Die Welt des Sexus
Auch das Unnatürliche ist Natur. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgend recht.
Goethe
Daß Sigmund Freud der Begründer einer heute gar nicht mehr entbehrlichen Sexualwissenschaft wurde, ist eigentlich ohne seine eigene Absicht geschehen. Aber es scheint zur geheimen Gesetzmäßigkeit seines Lebensganges zu gehören, daß ihn jedesmal der Weg über das ursprünglich Gesuchte hinausführt und Gebiete eröffnet, die er aus freiem Antrieb nie zu betreten gewagt hätte. Der Dreißigjährige würde wahrscheinlich noch ungläubig gelächelt haben, hätte ihm jemand geweissagt, es wäre ihm, dem Neurologen, vorbehalten, die Traumdeutung und die biologische Schichtung des Geschlechtslebens zum Gegenstand einer Wissenschaft zu erheben, denn nichts deutet in seinen privaten wie in seinen akademischen Neigungen von vornherein das geringste Interesse für so abwegige Betrachtungskreise an. Daß Freud zum sexuellen Problem gelangte, geschah nicht, weil er es suchte; sondern es kommt ihm auf der Gedankenlinie seiner Untersuchungen von selbst entgegen.
Es kommt ihm entgegen, zu seiner eigenen Überraschung, völlig ungerufen und völlig unerwartet, aus jener Tiefe, die er mit Breuer erschlossen hatte. Gemeinsam hatten sie, ausgehend von der Hysterie, die aufdeckende Formel gefunden, daß Neurosen und die meisten Seelenverstörungen entstehen, wenn ein Trieb an seiner ursprünglichen Entladungsform verhindert und unerfüllt ins Unterbewußtsein zurückgedrängt wird. Welcher Gattung aber gehören die Begehrungen an, die der Kulturmensch hauptsächlich zurückdrängt, die er, als seine intimsten und sich selbst peinlichsten, vor der Welt und sogar vor sich selbst versteckt? Es dauert nicht lange, bis sich Freud unüberhörbare Antwort gibt. Die erste psychoanalytische Behandlung einer Neurose zeigt unterdrückte erotische Affekte. Die zweite gleichfalls, die dritte ebenso. Und bald weiß Freud: immer oder fast immer verschuldet die Neurose ein Sexualtrieb, der sein eigenes Lustobjekt nicht erreichen kann und nun, in Hemmungen und Stauungen verwandelt, auf das seelische Leben drückt. Das erste Gefühl Freuds bei diesem ungewollten Fund mag Erstaunen gewesen sein, daß eine derart offenliegende Tatsache allen seinen Vorgängern entgangen war. Ist denn wirklich niemandem diese geradlinige Ursächlichkeit aufgefallen? Nein, sie steht in keinem Lehrbuch. Aber dann erinnert sich Freud plötzlich gewisser Andeutungen und Gespräche seiner berühmten Lehrer. Als Chrobak ihm eine Hysterikerin zur Nervenbehandlung überwies, hatte er ihn gleichzeitig diskret informiert, diese Frau sei, weil mit einem impotenten Manne verheiratet, trotz achtzehnjähriger Ehe Jungfrau geblieben, und grob spaßend fügt er seine persönliche Meinung bei, mit welchem sehr physiologischen und gottgewollten Eingriff diese Neurotikerin eigentlich am besten zu kurieren wäre. Ebenso hatte sein Lehrer Charcot in Paris bei ähnlichem Anlaß die Ursächlichkeit einer Nervenverstörung gesprächsweise bestimmt: »Mais c’est toujours la chose sexuelle, toujours!« Freud erstaunt. Sie hatten es also gewußt, seine Lehrer und wahrscheinlich unzählige ärztliche Kapazitäten vor ihnen! Aber – so fragt seine naive Redlichkeit – wenn sie es wußten, warum haben sie es geheim gehalten und nur gesprächsweise und nie öffentlich mitgeteilt?
Bald wird der junge Arzt energisch belehrt werden, warum jene erfahrenen Männer ihr Wissen vor der Welt zurückhielten. Denn kaum teilt Freud ruhig und sachlich sein Resultat in der Formel mit: »Neurosen entstehen, wo durch äußere oder innere Hindernisse die Befriedigung der erotischen Bedürfnisse in der Realität versagt ist«, so bricht von rechts und links erbitterter Widerstand gegen ihn los. Die Wissenschaft, damals noch unentwegte Fahnenträgerin der Moral, weigert sich, diese sexuelle Ätiologie öffentlich anzuerkennen; sogar sein Freund Breuer, der ihm doch selber die Hand lenkte, um das Geheimnis aufzuschließen, zieht sich eilig von der Psychoanalyse zurück, sobald er entdeckt, welche Büchse der Pandora er hier öffnen geholfen. Es dauert nicht lange, und Freud muß gewahr werden, daß man mit dieser Art Feststellungen Anno 1900 an einen Punkt rührt, wo die Seele genau wie der Körper am empfindlichsten und kitzlichsten ist, und daß die Eitelkeit des Zivilisationszeitalters lieber jede geistige Herabsetzung erträgt, als daran erinnert zu werden, daß noch immer die geschlechtliche Triebkraft in jedem einzelnen formbestimmend weiterwaltet und an den höchsten kulturellen Schöpfungen entscheidend beteiligt ist. »Die Gesellschaft glaubt an keine stärkere Bedrohung ihrer Kultur, als ihr durch die Befreiung der Sexualtriebe und deren Wiederkehr zu ihren ursprünglichen Zielen erwachsen würde. Die Gesellschaft liebt es also nicht, an dieses heikle Stück ihrer Begründung gemahnt zu werden. Sie hat gar kein Interesse daran, daß die Stärke der Sexualtriebe anerkannt und die Bedeutung des Sexuallebens für den einzelnen klargelegt werde. Sie hat vielmehr in erziehlicher Absicht den Weg eingeschlagen, die Aufmerksamkeit von diesem ganzen Gebiet abzulenken. Darum verträgt sie das gesamte Forschungsresultat der Psychoanalyse nicht und möchte es am liebsten als ästhetisch abstoßend, moralisch verwerflich oder als gefährlich brandmarken.«
Dieser Widerstand einer ganzen Zeitanschauung wirft sich Freud gleich beim ersten Schritt in den Weg. Und es gehört zum Ruhm seiner Redlichkeit, nicht nur, daß er den Kampf entschlossen aufgenommen hat, sondern daß er sich ihn durch seine eingeborene Unbedingtheit noch erschwerte. Denn Freud hätte alles oder beinahe alles ohne viel Ärgernis aussprechen können, was er sagte, wenn er sich nur bereit gefunden hätte, seine Genealogie des Geschlechtslebens vorsichtiger, umwegiger, verbindlicher zu formulieren. Nur ein Wortmäntelchen hätte er seinen Überzeugungen umzuhängen brauchen, sie ein wenig poetisch zu überschminken, und sie würden sich ohne arge Auffälligkeit in die Öffentlichkeit eingeschmuggelt haben. Vielleicht hätte es genügt, den wilden phallischen Trieb, dessen Wucht und Stoßkraft er in seiner Nacktheit der Welt zeigen wollte, statt Libido höflicher Eros zu nennen oder Liebe. Denn daß unsere seelische Welt vom Eros beherrscht sei, das hätte allenfalls platonisch geklungen. Aber Freud, der Unhold und allen Halbheiten abholde, nimmt harte, kantige, unverkennbare Wörter, er drückt sich an keiner Deutlichkeit vorbei: geradezu sagt er Libido, Lusttrieb, Sexualität, Geschlechtstrieb, statt Eros und Liebe. Freud ist immer zu ehrlich, um vorsichtig zu umschreiben, wenn er schreibt. »Il appelle un chat un chat«, er nennt alle geschlechtlichen und abwegigen Dinge bei ihren deutschen natürlichen Namen mit derselben Unbefangenheit wie ein Geograph seine Berge und Städte, ein Botaniker seine Pflanzen und Kräuter. Mit klinischer Kaltblütigkeit untersucht er alle – auch die als Laster und Perversitäten gebrandmarkten – Äußerungen des Geschlechtlichen, gleichgültig gegen die Entrüstungsausbrüche der Moralischen und die Schreckensschreie der Schamhaften; gewissermaßen mit verstopften Ohren dringt er geduldig und gelassen in das unvermutet aufgetane Problem ein und beginnt systematisch die erste seelengeologische Untersuchung der menschlichen Triebwelt.
Denn im Triebe erblickt Freud, der bewußt diesseitige und zutiefst antireligiöse Denker, die unterste, feurig flüssige Schicht unseres innern Erdreichs. Nicht die Ewigkeit will der Mensch, nicht ein Leben im Geiste begehrt nach seiner Auffassung die Seele vorerst: sie begehrt nur triebhaft blind. Universelles Begehren ist alles psychischen Lebens erster Atemzug. Wie der Körper nach Nahrung, so lechzt die Seele nach Lust; Libido, dieser urhafte Lustwille, dieser unstillbare Hunger der Seele, treibt sie der Welt entgegen. Aber – und hierin besteht Freuds eigentlicher Urfund für die Sexualwissenschaft – diese Libido hat zunächst keinen bestimmten Inhalt, ihr Sinn ist nur, Trieb aus sich heraus und über sich hinaus zu treiben. Und da nach Freuds schöpferischer Feststellung seelische Energieen immer verschiebbar sind, kann sie ihre Stoßkraft bald diesem, bald jenem Gegenstand zuwenden. Nicht immer also muß Lust sich im Widerspiel von Mann zum Weib und Weib zum Mann ereignen, sie drängt nur blind zur Entladung, sie ist die Spannung des Bogens, der noch nicht weiß, wohin er zielt, die stürzende Kraft des Stromes, der noch nicht die Mündung kennt, in die er sich ergießt. Sie treibt nur ihrer Entspannung entgegen, ohne zu ahnen welcher. Sie kann sich in reinen, normalen Geschlechtsakten auslösen und erlösen und ebenso zu sublimierten Leistungen in künstlerischer und religiöser Tätigkeit vergeistigen. Sie kann sich fehlbesetzen und abwegig werden, jenseits des Genitalischen die unerwartetsten Objekte mit ihrer Begierde »besetzend« und durch zahllose Zwischenschaltungen den ursprünglich geschlechtlichen Antrieb ganz von der körperlichen Sphäre wegleiten. Von der tierischen Brunst bis zu den feinsten Schwingungen des menschlichen Geistes vermag sie sich in alle Formen zu verwandeln, selbst formlos und unfaßlich und doch überall mit im Spiel. Immer aber, in allen niedern Verrichtungen und höchsten Dichtungen erlöst sie den einen und ursprünglichen Willen des Menschen nach Lust.
Mit dieser fundamentalen Umwertung Freuds ist die Einstellung zum Geschlechtsproblem mit einem Schlage völlig geändert. Da bisher die Psychologie, in Unkenntnis der Umwandlungsfähigkeit aller seelischen Energieen, das Geschlechtliche grob gleichbedeutend setzte mit den Funktionen der Geschlechtsorgane, galt Sexualität der Wissenschaft als Erörterung von Unterleibsfunktionen und darum als peinlich und unreinlich. Indem Freud den Begriff der Sexualität von der physiologischen Geschlechtsbetätigung ablöst, erlöst er ihn zugleich von seiner Enge und von der Diffamierung als »niedere« seelisch-körperliche Leistung; das vorahnende Wort Nietzsches »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in die letzten Gipfel seines Geistes hinauf« wird durch ihn als biologische Wahrheit enthüllt. In unzähligen Einzelfällen beweist er, wie diese stärkste Spannungskraft des Menschen in geheimnisvoller Fernleitung über Jahre und Jahrzehnte hinweg sich in ganz unvermuteten Äußerungen seines seelischen Lebens entlädt, wie durch unzählige Verwandlungen und Verstellungen, in den merkwürdigsten Ersatzhandlungen und Wunschformen die besondere Gebarung der Libido immer wieder durchschlägt. Wo also eine auffällige Sonderheit des Seelischen, eine Depression, eine Neurose, eine Zwangshandlung vorliegt, darf darum der Arzt in den meisten Fällen getrost auf eine Sonderheit oder Absonderlichkeit im Sexualschicksal schließen; dann liegt ihm, gemäß der Methode der Tiefenpsychologie, die Pflicht ob, den Kranken in seinem innern Leben bis an jenen Punkt zurückzuführen, wo durch ein Erlebnis jene Abweichung vom geraden normalen Triebgang erfolgt ist. Diese neue Art der Diagnostik bringt nun Freud abermals zu einer unvermuteten Entdeckung. Schon die ersten Psychoanalysen hatten ihm dargetan, daß jene verstörenden und sexuellen Erlebnisse des Neurotikers weit zurückliegen, und nichts war natürlicher, als sie in der Frühzeit des Individuums, der wahrhaft seelenplastischen Zeit zu suchen, denn einzig, was sich zur Wachstumszeit der Persönlichkeit in die noch weiche und darum klar aufnehmende Platte des werdenden Bewußtseins einschreibt, bleibt immer das eigentlich Unauslöschbare und Schicksalbestimmende für jeden Menschen: »Niemand meine, die ersten Eindrücke seiner Jugend verwinden zu können« (Goethe). Immer tastet sich also in jedem Krankheitsfalle Freud bis zur Pubertät zurück – eine frühere Zeit als diese scheint ihm zunächst nicht in Frage zu kommen: denn wie sollten geschlechtliche Eindrücke entstehen können vor der Geschlechtsfähigkeit? Völlig widersinnig scheint ihm damals selbst noch der Gedanke, sexuelles Triebleben über jene Grenzzone bis in die Kindheit hinein zu verfolgen, die, selig unbewußt, noch nichts von den Spannungen der drängenden, nach außen drängenden Säfte ahnt. Freuds erste Untersuchungen halten also bei der Mannbarkeit inne.
Aber bald kann sich Freud, angesichts mancher merkwürdiger Geständnisse, der Erkenntnis nicht mehr entziehen, daß bei mehreren seiner Kranken durch die Psychoanalyse Erinnerungen an viel frühzeitigere, gleichsam prähistorische Sexualerlebnisse mit unanfechtbarer Deutlichkeit zutage treten. Sehr klare Bekenntnisse seiner Patienten führten ihn dem Verdacht entgegen, auch die Epoche vor der Mannbarkeit, also die Kindheit, müsse bereits Geschlechtstrieb oder gewisse Vorstellungen davon enthalten. Immer dringlicher wird in der vorgetriebenen Untersuchung der Verdacht; Freud erinnert sich, was Kinderfrau und Schullehrer von solchen Frühmanifestationen geschlechtlicher Neugier zu berichten wissen, und mit einemmal klärt ihm seine eigene Entdeckung vom Unterschied bewußten und unbewußten seelischen Lebens lichthaft die Situation. Freud erkennt, daß nicht etwa erst im Zeitalter der Pubertät – denn woher könnte es kommen? – das Geschlechtsbewußtsein plötzlich in den Körper hineinfiltriert wird, sondern daß – wie die Sprache, tausendmal psychologischer als alle Schulpsychologen, es längst prachtvoll plastisch ausgedrückt hatte – der Geschlechtstrieb im halbreifen Menschen nur »erwacht«, daß er also schlafend (das will sagen: latent) längst schon im Kindeskörper vorhanden gewesen sein muß. Wie das Kind das Gehen in seinen Beinen hat als potentielle Kraft, ehe es zu gehen weiß, und den Sprachwillen, ehe es sprechen kann, so liegt die Sexualität – natürlich ohne eine Ahnung zielhafter Betätigung – längst in dem Kinde bereit. Das Kind weiß – entscheidende Formel! – um seine Sexualität. Es versteht sie nur nicht.
Hier vermute ich bloß, statt zu wissen: aber mir ist, als müßte Freud im ersten Augenblick vor dieser seiner eigenen Entdeckung erschrocken sein. Denn sie stürzt die geläufigsten Auffassungen in einer beinahe lästerlichen Weise um. Wenn es schon verwegen war, die seelische Wichtigkeit des Geschlechtlichen im Leben des Erwachsenen zu betonen und, wie alle andern behaupten: überzubetonen – welche Herausforderung der Gesellschaftsmoral erst diese revoltierende Auffassung, im Kinde, mit dem die Menschheit ja sprichwörtlich die Vorstellung der absoluten Reinheit, der Engelhaftigkeit und Trieblosigkeit verbindet, Spuren geschlechtlichen Gefühls entdecken zu wollen! Wie, auch dieses zarte, lächelnde blütenhafte Leben sollte schon von Lust wissen oder zumindest träumen? Absurd, widersinnig, frevelhaft, sogar antilogisch scheint zuerst dieser Gedanke, denn da die Organe des Kindes der Fortpflanzung gar nicht fähig sind, so müßte sich ja die furchtbare Formel ergeben: »Wenn das Kind überhaupt ein Sexualleben hat, so kann es nur von perverser Art sein.« Ein solcher Wort in der Welt von 1900 auszusprechen, war wissenschaftlicher Selbstmord. Aber Freud spricht es aus. Wo dieser unerbittliche Forscher einmal sichern Grund fühlt, da dringt er mit seiner konsequent bohrenden, sich Zug um Zug einschraubenden Kraft unaufhaltsam bis in die unterste Tiefe hinab. Und zu seiner eigenen Überraschung entdeckt er gerade in der unbewußtesten Form des Menschen, im Säugling, die gesuchte Ur- und Allform der Trieblust am sinnvollsten ausgeprägt. Gerade weil dort an der untersten Lebensgrenze noch kein einziger Lichtschein moralischen Bewußtseins in die ungehemmte Triebwelt hinableuchtet, stellt ihm dieses winzige Lebewesen Säugling die plastische Urform der Libido dar: Lust an sich zu saugen, Unlust von sich wegzustoßen. Von überallher schlürft dieses winzige Menschentier Lust in sich ein, von seinem eigenen Körper und der Umwelt, von der Mutterbrust, von Finger und Zehe, von Holz und Stoff, von Fleisch und Kleid; hemmungslos traumtrunken begehrt es, alles, was ihm wohltut, in seinen kleinen weichen Leib hineinzuziehen. In dieser Urlustform unterscheidet das dumpfe Wesen Kind noch nicht das ihm später angelernte Mein und Dein, es spürt die Grenzen noch nicht, weder die körperlichen noch die sittlichen, die ihm später die Erziehung errichtet: ein anarchisches, panisches Wesen, das mit unstillbarer Sauglust das All in sein Ich ziehen will, führt es alles, was seinen winzigen Fingern erreichbar ist, an die ihm einzig bekannte Lustquelle, an den saugenden Mund (weshalb Freud diese Epoche die orale nennt). Unbefangen spielt es mit seinen Gliedern, ganz aufgelöst in sein lallendes und saugendes Begehren und gleichzeitig erbittert alles ablehnend, was ihm dieses traumhaft wilde Einschlürfen stört. In dem Säugling, dem »Noch-nicht-Ich«, dem dumpfen »Es«, lebt sich einzig und allein die universale Libido des Menschen noch ziellos und objektlos aus. Dort trinkt das unbewußte Ich noch gierig alle Lust von den Brüsten der Welt.
Dieses erste autoerotische Stadium dauert aber nicht lange. Bald beginnt das Kind zu erkennen, daß sein Körper Grenzen habe; ein kleines Leuchten zuckt auf in dem winzigen Gehirn, ein erstes Unterscheiden setzt ein zwischen Außen und Innen. Zum erstenmal spürt das Kind den Widerstand der Welt und muß erfahren, daß dieses Außen eine Macht ist, von der man abhängig wird. Strafe belehrt es bald schmerzhaft über ein ihm unfaßbares Gesetz, das nicht duldet, Lust aus allen Quellen unbeschränkt zu schöpfen: es wird ihm verboten, sich nackt zu zeigen, seine Exkremente anzufassen und sich an ihnen zu freuen; unbarmherzig wird es gezwungen, die amoralische Einheit des Gefühls aufzugeben und gewisse Dinge als erlaubte, andere als unerlaubte zu unterscheiden. Die Kulturforderung beginnt, dem kleinen wilden Menschen ein soziales, ein ästhetisches Gewissen einzubauen, einen Kontrollapparat, mit dessen Hilfe er seine Handlungen in gute und böse scheiden kann. Und mit dieser Erkenntnis ist der kleine Adam aus dem Paradiese der Unverantwortlichkeit vertrieben.
Gleichzeitig aber setzt von innen ein gewisser Rücklauf des Lustwillens ein: er tritt im heranwachsenden Kinde zurück gegenüber dem neuen Trieb der Selbstentdeckung. Aus dem »Es«, dem unbewußt triebhaften, formt sich ein »Ich«, und diese Entdeckung seines Ich bedeutet für das Gehirn eine so starke Anspannung und Beschäftigung, daß die ursprünglich panisch vortretende Lustbegier darüber vernachlässigt wird und in einen Zustand der Latenz tritt. Auch dieser Zustand der Selbstbeschäftigung geht dem später Erwachsenen als Erinnerung nicht vollkommen verloren, bei manchem bleibt er sogar als narzißtische Tendenz (wie Freud sich ausdrückt) bestehen, als gefährliche egozentrische Neigung, sich einzig mit sich selbst zu befassen und jede Gefühlsbindung mit der Welt abzulehnen. Der Lusttrieb, der im Säugling seine All- und Urform zeigt, wird im Heranwachsenden wieder unsichtbar, er verkapselt sich. Zwischen der autoerotischen und panerotischen Form des Säuglings und der Geschlechtserotik des Mannbaren liegt ein Winterschlaf der Leidenschaften, ein Dämmerzustand, während dessen sich die Kräfte und Säfte zu zielvoller Entladung vorbereiten.
Wenn dann in dieser zweiten, wieder sexuell betonten Epoche, jener der Pubertät, der schlummernde Trieb allmählich aufwacht, wenn die Libido sich wieder weltwärts wendet, wenn sie wieder eine »Besetzung« sucht, ein Objekt, auf das sie ihre Gefühlspannung übertragen kann – in diesem entscheidenden Augenblick lenkt der biologische Wille der Natur mit entschlossenem Fingerzeig den Neuling in die natürliche Richtung der Fortpflanzung. Unverkennbare Veränderungen am Körper in der Pubertätszeit weisen den jungen Mann, das reifende Mädchen darauf hin, daß die Natur mit ihnen etwas vor habe. Und diese Merkzeichen deuten klar auf die Genitalzone. Sie zeigen damit den Weg, von dem die Natur will, daß der Mensch ihn gehe, um ihrer geheimen und verewigenden Absicht zu dienen: der Fortpflanzung. Nicht mehr spielhaft wie einstmals im Säugling soll die Libido gleichsam sich selber genießen, sondern sich zweckdienlich dem unfaßbaren Weltplan unterordnen, der sich im zeugenden und gezeugten Menschen immer neu erfüllt. Versteht und gehorcht das Individuum diesem gebietenden Fingerzeig der Natur, bindet sich der Mann im schöpferischen Akt des Geschlechts an die Frau, die Frau an den Mann, hat er alle andersartigen Lustmöglichkeiten seiner einstigen panischen All-Lust vergessen, so ist die geschlechtliche Entwicklung dieses Menschenwesens richtig und regelhaft vor sich gegangen, und sein individueller Trieb wirkt sich in der normalen, natürlichen Zielrichtung aus.
Dieser »zweizeitige Rhythmus« bestimmt die Entwicklung des ganzen menschlichen Geschlechtslebens, und für Millionen und aber Millionen ordnet sich derart der Lusttrieb spannungslos diesem gesetzmäßigen Ablauf ein: All-Lust und Selbstlust im Kinde, Zeugungsdrang im Erwachsenen. Völlig selbstverständlich dient der Normale der Absicht der Natur, die ihn ausschließlich zu ihrem metaphysischen Endzweck der Fortpflanzung verwerten will. Aber in einzelnen, verhältnismäßig seltenen Fällen, gerade in jenen aber, die den Seelenarzt beschäftigen, wird eine verhängnisvolle Störung dieses geraden und gesunden Ablaufs erkennbar. Eine Anzahl von Menschen kann sich, aus einem jedesmal nur individuell aufzudeckenden Grunde, nicht entschließen, ihren Lusttrieb in die von der Natur anempfohlene Form restlos überzuleiten; bei ihnen sucht sich die Libido, die geschlechtliche Energie immer eine bestimmte andere Zielrichtung als die normale zu ihrer lustvollen Auslösung. Bei diesen Anomalen und Neurotikern hat sich durch eine Fehlstellung innerhalb der Erlebnisstrecke die sexuelle Neigung auf ein falsches Geleise verschoben und kommt von dieser Einstellung nicht mehr los. Perverse, andersartig Eingestellte sind also nach Freuds Auffassung nicht erblich Belastete oder Kranke oder gar seelische Verbrecher, sondern meist Menschen, die sich an irgendeine andere Form des Lustgewinns aus ihrer vorgenitalischen Epoche verhängnisvoll treu erinnern, an ein Lusterlebnis ihrer Entwicklungszeit und nun aus tragischem Wiederholungszwang immer und einzig Lust in dieser einen Richtung suchen. So stehen, unglückliche Gestalten, Menschen als Erwachsene mit eigentlich infantilen Begehrungsformen mitten im Leben und finden infolge jenes Erinnerungszwanges keine Lust an der ihrem Alter normalen und von der Gesellschaft als selbstverständlich eingesetzten Geschlechtsbetätigung; immer wollen sie wieder jenes (meist ihnen längst unbewußt gewordene) Erlebnis lustvoll wiederleben und suchen dieser Erinnerung Ersatz in der Realität. Den Schulfall einer solchen Pervertierung durch ein einziges Kindheitserlebnis hatte in der Literatur Jean Jacques Rousseau in seiner mitleidslosen Selbstdarstellung längst klassisch gezeichnet. Seine strenge und heimlich geliebte Lehrerin hatte ihn als Kind grimmig und oft mit der Rute gezüchtigt, aber zu seinem eigenen Erstaunen hatte der Knabe bei diesem Züchtigungsschmerz durch seine Erzieherin deutlich Lust empfunden. In dem (von Freud so großartig festgestellten) Latenzzustand vergißt er vollkommen diese Episode, aber sein Körper, seine Seele, sein Unbewußtes vergißt dieses Erlebnis nicht. Und wie dann der Herangereifte mit Frauen in normalem Verkehr Befriedigung sucht, gelangt er niemals zu einer körperlichen Erfüllung. Damit er einer Frau sich vereinen könne, muß sie zuvor jenen historischen Züchtigungsvorgang mit einer Rute erneuern, und so bezahlt Jean Jacques Rousseau die verhängnisvolle und abwegige Früherweckung seines Sexualempfindens zeitlebens mit einem unheilbaren Masochismus, der ihn trotz seines innern Protestes immer wieder auf jene ihm einzige Lustform verweist. Perverse (unter diesem Begriff faßt Freud alle jene zusammen, die Lustbefriedigung auf anderm Wege als dem der Fortpflanzung dienenden suchen) sind also weder kranke noch anarchisch eigenwillige Naturen, die in bewußt frechem Aufruhr die allgemeinen Satzungen überschreiten, sondern Gefangene gegen ihren Willen, festgekettet an ein Erlebnis ihrer Frühzeit, in einem Infantilismus Zurückgebliebene, die überdies das gewaltsame Niederkämpfenwollen ihres abseitigen Triebwillens noch zu Neurotikern und Psychotikern macht. Eine Loslösung von dieser Zwangseinstellung kann darum nie der Justiz gelingen, die mit ihrer Drohung den Abwegigen noch tiefer in seine innere Verstrickung treibt, und ebensowenig der Moral, die an die »Vernunft« appelliert, sondern einzig dem Seelenarzt, der durch teilnehmende Freilegung das ursprüngliche Erlebnis dem Kranken verständlich macht. Denn nur durch Selbsterkenntnis des innern Konflikts – dies ist Freuds Axiom in der Seelenlehre – kann dessen Erledigung gelingen: um sich zu heilen, muß man vorerst den Sinn seiner Krankheit wissen.
Jede seelische Verstörung beruht also nach Freud auf einem – meist erotisch bedingten – Persönlichkeitserlebnis, und selbst, was wir Veranlagung und Vererbung nennen, stellt nichts anderes dar als in die Nerven eingekerbte Erlebnisse vorangegangener Geschlechter; Erlebnis ist darum für die Psychoanalyse das Formentscheidende jeder Seelengestaltung, und darum sucht sie jeden einzelnen Menschen immer nur individuell aus seiner erlebten Vergangenheit zu verstehen. Für Freud gibt es keine andere als Individualpsychologie und Individualpathologie: alles innerhalb des seelischen Lebensraumes darf nie von einer Regel, von einem Schema her betrachtet, sondern jedesmal müssen die Ursächlichkeiten in ihrer Einmaligkeit aufgedeckt werden. Das schließt natürlich nicht aus, daß die meisten sexuellen Früherlebnisse von einzelnen, obwohl sie selbstverständlich persönlich gefärbt sind, untereinander doch gewisse typische Ähnlichkeitsformen aufweisen; so wie im Traum immer wieder Unzählige die genaue gleiche Gattungsform von Träumen erleben, etwa den Flugtraum, den Prüfungstraum, den Verfolgungstraum, so glaubt Freud im frühen Sexualerleben gewisse typische Gefühlseinstellungen als beinahe zwanghaft erkennen zu müssen, und um die Aufdeckung und Anerkennung dieser Typenformen, dieser »Komplexe«, hat er sich mit besonderer Leidenschaft bemüht. Der berühmteste unter ihnen – auch der berüchtigtste – ist der sogenannte Ödipuskomplex geworden, den Freud sogar als einen der Grundpfeiler seines psychoanalytischen Lehrgebäudes bezeichnet (während er mir nicht mehr als einer jener Stützpfeiler erscheint, der nach vollendetem Bau ohne Gefahr entfernt werden kann). Er hat inzwischen so verhängnisvolle Popularität erlangt, daß es kaum not tut, ihn ausführlich zu erläutern: Freud nimmt an, daß jene verhängnisvolle Gefühlseinstellung, die sich in der griechischen Sage an Ödipus tragisch verwirklicht, nämlich daß der Sohn den Vater tötet und die Mutter besitzt, daß diese für unser Gefühl barbarisch anmutende Situation noch heute in jeder Kinderseele wunschhaft vorhanden ist, weil – dies Freuds meist umstrittene Annahme! – die erste erotische Gefühlseinstellung des Kindes immer auf die Mutter, seine erste aggressive Tendenz gegen den Vater zielt. Dieses Kräfteparallelogramm von Mutterliebe und Vaterhaß glaubt Freud als natürliche und unausweichliche erste Gruppierung in jedem kindlichen Seelenleben nachweisen zu können, und ihm zur Seite stellt er eine Reihe anderer unterweltlicher Gefühle wie die Kastrationsangst, den Inzestwunsch – Gefühle, die gleichfalls in den Urmythen der Menschheit bildnerische Gestaltung erfahren haben (denn Mythen und Legenden der Völker sind nach Freuds kulturbiologischer Auffassung nichts anderes als »abreagierte« Wunschträume ihrer Frühzeit). Alles also, was die Menschheit längst als unkulturell von sich zurückgestoßen hat, Mordlust und Inzest und Vergewaltigung, alle diese finstern Verirrungen ihres Hordenlebens, all das zuckt noch einmal wunschhaft in der Kindheit, dieser seelischen Urstufe des Menschen, wieder auf: jedes einzelne Individuum muß in seiner ethischen Entwicklung die ganze Kulturgeschichte der Menschheit symbolisch wiederholen. Unsichtbar, weil unbewußt, tragen wir alle in unserem Blute versenkt noch alte barbarische Instinkte in uns weiter, und keine Kultur schützt den Menschen völlig vor einem unvermuteten Aufleuchten solcher ihm selbst fremder Instinkte und Gelüste: geheimnisvoll führen in unserm Unbewußten immer wieder Strömungen zurück in jene Urzeiten vor aller Satzung und Sitte. Und mögen wir alle Kraft einsetzen, diese Triebwelt von unserm wachen Tun fernzuhalten – wir können sie bestenfalls nur im geistigen und sittlichen Sinne fruchtbar machen, niemals aber uns völlig von ihr ablösen.
Um dieser angeblich »zivilisationsfeindlichen« Anschauung willen, die in gewissem Sinne das tausendjährige Bemühen der Menschheit um eine völlige Triebbeherrschung als vergeblich betrachtet und die Unbesiegbarkeit der Libido unablässig betont, haben Freuds Gegner seine ganze Geschlechtslehre Pansexualismus genannt. Er überschätze, so beschuldigen sie ihn, den Geschlechtstrieb als Psychologe dadurch, daß er ihm einen so überwiegenden Einfluß auf unser seelisches Leben zuerkenne, und er übertreibe als Arzt, indem er versuche, jede psychische Verstörung einzig auf diesen Punkt zurückzuführen und von ihm aus zu heilen. In diesem Einwand ist nach meinem Empfinden Wahres mit Unwahrhaftigem undeutlich gemischt. Denn tatsächlich hat Freud zwar niemals das Lustprinzip als die einzige weltbewegende Seelenkraft monistisch bezeichnet. Er weiß wohl, daß alle Spannung und Bewegung – und was ist Leben anderes als dies? – einzig dem Polemos, dem Widerstreit, entstammt. Darum hat er von allem Anfang an der Libido, dem zentrifugalen, dem über das Ich hinausbegehrenden, dem Bindung suchenden Trieb, einen andern Trieb theoretisch entgegengestellt, den er zuerst Ichtrieb, dann Aggressionstrieb und schließlich Todestrieb nennt – jenen Trieb, der statt zur Zeugung zur Vernichtung, statt zum Schöpferischen zur Zerstörung, statt ins All ins Nichts drängt. Nur – und bloß in diesem Sinne haben seine Gegner nicht völlig unrecht – ist es Freud nicht gelungen, diesen Gegentrieb mit so beweisender und bildnerischer Kraft darzustellen wie den Sexualtrieb: das Reich der sogenannten »Ichtriebe« ist in seinem weltphilosophischen Bilde ziemlich schattenhaft geblieben, denn wo Freud nicht ganz deutlich sieht, überall also im rein spekulativen Raum, fehlt ihm das Herrlich-Plastische seiner abgrenzenden Darstellungsfähigkeit. So mag tatsächlich eine gewisse Überwertung des Sexuellen in seinem Werke und seiner Therapie vorwalten, aber dieses starke Betonen war historisch bedingt durch die von den andern jahrzehntelang systematisch geübte Verschweigung und Unterwertung des Geschlechtlichen. Ein Übertreiben tat not, um die Zeit für den Gedanken zu erobern; und indem Freud den Damm des Verschweigens mit Gewalt durchbrach, hat er die Diskussion überhaupt erst in Fluß gebracht. In Wirklichkeit hat diese vielbeschrieene Überbetonung des Geschlechtlichen niemals eine wirkliche Gefahr bedeutet, und was an Übertreibungen den ersten Versuchen innewohnte, ist längst überwunden durch den ewigen Regulator aller Werte: die Zeit. Heute, fünfundzwanzig Jahre seit Beginn der Darlegungen Freuds, kann auch der Ängstlichste darüber beruhigt sein, daß durch unser neues, ehrliches, besseres und wissenschaftlicheres Wissen um das Problem der Sexualität die Welt durchaus nicht sexueller, geschlechtswütiger und amoralischer geworden ist, sondern daß im Gegenteil die Freudische Lehre nur ein seelisches Gut zurückerobert hat, das die vorhergegangene Generation mit ihrer Prüderie vertan: die Unbefangenheit des Geistes vor allem Körperlichen. Ein ganzes neues Geschlecht hat gelernt – und schon wird es in den Schulen gelehrt –, den innern Entscheidungen nicht mehr auszubiegen, nicht die wichtigsten, die persönlichsten Probleme zu verstecken, sondern gerade das Gefährliche und Geheimnisvolle der innern Krisen sich selbst mit möglichster Klarheit bewußt zu machen. In allem Wissen um sich aber ist schon Freiheit gegen sich selbst, und zweifellos wird diese neue freiere Geschlechtsmoral sich für die kommende Kameradschaft der Geschlechter sittlich schöpferischer bewähren als die alte Verschweigemoral, deren endgültige Erledigung beschleunigt und bereinigt zu haben zu den unleugbaren Verdiensten dieses einen kühnen und freien Mannes gehört. Immer dankt ein ganzes Geschlecht seine äußere Freiheit der inneren Freiheit eines einzelnen Menschen, immer beginnt jede neue Wissenschaft mit einem Ersten, der allen andern das Problem erst bewußt gemacht.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.