult der Welt. Er will nur Stille und eine Handvoll Brot, um sein begonnenes Werk in immer erneuten Versuchen zu erproben und der Menschheit endlich seine geliebte Idee offenbar zu machen. So flüchtet Mesmer in das ewige Asyl des geistigen Europas, in die Schweiz. Irgendwo in einem kleinen Kanton, in Frauenfeld, läßt er sich nieder und übt, um sein Leben zu fristen, ärmliche Praxis. Jahrzehntelang lebt er dort im Dunkel, und niemand in dem winzigen Kantönli ahnt, daß der grauhaarige stille Mann, der dort an Bauern, Käsern, Schnittern und Dienstmägden seine medizinische Kunst ausübt, derselbe Dr. Franz Anton Mesmer ist, den Kaiser und Könige bekämpft und umworben, in dessen Räumen sich der Adel und die Ritterschaft Frankreichs gedrängt, gegen den sämtliche Akademieen und Fakultäten Europas sich ereifert und über dessen Lehre Hunderte von Schriften und Broschüren in allen Sprachen gedruckt und geschrieben wurden, mehr wahrscheinlich als über irgendeinen seiner Zeitgenossen, selbst Rousseau und Voltaire. Keiner seiner vormaligen Schüler und Getreuen sucht ihn auf, und wahrscheinlich hat all diese Jahre des Dunkels kein einziger seinen Namen und seinen Aufenthalt gewußt, so völlig duckt sich der Einsame in den Schatten dieses kleinen entlegenen Bergdorfs und verbringt dort unablässig wirkend die schwere napoleonische Zeit. In der ganzen Weltgeschichte findet sich kaum ein Beispiel, daß ein Mann derart plötzlich vom rauschendsten Wellenrücken des Ruhms so tief in den Abgrund der Vergessenheit und der Unauffindbarkeit gestürzt ist; kaum irgendwo in einer Biographie steht die völligste Verschollenheit so nahe dem erstaunlichsten Triumph wie in diesem merkwürdigen und geradezu einzigen Geschick Franz Anton Mesmers.


Nichts aber bewährt besser den Charakter eines Menschen als die Goldprobe des Erfolgs und die Feuerprobe des Unglücks. Nicht frech, nicht prahlerisch während seines unermeßlichen Ruhmes, zeigt sich der alternde Mann in seinem Vergessensein großartig bescheiden und voll stoischer Weisheit. Ohne Gegenwehr, fast möchte man sagen: gern tritt er in das Dunkel zurück und macht nicht den mindesten Versuch, noch einmal die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Vergebens rufen ihn 1803, also nach einem ganzen Jahrzehnt des Verborgenseins, ein paar der treugebliebenen Freunde in das wieder beruhigte und bald kaiserliche Paris zurück, er solle dort seine Klinik wieder auftun, neue Schüler um sich sammeln. Aber Mesmer lehnt ab. Er will nicht mehr Streit, nicht mehr Gezänk und Gerede; er hat seine Idee in die Welt geworfen, möge sie dort schwimmen oder untergehen. In edler Resignation antwortet er: »Wenn ich trotz meiner Anstrengungen nicht so glücklich war, meine Zeitgenossen über ihr eigenes Interesse aufklären zu können, so habe ich doch die innere Befriedigung, meine Pflicht gegen die Gesellschaft erfüllt zu haben.« Nur für sich, still und ungesehen, völlig anonym setzt er seine Versuche fort und fragt nicht mehr, ob sie der lärmenden oder gleichgültigen Welt etwas gelten: die Zukunft und nicht diese Zeit, so ahnt er prophetisch, wird seinem Wirken Gerechtigkeit widerfahren lassen und erst nach seinem Tode seine Idee zu leben beginnen. Keine Ungeduld spricht aus seinen Briefen, keine Klage um den verloschenen Ruhm und das verlorene Geld, sondern nur die heimliche Sicherheit, die jeder großen Geduld zugrunde liegt.


Aber nur irdischer Ruhm kann auslöschen wie ein Licht, nie ein lebendiger Gedanke. Einmal ins Herz der Menschheit gesenkt, überwintert er auch in ungünstigster Zeit, um unvermutet wieder aufzublühen; keine Anregung geht dem ewig neugierigen Geiste der Wissenschaft völlig verloren. Die Revolution, die Napoleonskriege haben die Anhänger Mesmers zersprengt, den Zulauf der Anhänger verscheucht; und oberflächlich betrachtet, möchte man glauben, die noch unreife Saat sei durch den Schritt der militärischen Kolonnen rettungslos zertreten. Doch ganz verborgen wirkt, ohne daß Mesmer, der Vergessene, selber es ahnt, seine ursprüngliche Lehre mitten im Welttumult bei einigen Schweigsamen weiter. Denn wunderbarerweise steigert gerade die Kriegszeit bei nachdenklichen Naturen das Bedürfnis, sich vor der Roheit und Gewalttätigkeit der Umwelt ins Geistige zu flüchten; ewig bleibt das schönste Symbol des wahren Gelehrten Archimedes, der unablenkbar, während die Soldatenrotte schon in sein Haus eindringt, seine Kreise weiterzeichnet. So wie Einstein mitten in unserem Weltkrieg sein die Welt verwandelndes geistiges Prinzip unbeirrt durch die Bestialität der Epoche errechnet, so sinnen, während die Truppen Napoleons quer durch Europa marschieren, die Landkarte alljährlich ihre Farbe ändert, während Dutzende von Königen abgesetzt und neue zu Dutzenden geschaffen werden, ein paar kleine Ärzte in den entlegensten Provinzen über den Anregungen Mesmers und Puységurs und wirken gleichsam im Kellergewölbe der Konzentration in seinem Sinne weiter. Alle diese Männer arbeiten einzeln in Frankreich, in Deutschland, in England, meist wissen sie nicht voneinander, und keiner weiß von Mesmer, dem Verschollenen, und Mesmer nicht von ihnen. Gelassen in ihren Behauptungen, vorsichtig in ihren Schlüssen prüfen und überprüfen sie die von Mesmer klargelegten Tatsachen, und gleichsam unterirdisch, auf dem Wege über Straßburg und durch Lavaters Briefe aus der Schweiz dringt die neue Methode weiter. Besonders in Schwaben und in Berlin mehrt sich das Interesse; der berühmte Hufeland, Leibarzt am preußischen Hofe und Mitglied aller Gelehrtenkommissionen, wirkt persönlich auf den König ein. So beschließt endlich in Berlin eine Kabinettsorder die Ernennung einer Kommission zur neuerlichen Überprüfung des Mesmerismus.


1775 hatte sich Mesmer zum erstenmal an die Berliner Akademie gewandt: man erinnert sich, mit wie kläglichem Erfolg. Nun, da fast vierzig Jahre später, 1812, dieselbe Stelle den Magnetismus zu überprüfen begehrt, ist der eigentliche Anreger des Problems, ist Mesmer schon so völlig vergessen, daß bei dem Wort Mesmerismus niemand mehr an Franz Anton Mesmer denkt. Ganz überrascht blickt die Kommission auf, als plötzlich eines ihrer Mitglieder in der Sitzung den allernatürlichsten Antrag stellt, man möchte doch den Entdecker des Magnetismus, Franz Anton Mesmer, selber nach Berlin berufen, damit er seine Methode rechtfertige und erkläre. Wie, staunen sie da auf einmal alle – Franz Anton Mesmer lebt noch? Aber warum schweigt er so vollkommen, warum tritt er jetzt, da der Ruhm auf ihn wartet, nicht stolz und triumphierend vor? Niemand kann es sich erklären, daß ein so großer, so weltberühmter Mann sich derart bescheiden und still in die Vergessenheit zurückziehen konnte. Sofort geht eine dringende Einladung an den Kantönliarzt in Frauenfeld, die Akademie mit seinem Besuche zu beehren. Empfang beim König winkt ihm, Aufmerksamkeit ganz Deutschlands, vielleicht sogar triumphale Ehrenrettung nach unsäglich erduldetem Unrecht. Aber Mesmer lehnt ab, er sei zu alt, sei zu müde. Er wolle nicht mehr zurück in den Streit. So wird am 6. September 1812 Professor Wolfart als königlicher Kommissär zu Mesmer entsendet und bevollmächtigt, »den Erfinder des Magnetismus, Herrn Dr. Mesmer, um Mitteilung alles dessen, was zur näheren Bestätigung, Berichtigung und Aufklärung dieses wichtigen Gegenstandes dienen kann, zu ersuchen und den Zweck der Kommission auf seiner Reise möglichst zu fördern«.


Professor Wolfart reist sofort ab. Und nach dreißig Jahren Geheimnis erhalten wir endlich wieder Nachricht von dem verschollenen Mann. Wolfart berichtet:


»Meine Erwartungen sah ich durch die erste persönliche Bekanntschaft mit dem Entdecker des Magnetismus übertroffen. Ich fand ihn in seinem von ihm selbst ausgesprochenen wohltätigen Wirkungskreise beschäftigt. In seinem hohen Alter schien das Umfassende, Helle und Durchdringende seines Geistes, sein unermüdeter, lebendiger Eifer, sich mitzuteilen, sein ebenso leichter als seelenvoller, durch die Behendigkeit der Gleichnisse durchaus eigentümlicher Vortrag sowie die Feinheit seiner Sitten, die Liebenswürdigkeit seines Umgangs um so bewundernswürdiger. Nimmt man dazu einen Schatz positiver Kenntnisse in allen Zweigen des Wissens, wie sie nicht leicht ein Gelehrter vereint, und eine wohlwollende Güte des Herzens, welche sich in seinem ganzen Sein, in seinen Worten, seinen Handlungen und Umgebungen ausspricht, nimmt man dazu noch eine tätige, fast wunderbare Kraft der Einwirkung auf Kranke bei dem durchdringenden Blick oder der bloß still erhobenen Hand, und alles das durch eine edle, Ehrfurcht einflößende Gestalt gehoben, so hat man in den Hauptzügen ein Bild von dem, was ich an Mesmer als Individuum fand.« Ohne Rückhalt schließt Mesmer dem Besucher seine Erfahrungen und Ideen auf, er läßt ihn an Krankenbehandlungen teilnehmen und übergibt seine gesammelten Aufzeichnungen Professor Wolfart, damit er sie der Nachwelt überliefere. Jede Gelegenheit, sich vorzudrängen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, aber lehnt er mit wirklich prachtvoller Gelassenheit ab. »Da mir nur noch eine kleine Strecke auf dem Pfade meines Lebens zu durchlaufen übrig ist, so kenne ich keine wichtigeren Geschäfte, als den Überrest meiner Tage allein der praktischen Anwendung eines Mittels zu weihen, dessen ungemeinen Nutzen mich meine Beobachtungen und Erfahrungen gelehrt haben, damit mein letztes Wirken die Anzahl der Tatsachen vermehre.« So ist uns nun unvermutet noch ein abendliches Bild dieses merkwürdigen Mannes gegeben, der alle Phasen des Ruhmes, des Hasses, des Reichtums und der Armut und schließlich der Vergessenheit durchmessen, um in voller Überzeugtheit von der Dauer und Bedeutung seines Lebenswerks gelassen und groß dem Tode entgegenzugehen.


Seine letzten Jahre sind die eines Weisen, eines ganz geklärten und geprüften Forschers. Geldsorgen bedrängen ihn nicht mehr, denn die französische Regierung hat ihm eine Rente als Entschädigung für die verlorene Million Franken entwerteter Staatspapiere auf Lebenszeit gewährt. So kann er, unabhängig und frei, in die Heimat zurückkehren, an den Bodensee, und so symbolisch den Kreis des Daseins abschließen. Dort lebt er als eine Art kleiner Landedelmann einzig seiner Neigung, und diese Neigung bleibt bis an sein Ende dieselbe: der Wissenschaft, der Forschung mit immer erneuten Versuchen zu dienen. Hell im Augenlicht, klar im Gehör und lebendig im Geiste bis zum letzten Augenblick, übt er seine magnetische Kraft bei allen, die vertrauend zu ihm kommen; oftmals fährt er mit Pferd und Wagen stundenweit, einen interessanten Kranken zu sehen und womöglich nach seiner Methode zu heilen. Dazwischen experimentiert er physikalisch, modelliert und zeichnet, und nie versäumt er das allwöchentliche Konzert bei dem Fürsten Dalberg. In diesem musikalischen Kreis rühmen alle, die ihm begegnen, die außerordentliche universale Bildung dieses immer aufrechten, immer geruhigen und großartig gelassenen Greises, der mit mildem Lächeln von seinem einstigen Ruhm und ohne Haß und Erbitterung von den hitzigsten und gehässigsten seiner Gegner spricht. Als er am 5. März 1814, achtzigjährig, sein Ende herannahen fühlt, läßt er sich noch einmal durch einen Seminaristen auf seiner geliebten Glasharmonika vorspielen. Es ist immer noch dieselbe, auf der sich der junge Mozart in seinem Hause auf der Landstraße versucht, dieselbe, der Gluck in Paris neue und ungekannte Harmonieen entlockt hat, dieselbe, die ihn auf allen Reisen und Irrfahrten seines Lebens und nun bis in den Tod begleitet. Seine Millionen sind zerstoben, sein Ruhm hat sich verwölkt: nach allem Lärm, nach all dem wüsten Gerede und Gestreite um seine Lehre ist dem alten Einsiedler nichts geblieben als dieses Instrument und seine geliebte Musik. So geht unerschütterlich gläubig, daß er zurückkehre in die Harmonie, in die Allflut, ein Mann, den der Haß als eitlen Scharlatan und Schwätzer verächtlich geschildert, wie ein wahrhaft Weiser in den Tod, und sein Testament bezeugt rührend den Willen nach völliger Vergessenheit, nämlich, daß er ohne Prunk, ganz wie ein anderer Mann begraben werde. Dieser letzte Wunsch erfüllt sich. Keine Zeitung meldet der Welt seinen Hingang. Wie irgendein Unbekannter wird auf dem wunderbaren Friedhof von Meersburg, wo auch die Droste-Hülshoff ruht, ein alter Mann begraben, dessen Ruhm einst die Welt erfüllte und dessen wegbereitende Leistung erst unsere Zeit wieder zu begreifen beginnt. Freunde lassen ihm einen symbolischen Grabstein errichten, einen dreieckigen Marmorblock mit mystischen Zeichen, Sonnenuhr und Bussole, die allegorisch die Bewegung in Raum und Zeit darstellen sollen.


Aber es ist das Schicksal des Ungewöhnlichen, immer wieder den Haß der Menschen zu erregen: boshafte Hände beschmieren und zerstören die Sonnenuhr und die Bussole, diese ihnen unverständlichen Zeichen auf Mesmers Grabstein, so wie unverständige Schreiber und Forscher seinen Namen. Jahre müssen vergehen, ehe man den gestürzten Stein über seinem Grabe neuerdings würdig aufrichtet, und abermals Jahre, bis endlich eine wissendere Nachwelt sich seines verschollenen Namens und des Vorausgängerschicksals dieses großen deutschen Arztes besinnt.

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