Abendlicher Blick ins Weite
Jedes Ansehen geht über in ein Betrachten, jedes Betrachten in ein Sinnen, jedes Sinnen in ein Verknüpfen, und so kann man sagen, daß wir schon bei jedem aufmerksamen Blick in die Welt theoretisieren.
Goethe
Herbst ist die gesegnete Zeit der Überschau. Da sind die Früchte geerntet, das Tagwerk getan: rein und klar lichtet in die Landschaft des Lebens der Himmel und alle Ferne herein. Wenn nun Freud, siebzigjährig, zum erstenmal prüfend zurückblickt auf die gestaltete Tat, kann er sich wohl selbst eines Staunens nicht erwehren, wie weit ihn der schaffende Weg geführt. Ein junger Nervenarzt geht einem neurologischen Problem nach, der Deutung der Hysterie. Rascher, als er vermutet, führt es ihn hinab in seine Tiefe. Aber dort auf dem Grunde des Brunnenschachtes blinkt schon ein neues Problem: das Unbewußte. Er hebt es empor und siehe: es erweist sich als magischer Zauberspiegel. Auf welchen geistigen Gegenstand immer sein Licht fällt, er ist erleuchtet in einem neuen Sinn. Und so, mit einer deutenden Kraft ohnegleichen bewehrt, von innerer Sendung geheimnisvoll geführt, gelangt Freud von einer Erkenntnis zur andern, von jeder geistigen Schau zu immer höheren und weiteren empor – una parte nasce dall’ altra successivamente, nach Leonardos Wort –, und jeder dieser spiralisch erhobenen Kreise fügt sich ungezwungen zusammen in ein einheitliches Bild der seelischen Welt. Längst ist das Reich der Neurologie, der Psychoanalyse, der Traumdeutung, der Sexualforschung überschritten, und noch immer neue Wissenschaften bieten sich zur Erneuerung entgegen. Die Pädagogie, die Religionswissenschaft, die Mythologie, die Dichtung und die Kunst danken seinen Anregungen namhafte Bereicherung: kaum kann von der Höhe seines Alters der greise Forscher selbst überschauen, wie weit hinein ins Zukünftige seine eigene unvermutete Wirksamkeit reicht. Wie Moses vom Berge, sieht Freud am Abend seines Lebens für seine Lehre noch unendlich viel ungepflügtes und fruchtträchtiges Land.
Fünfzig Jahre lang war dieser Forscher unentwegt auf dem Kriegspfad gewesen, Geheimnisjäger und Wahrheitssucher; unermeßlich ist seine Beute. Wie viel hat er geplant, geahnt, gesehen, geschaffen, geholfen – wer kann sie zählen, diese Taten auf allen Gebieten des Geistes? Nun könnte er ruhen, der alte Mann. Und tatsächlich, etwas in ihm begehrt nach linderer, unverantwortlicherer Schau. Sein Auge, das streng und prüfend in viele, in zu viele dunkle Seelen geblickt, nun möchte es einmal unverbindlich in einer Art geistigen Träumens das ganze Weltbild umfassen. Der immer nur die Tiefen durchpflügt, jetzt begehrt er einmal die Höhen und Weiten des Daseins zu betrachten. Der ein Leben lang als Psychologe nur rastlos forschte und fragte, nun möchte er als Philosoph versuchen, sich selbst eine Antwort zu geben. Der unzählige Analysen an einzelnen unternommen, er möchte nun einmal den Sinn der Gemeinschaft zu ergründen wagen und seine Deutekunst erproben an einer Psychoanalyse der Zeit.
Alt ist diese Lust, einmal in reiner Schau des Geistes durchaus nur denkerisch das Weltgeheimnis zu betrachten. Aber die Strenge seiner Aufgabe hat Freud ein Leben lang spekulative Neigungen verboten; erst mußten die Gesetze des seelischen Aufbaus an unzähligen einzelnen erforscht sein, ehe er wagen durfte, sie auf das Allgemeine anzuwenden. Immer noch schien es dem allzu Verantwortungsbewußten zu früh am Tage. Jetzt aber, da es Abend wird, da fünfzig Jahre unermüdlicher Arbeit ihm Anrecht geben, einmal denkträumend über das einzelne hinauszusehen, jetzt tritt er noch einmal hinaus, einen Blick in die Ferne zu tun und die Methode, die er an Tausenden von Menschen erprobt, an der ganzen Menschheit zu versuchen.
Ein wenig zag, ein wenig ängstlich geht er, der sonst so sichere Meister, an dieses Beginnen. Fast möchte man sagen, mit schlechtem Gewissen wagt er sich hinaus über sein exaktes Wissenschaftsreich der Tatsachen in jenes des Unbeweisbaren, denn gerade er, der Entlarver vieler Illusionen, gerade er weiß, wie leicht man philosophischen Wunschträumen verfällt. Hart hatte er bisher jede spekulative Verallgemeinerung abgewehrt: »Ich bin gegen die Fabrikation von Weltanschauungen.« Nicht leichten Herzens also, und nicht mit der alten, unerschütterlichen Sicherheit wendet er sich hinüber in die Metaphysik – oder wie er es vorsichtiger nennt: in die Metapsychologie – und entschuldigt gleichsam vor sich selbst dieses späte Wagnis: »In meinen Arbeitsbedingungen ist eine gewisse Veränderung eingetreten, deren Folgen ich nicht verleugnen kann. Früher einmal gehörte ich nicht zu jenen, die eine vermeintliche Neuheit nicht eine Weile bei sich behalten können, bis sie Bekräftigung gefunden hat… Aber damals dehnte sich die Zeit unübersehbar vor mir aus, oceans of time, – wie ein liebenswürdiger Dichter sagt –, und das Material strömte mir so reichlich zu, daß ich mich der Erfahrungen kaum erwehren konnte… Das ist nun alles anders geworden. Die Zeit vor mir ist begrenzt, sie wird nicht vollständig von der Arbeit ausgenützt, die Gelegenheit, neue Erfahrungen zu machen, kommt also nicht so reichlich. Wenn ich etwas Neues zu sehen glaube, bleibt es mir unsicher, ob ich die Bestätigung abwarten kann.« Man sieht: im voraus weiß der strengwissenschaftliche Mann, daß er sich diesmal allerhand verfängliche Probleme vorlegen wird. Und gleichsam nur monologisch, in einer Art geistigen Selbstgesprächs erörtert er vor sich selbst einige der ihn bedrückenden Fragen, ohne Antwort zu fordern, ohne vollkommene Antwort zu geben. Diese seine Spätbücher, die »Zukunft einer Illusion« und »Das Unbehagen in der Kultur« sind vielleicht nicht so dicht mehr wie die früheren; aber sie sind dichterischer. Sie enthalten weniger beweisbare Wissenschaft, aber mehr an Weisheit. Statt des unerbittlichen Zerlegers enthüllt sich endlich der groß zusammenfassende Geist, statt des exakt naturwissenschaftlichen Mediziners der solange gefühlte Künstler. Und es ist, als ob zugleich hinter dem forschenden Auge jetzt zum ersten Male der ganze langverborgene Mensch Sigmund Freud vorträte.
Aber es ist ein düsteres Auge, das hier die Menschheit anblickt, ein Auge, das dunkel geworden, weil es zuviel Dunkles gesehen. Nur mit ihren Sorgen, ihren Nöten, ihren Qualen und Verstörungen sind fünfzig Jahre lang die Menschen ununterbrochen zu ihm gekommen, klagend, fragend, eifernd, erregt, hysterisch und wild, immer nur Kranke, Bedrückte, Gequälte, Verrückte; nur die melancholische, die tatunkräftige Seite der Menschheit war diesem Manne ein Leben lang mitleidslos zugewandt. Vermauert in den ewigen Schacht seiner Arbeit, hat er selten das andere, das helle, das freudige, das gläubige Antlitz der Menschheit gesehen, die Hilfsbereiten, die Sorglosen, die Heiteren, die Leichtsinnigen, die Frohmütigen, die Glücklichen und Gesunden: immer nur Kranke, Unlustige, Verstörte, immer nur dunkle Seelen. Er ist zu lange und zu viel Arzt gewesen, Sigmund Freud, um nicht allmählich auch die ganze Menschheit wie einen Kranken anzusehen. Und sein erster Eindruck, als er aus seiner Forscherstube in die Welt blickt, stellt aller weiteren Untersuchung schon eine furchtbar pessimistische Diagnose voran: »Wie für den einzelnen, so ist auch für die ganze Menschheit das Leben schwer zu ertragen.«
Verhängnisvoll düsteres Wort, das wenig Hoffnung verheißt, mehr ein Seufzer von tiefinnen her als eine Erkenntnis! Man sieht: wie an das Bett eines Kranken tritt Freud an seine kulturbiologische Aufgabe heran. Und gewohnt, als Seelenarzt zu betrachten, meint er deutliche Symptome einer Seelenverstörung in unserer Zeit zu gewahren. Da seinem Auge die Freude fremd ist, sieht er nur Unfreude in unserer Kultur und beginnt analytisch dieser Neurose der Zeitseele nachzuforschen. Wie kommt es, fragt er sich selbst, daß so wenig wirkliches Behagen unsere Zivilisation beseelt, die doch die Menschheit weit über alles Ahnen und Hoffen früherer Geschlechter emporgehoben hat? Haben wir denn nicht tausendfach den alten Adam in uns übersprungen, sind wir nicht schon Gott ähnlicher als ihm? Hört nicht das Ohr dank der telephonischen Membran in die entferntesten Kontinente, sieht das Auge nicht dank des Teleskops in die Myriadenwelt der Sterne und mit Hilfe des Mikroskops einen Kosmos im Wassertropfen? Überschwingt nicht unsere Stimme Zeit und Raum in einer Sekunde, spottet sie nicht der Ewigkeit, festgebannt auf der Platte eines Grammophons, trägt uns nicht der Aeroplan sicher durch das seit Tausenden von Jahren dem Sterblichen versagte Element? Warum aber trotz dieser Gottähnlichkeit kein rechtes Siegesgefühl in der Seele des Menschen, sondern bloß das drückende Bewußtsein, daß wir nur Herren dieser Herrlichkeit auf Borg, nur »Prothesengötter« sind (durchschlagendes Wort!) und daß doch keine dieser technischen Errungenschaften unser tiefstes Ich befriedet und beglückt? Wo ist der Ursprung dieser Hemmung, dieser Verstörung, wo die Wurzel dieser Seelenkrankheit? – so fragt sich Freud in die Menschheit hinein. Und ernst, streng und sachlich, als gelte es einen einzelnen Fall seiner Ordination, geht Freud daran, die Ursachen unseres Kulturunbehagens, dieser Seelenneurose der gegenwärtigen Menschheit, zu erforschen.
Nun beginnt Freud immer jede Psychoanalyse mit einer Aufdeckung der Vergangenheit: so auch jene der seelenkranken Kultur mit einem Rückblick auf die Urformen der menschlichen Gesellschaft. Im Anfang steht für Freud der Urmensch (gewissermaßen der Kultursäugling), aller Sitten und Gesetze unbewußt, tierhaft frei und völlig hemmungslos. In zusammengefaßter, ungebrochen egoistischer Kraft entlädt er seine aggressiven Triebe in Mord und Kannibalismus, seinen Sexualtrieb in Pansexualismus und Inzest. Aber kaum, daß sich dieser Urmensch zu einzelnen Horden, zum Clan zusammentut, muß er gewahr werden, daß seine Gier an Grenzen stößt, an den Gegenwillen der Gefährten: alles soziale Leben, selbst auf der frühesten Stufe, erfordert Beschränkung. Der einzelne muß sich bescheiden, gewisse Dinge als verboten anerkennen, Recht und Sitte, gemeinsame Konventionen werden eingesetzt, die Strafen heischen für jedes Vergehen. Dieses Wissen um das Verbotene, diese Furcht vor der Strafe verschiebt sich aber bald nach innen und schafft in dem bisher tierisch dumpfen Gehirn eine neue Instanz, ein Über-Ich, gewissermaßen einen Signalapparat, der rechtzeitig warnt, die Geleise der Sitte zu überschreiten, um nicht von der Strafe erfaßt zu werden. Mit diesem Über-Ich, dem Gewissen, beginnt die Kultur und zugleich die religiöse Idee. Denn alle Grenzen, welche die Natur dem menschlichen Lusttrieb von außen entgegenstellt, Kälte, Krankheit, Tod, sie begreift die blinde Urangst der Kreatur immer nur als von einem unsichtbaren Gegner gesandt, von einem Gott-Vater, der alle Macht hat, zu strafen und zu belohnen, von einem Fürchtegott, dem man gehorchen und dienen muß. Gleichzeitig höchstes Ich-Ideal als Urbild aller Machtvollkommenheit und doch Angstgestalt, weil Urheber alles Schreckens, treibt die vermeinte Gegenwart eines allschauenden, alles könnenden Gott-Vaters durch den Büttel des Gewissens den ungebärdigen Menschen in seine Grenzen zurück; durch diese Selbstbeschränkung, durch diesen Verzicht, durch Zucht und Selbstzucht fängt das wilde barbarische Wesen allmählich an, sich zu zivilisieren. Indem sich aber die ursprünglich kampfwütigen Menschenkräfte zu gemeinsamer und schöpferischer Tätigkeit vereinen, statt bloß mörderisch und blutlüstern gegeneinander zu fahren, steigert sich die geistige, die ethische und technische Fähigkeit der Menschheit, und allmählich nimmt sie ihrem eigenen Ideal, dem Gotte, ein gut Teil seiner Macht. Der Blitz wird eingefangen, die Kälte geknechtet, die Entfernung überwunden, durch Waffen die Gefährlichkeit der Raubtiere gebändigt, alle Elemente, Wasser, Luft, Feuer werden allmählich der Kulturgemeinschaft untertan. Immer höher steigt die Menschheit dank ihrer schöpferischen, organisierten Eigenkräfte die Himmelsleiter zum Göttlichen empor, und, Herrin über Höhen und Tiefen, Überwinderin des Raums, wissend und beinahe allwissend, darf sie sich, die vom Tier aufgestiegene, selbst schon als gottähnlich empfinden.
Aber, fragt Freud, der unheilbare Desillusionist, – genau wie Jean Jacques Rousseau mehr als hundertfünfzig Jahre früher – in diesen schönen Zukunftstraum von der allbeglückenden Kultur hinein: warum ist die Menschheit trotz dieser Gottähnlichkeit nicht glücklicher und froher geworden? Warum fühlt unser tiefstes Ich sich nicht bereichert, befreit und erlöst durch all diese zivilisatorischen Triumphe der Gemeinschaft? Und er antwortet darauf selbst mit seiner harten und eindringlichen Unbarmherzigkeit: weil uns diese Besitzbereicherung durch die Kultur nicht einfach geschenkt wurde, sondern gleichzeitig bezahlt ist mit einer ungeheuren Einschränkung unserer Triebfreiheit. Die Rückseite alles Kulturzuwachses der Gattung ist Glücksverlust bei dem einzelnen (und Freud nimmt immer die Partei des Individuums). Dem Gewinn an gemeinschaftlicher Zivilisation der Menschheit steht eine Freiheitseinbuße, eine Gefühlskraftverminderung jeder Einzelseele entgegen. »Unser heutiges Gefühl des Ich ist nur ein eingeschrumpfter Teil eines weitumfassenden, ja allumfassenden Gefühls, welches einer innigeren Verbundenheit des Ich mit der Umwelt entspricht.« Wir haben zuviel an die Gesellschaft, an die Gemeinschaft abgegeben von der Ungebrochenheit unserer Kraft, als daß unsere Urtriebe, der Sexualtrieb und der Aggressionstrieb, noch die alte einheitliche Gewalt aufweisen könnten. In um so feinere und verästeltere Kanäle sich unser seelisches Leben verteilt, um so mehr verliert es sein stromhaft Elementares. Die durch die Jahrhunderte immer strenger werdenden sozialen Beschränkungen verengen und verkrümmen unsere Gefühlskraft, und insbesondere »das Sexualleben des Kulturmenschen ist schwer geschädigt. Es macht mitunter den Eindruck einer in Rückbildung begriffenen Funktion, wie es unsere Organe, unser Gebiß und unsere Kopfhaare zu sein scheinen«. In geheimnisvoller Weise läßt sich aber die Seele des Menschen nicht darüber betrügen, daß ihr für die Unzahl neuer, höherer Lustbefriedigungen, wie sie die Künste, Wissenschaften, die Technik, die Naturbeherrschung und die anderen Lebensbequemlichkeiten tagtäglich vortäuschen, irgendeine andere, vollere, wildere, naturhafte Art der Lust entzogen worden ist. Etwas in uns, vielleicht biologisch versteckt in irgendeinem Winkel der Gehirngänge und mitströmend in den Adern unseres Blutes, erinnert sich in jedem von uns mystisch an jenen Urzustand höchster Ungehemmtheit: alle die längst von der Kultur überwundenen Instinkte, Inzest, Vatermord, Pansexualität, geistern noch in unseren Wünschen und Träumen. Und selbst im wohlgepflegten Kind, das im bakterienfreien, elektrisch erhellten, wohldurchwärmten Luxusraum einer Privatklinik auf zarteste und schmerzloseste Weise von einer hochkultivierten Mutter geboren wird, erwacht noch einmal der alte Urmensch; noch einmal muß es die ganze Jahrtausendreihe von den panischen Urtrieben bis zur Selbstbeschränkung stufenweise durchschreiten und an seinem kleinen wachsenden Leib die ganze Erziehungsarbeit zur Kultur noch einmal erleben und erleiden. So bleibt ein Erinnern der alten Selbstherrlichkeit unzerstörbar in uns allen, und in manchen Augenblicken sehnt sich unser ethisches Ich ganz wild ins Anarchische, nach dem nomadisch Freien, nach dem Tierhaften unseres Anfangs zurück. Ewig hält sich in unserm Lebensgefühl Gewinn und Verlust die Waage, und je weiter sich die Spanne zieht zwischen der immer engeren Bindung zur Gemeinschaft und der ursprünglichen Ungebundenheit, um so stärker wird das Mißtrauen der Einzelseele werden, ob sie durch diesen Fortschritt nicht eigentlich beraubt und durch die Sozialisierung des Ichs um ihr innerstes Ich betrogen sei.
Wird es nun der Menschheit jemals gelingen, fragt Freud, angestrengt in die Zukunft blickend, diese Unruhe, dieses gleichzeitig Hin- und Hergerissensein ihrer Seele endgültig zu bemeistern? Wird sie, die zwischen Gottesangst und Tierlust wirr hintaumelnde, von Verboten umstellte, von der Zwangsneurose der Religion bedrückte, sich aus dem Kulturdilemma selbst einen Ausweg finden? Werden die beiden Urmächte, der Aggressionstrieb und der Geschlechtstrieb, sich nicht endlich freiwillig der sittlichen Vernunft unterwerfen und wir nicht schließlich die »Hilfshypothese« des strafenden und richtenden Gottes als überflüssig entbehren können? Wird die Zukunft – psychoanalytisch gesprochen – durch Bewußtmachung dieses ihres geheimsten Gefühlskonfliktes ihn auch endgültig überwinden, wird sie jemals völlig gesunden? Gefährliche Frage dies! Denn mit dieser Frage, ob die Vernunft einmal Herrin unseres Trieblebens werden könnte, gerät Freud in einen tragischen Zwiespalt. Einerseits leugnet ja die Psychoanalyse die Übermacht der Vernunft über das Unbewußte »Die Menschen sind Vernunftsgründen wenig zugänglich, sie werden von Triebwünschen bewegt«, und doch behauptet sie: »daß wir kein anderes Mittel haben zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit als unsere Intelligenz«. Als theoretische Lehre verficht die Psychoanalyse die Übermacht der Triebe und des Unbewußten – als praktische Methode wendet sie die Vernunft als einziges Heilmittel des Menschen und somit der Menschheit an. Hier versteckt sich schon lange in der Psychoanalyse ein geheimer Widerspruch, und er wächst jetzt gemäß den Dimensionen der Betrachtung ins Gewaltige hinaus: jetzt müßte Freud endlich die endgültige Entscheidung treffen, gerade hier im philosophischen Raum müßte er entweder der Vernunft oder der Triebhaftigkeit in der menschlichen Natur die Vorherrschaft zuerkennen. Aber diese Entscheidung wird ihm, der nicht lügen kann und nie sich selber belügen will, furchtbar schwer. Denn wie entscheiden? Mit erschüttertem Blick hat der alte Mann seine Lehre von der Triebübermacht über die bewußte Vernunft durch die Massenpsychose des Weltkriegs eben bestätigt gesehen: niemals war grauenhafter sichtbar geworden als in diesen vier apokalyptischen Jahren, wie dünn der Überwurf der Humanität noch immer den hemmungslosesten, haßvollsten Blutrausch der Menschheit deckt, und daß ein einziger Ruck aus dem Unbewußten genügt, um alle die kühnen Kunstbauten des Geistes und alle Tempel der Sittlichkeit einstürzen zu lassen. Die Religion, die Kultur, alles, was die Bewußtheit des Menschen adelt und erhöht, hatte er in diesem einen Augenblick preisgegeben gesehen für die wildere und urtümlichere Lust des Zerstörens; all die heiligen und heiliggesprochenen Mächte hatten sich abermals wieder als kindlich schwach erwiesen gegen den dumpfen, blutgierigen Trieb des Urmenschen in der Menschheit. Aber doch weigert sich etwas in Freud, diese moralische Niederlage der Menschheit im Weltkrieg als gültig anzuerkennen. Denn wozu die Vernunft und sein eigener jahrzehntelanger Dienst an der Wahrheit und Wissenschaft, wenn schließlich doch alle erziehliche Bewußtmachung der Menschheit ohnmächtig bleiben sollte gegen ihr Unbewußtes? Unbestechlich redlich, wagt Freud nicht, die Wirkungskraft der Vernunft zu verneinen und ebensowenig die unberechenbare des Triebs. So schiebt er schließlich die Antwort auf die selbstgestellte Frage vorsichtig in ein »Vielleicht«, in ein »Vielleicht irgend einmal«, in ein ganz weites drittes Reich der Seele hinüber, denn nicht ganz ungetröstet möchte er von dieser späten Wanderung zu sich selbst zurückkehren. Und es ist für mich ergreifend, wie seine sonst so strenge Stimme nun, da er am Abend seines Lebens der Menschheit noch ein kleines Lichtlein Hoffnung ans Ende ihres Weges stellen möchte, weich und versöhnlich wird: »Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum menschlichen Triebleben und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör verschafft hat. Am Ende, nach unzählig oft wiederholten Abweisungen findet sie es doch. Das ist einer der wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf, aber er bedeutet in sich nicht wenig. Das Primat des Intellekts liegt gewiß in weiter, aber wahrscheinlich doch nicht unerreichbarer Ferne.«
Das sind wunderbare Worte. Aber dies kleine Lichtlein im Dunkel flackert doch zu fern und ungewiß, als daß die fragende, die an der Wirklichkeit frierende Seele sich daran erwärmen könnte. Jedes »Wahrscheinliche« ist nur dünner Trost, und kein »Vielleicht« befriedigt den unstillbaren Glaubensdurst nach höheren Gewißheiten. Aber hier stehen wir vor der eigentlichen und unübersteigbaren Grenze der Psychoanalyse: wo das Reich der innern Gläubigkeiten, der schöpferischen Zuversicht beginnt, da endet ihre Macht, – in diese obern Sphären hat sie, die bewußt desillusionistische und jeden Wahn befeindende, keine Schwinge. Ausschließlich Wissenschaft vom Individuum, von der Einzelseele, weiß sie nichts und will sie nichts von einem gemeinschaftlichen Sinn oder einer metaphysischen Sendung der Menschheit wissen: darum erlichtet sie nur seelische Tatsachen, aber sie erwärmt nicht die menschliche Seele. Nur Gesundheit kann sie geben, jedoch Gesundheit, sie allein ist nicht genug. Um glücklich, um schöpferisch zu werden, bedarf die Menschheit immer wieder der Bestärkung durch den Glauben an einen Sinn ihres Daseins. Die Psychoanalyse aber hat keine Opiate wie die Christian Science, keine Rausch-Ekstasen wie Nietzsches dithyrambische Verheißungen, sie verheißt und verspricht nichts, sie schweigt lieber, statt zu trösten. Diese ihre Wahrhaftigkeit, ganz dem strengen und redlichen Geiste Sigmund Freuds entstammend, ist im moralischen Sinne wunderbar. Aber allem bloß Wahrhaften ist unvermeidlich ein Senfkorn Bitternis und Skepsis beigemengt, über allem bloß vernunfthaft Aufklärenden und Analysierenden schattet eine gewisse tragische Düsternis. Etwas Entgötterndes haftet unleugbar an der Psychoanalyse, etwas, was nach Erde und Vergängnis schmeckt, was wie alles Nurmenschliche nicht frei und froh macht; Redlichkeit kann den Geist großartig bereichern, nie jedoch das Gefühl völlig erfüllen, nie die Menschheit jenes Hinausstürzenwollen über den eigenen Rand lehren, diese ihre törichteste und doch notwendigste Lust. Der Mensch aber – wer hat dies großartiger bewiesen als Freud? – kann selbst im leiblichen Sinne nicht leben ohne den Traum, sein enger Körper würde zerbersten unter der Übermacht der unausgelebten Gefühle – wie sollte da die Seele der Menschheit es ertragen, ohne die Hoffnung eines höhern Sinns, ohne gläubige Träume zu bestehen? Mag auch alle Wissenschaft immer wieder den Widersinn dieses ihres gottschaffenden Spieles beweisen, immer wird sich ihre Bildnerlust wieder an einem neuen Weltsinn mühen müssen, um nicht in Nihilismus zu verfallen, denn diese Mühelust ist selbst schon alles geistigen Lebens ureigenster Sinn.
Für diesen Hunger der Seele nach Gläubigkeit hat die harte, die streng sachliche, die kaltklare Nüchternheit der Psychoanalyse keine Nahrung. Sie gibt Erkenntnis und nicht mehr, und weil ihr alle Weltgläubigkeit fehlt, kann sie immer nur eine Wirklichkeitsanschauung bleiben und nie Weltanschauung werden. Hier ist ihre Grenze. Sie vermochte näher als irgendeine geistige Methode vor ihr den Menschen bis an sein eigenes Ich heranzubringen, aber nicht – und dies wäre zur Ganzheit des Gefühls notwendig – über dies eigene Ich wieder hinaus. Sie löst und teilt und trennt, sie zeigt jedem Leben seinen eigenen Sinn, aber sie weiß nicht dies tausendfach Vereinzelte zu einem gemeinsamen Sinne zu binden. Darum müßte, um sie wahrhaft schöpferisch zu ergänzen, zu ihrer Denkform, der zerteilenden und erhellenden, noch eine andere treten, eine verbindende und verschmelzende – die Psychosynthese zur Psychoanalyse: diese Vereinigung wird vielleicht die Wissenschaft von morgen sein. Soweit Freud auch gelangt ist, über ihn hinaus sind noch weite Räume der Betrachtung frei. Und nachdem seine Deutekunst der Seele ihre geheimen Gebundenheiten gezeigt, dürften jetzt andere sie wieder ihre Freiheit lehren, ihr Strömen und Überströmen aus dem eigenen Wesen ins Weltall hinein.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.