Incipit Hitler
Es bleibt ein unumstößliches Gesetz der Geschichte, daß sie gerade den Zeitgenossen versagt, die großen Bewegungen, die ihre Zeit bestimmen, schon in ihren ersten Anfängen zu erkennen. So vermag ich mich nicht zu erinnern, wann ich zum erstenmal den Namen Adolf Hitler gehört, diesen Namen, den wir nun seit Jahren genötigt sind, jeden Tag, ja fast jede Sekunde in irgendeinem Zusammenhang mitzudenken oder auszusprechen, den Namen des Menschen, der mehr Unheil über unsere Welt gebracht als irgendeiner in den Zeiten. Es muß jedenfalls ziemlich früh gewesen sein, denn unser Salzburg war mit seinen zweieinhalb Stunden Eisenbahndistanz eine Art Nachbarstadt Münchens, so daß auch dessen bloß lokale Angelegenheiten uns rasch vertraut wurden. Ich weiß nur, daß eines Tages – das Datum könnte ich nicht mehr rekonstruieren – ein Bekannter herüberkam und klagte, München würde schon wieder unruhig. Insbesondere sei da ein wüster Agitator namens Hitler, der Versammlungen mit wilden Prügeleien abhalte und in vulgärster Art gegen die Republik und die Juden hetze.
Der Name fiel leer und gewichtlos in mich hinein. Er beschäftigte mich nicht weiter. Denn wie viele heute längst verschollene Namen von Agitatoren und Putschisten tauchten damals im zerrütteten Deutschland auf, um ebenso bald wieder zu verschwinden. Der des Kapitän Ehrhardt mit seinen Baltikumtruppen, der des Wolfgang Kapp, die der Fememörder, der bayrischen Kommunisten, der rheinischen Separatisten, der Freikorpsführer. Hunderte solcher kleiner Blasen schwammen durcheinander in der allgemeinen Gärung, die, kaum zerplatzt, nicht mehr zurückließen als einen üblen Geruch, der deutlich den geheimen Fäulnisprozeß in der noch offenen Wunde Deutschlands verriet. Auch das Blättchen jener neuen nationalsozialistischen Bewegung glitt mir einmal durch die Hand, der ›Miesbacher Anzeiger‹ (aus dem später der ›Völkische Beobachter‹ erwachsen sollte). Aber Miesbach war doch nur ein kleines Dörfchen und die Zeitung ordinär geschrieben. Wer kümmerte sich darum?
Dann aber tauchten mit einemmal in den nachbarlichen Grenzorten Reichenhall und Berchtesgaden, in die ich fast allwöchentlich hinüberkam, kleinere und immer größere Trupps junger Burschen in Stulpenstiefeln und braunen Hemden auf, jeder eine grellfarbige Hakenkreuzbinde am Arm. Sie veranstalteten Versammlungen und Aufmärsche, paradierten durch die Straßen mit Liedern und Sprechchören, beklebten die Wände mit riesigen Plakaten und beschmierten sie mit Hakenkreuzen; zum erstenmal wurde ich gewahr, daß hinter diesen plötzlich aufgetauchten Rotten finanzielle und auch sonst einflußreiche Kräfte stehen mußten. Nicht der eine Mann Hitler, der damals noch ausschließlich in bayrischen Bierkellern seine Reden hielt, konnte diese Tausende junger Burschen zu einem so kostspieligen Apparat aufgerüstet haben. Es mußten stärkere Hände sein, welche diese neue ›Bewegung‹ vorschoben. Denn die Uniformen waren blitzblank, die ›Sturmtrupps‹, die von Stadt zu Stadt geschickt wurden, verfügten inmitten einer Armutszeit, da die wirklichen Veteranen der Armee noch in zerfetzten Uniformen herumgingen, über einen erstaunlichen Park von tadellos neuen Automobilen, Motorrädern und Lastwagen. Außerdem war es offenkundig, daß militärische Führung diese jungen Leute taktisch trainierte – oder, wie man damals sagte »paramilitärisch« disziplinierte – und daß es die Reichswehr selbst sein mußte, in deren Geheimdienst Hitler als Spitzel von Anfang an gestanden, die hier an einem ihr bereitwillig gelieferten Material regelmäßige technische Schulung vornahm. Zufällig hatte ich bald Gelegenheit, eine dieser im voraus geübten ›Kampfhandlungen‹ zu beobachten. In einem der Grenzorte, wo gerade eine sozialdemokratische Versammlung in friedlichster Weise abgehalten wurde, sausten plötzlich vier Lastautos heran, jedes vollgepackt mit Gummiknüppel tragenden nationalsozialistischen Burschen, und genau wie ich es damals in Venedig am Markusplatz gesehen, überrumpelten sie die Unvorbereiteten durch Geschwindigkeit. Es war dieselbe, den Faschisten abgelernte Methode, nur noch militärisch präziser eingedrillt und im deutschen Sinn bis ins kleinste systematisch vorbereitet. Blitzschnell sprangen auf einen Pfiff die SA.-Männer von den Autos, hieben mit ihren Gummiknüppeln auf jeden ein, der sich ihnen in den Weg stellte, und waren, ehe die Polizei eingreifen oder die Arbeiter sich sammeln konnten, schon wieder auf die Autos aufgesprungen und sausten davon. Was mich verblüffte, war die exakte Technik dieses Ab- und Aufspringens, das jedesmal auf einen einzigen scharfen Pfiff des Rottenführers erfolgte. Man sah, jeder einzelne Bursche wußte im voraus bis in Muskel und Nerv, mit welchem Griff und bei welchem Rad des Autos und an welchem Platz er aufzuspringen hatte, um nicht dem Nächsten in den Weg zu kommen und dadurch das Ganze zu gefährden. Es war keineswegs persönliche Geschicklichkeit, sondern jeder dieser Handgriffe mußte dutzende und vielleicht hunderte Male im voraus in Kasernen und auf Exerzierplätzen geübt worden sein. Von Anfang an – das zeigte dieser erste Blick – war diese Truppe auf Angriff, Gewalt und Terror geschult.
Bald hörte man mehr von diesen unterirdischen Manövern im bayrischen Land. Wenn alles schlief, schlichen die jungen Burschen aus den Häusern und versammelten sich zu nächtlichen ›Geländeübungen‹; Offiziere der Reichswehr in oder außer Dienst, vom Staat oder den geheimnisvollen Geldgebern der Partei bezahlt, drillten diese Trupps ein, ohne daß die Behörden für diese seltsamen Nachtmanöver viel Aufmerksamkeit zeigten. Schliefen sie wirklich oder drückten sie nur die Augen zu? Hielten sie die Bewegung für gleichgültig oder förderten sie sogar heimlich ihre Ausbreitung? Jedenfalls wurden selbst die, welche die Bewegung unterirdisch stützten, dann erschreckt durch die Brutalität und Raschheit, mit der sie plötzlich auf die Beine sprang. Eines Morgens wachten die Behörden auf und München war in Hitlers Hand, alle Amtsstellen besetzt, die Zeitungen mit dem Revolver gezwungen, die vollzogene Revolution triumphierend anzukündigen. Wie aus den Wolken, zu denen die ahnungslose Republik bloß träumerisch emporgeblickt, erschien der deus ex machina, General Ludendorff, dieser erste von vielen, die glaubten, Hitler überspielen zu können, und die statt dessen von ihm genarrt wurden. Vormittags begann der berühmte Putsch, der Deutschland erobern sollte, mittags (ich habe hier nicht Weltgeschichte zu erzählen) war er bekanntlich bereits zu Ende. Hitler flüchtete und wurde bald verhaftet; damit schien die Bewegung erloschen. In diesem Jahr 1923 verschwanden die Hakenkreuze, die Sturmtrupps und der Name Adolf Hitlers fiel beinahe in Vergessenheit zurück. Niemand dachte mehr an ihn als einen möglichen Machtfaktor.
Erst nach ein paar Jahren tauchte er wieder auf, und nun trug ihn die aufbrausende Welle der Unzufriedenheit rasch hoch. Die Inflation, die Arbeitslosigkeit, die politischen Krisen und nicht zum mindesten die Torheit des Auslands hatten das deutsche Volk aufgewühlt; ein ungeheures Verlangen nach Ordnung war in allen Kreisen des deutschen Volkes, dem Ordnung von je mehr galt als Freiheit und Recht. Und wer Ordnung versprach – selbst Goethe hat gesagt, daß Unordnung ihm unlieber wäre als selbst eine Ungerechtigkeit –, der hatte von Anbeginn Hunderttausende hinter sich.
Aber wir merkten noch immer nicht die Gefahr. Die wenigen unter den Schriftstellern, die sich wirklich die Mühe genommen hatten, Hitlers Buch zu lesen, spotteten, anstatt sich mit seinem Programm zu befassen, über die Schwülstigkeit seiner papiernen Prosa. Die großen demokratischen Zeitungen – statt zu warnen – beruhigten tagtäglich von neuem ihre Leser, die Bewegung, die wirklich nur mühsam mit den Geldern der Schwerindustrie und verwegener Schuldenmacherei ihre enorme Agitation finanzierte, müsse unvermeidlich morgen oder übermorgen zusammenbrechen. Aber vielleicht ist im Ausland nie der eigentliche Grund verständlich gewesen, warum Deutschland die Person und die steigende Macht Hitlers in all diesen Jahren dermaßen unterschätzte und bagatellisierte: Deutschland ist nicht nur immer ein Klassenstaat gewesen, sondern innerhalb dieses Klassenideals außerdem noch mit einer unerschütterlichen Überschätzung und Vergötterung der ›Bildung‹ belastet. Abgesehen von einigen Generälen blieben dort die hohen Stellen im Staat ausschließlich den sogenannten ›akademisch Gebildeten‹ vorbehalten; während in England ein Lloyd George, in Italien ein Garibaldi und Mussolini, in Frankreich ein Briand wirklich aus dem Volke zu den höchsten Staatsmännern aufgestiegen waren, galt es für den Deutschen als undenkbar, daß ein Mann, der nicht einmal die Bürgerschule zu Ende besucht, geschweige denn eine Hochschule absolviert, daß jemand, der in Männerheimen übernachtet und auf heute noch nicht aufgeklärte Weise jahrelang ein dunkles Leben gefristet, je einer Stellung sich auch nur nähern könnte, die ein Freiherr vom Stein, ein Bismarck, ein Fürst Bülow innegehabt. Nichts so sehr als dieser Bildungshochmut hat die deutschen Intellektuellen verleitet, in Hitler noch den Bierstubenagitator zu sehen, der nie ernstlich gefährlich werden könnte, als er längst schon dank seiner unsichtbaren Drahtzieher sich mächtige Helfer in den verschiedensten Kreisen gewonnen. Und selbst als er an jenem Januartag 1933 Kanzler geworden war, betrachteten die große Menge und sogar diejenigen, die ihn an diesen Posten geschoben, ihn nur als provisorischen Platzhalter und die nationalsozialistische Herrschaft als Episode.
Damals offenbarte sich die zynisch geniale Technik Hitlers zum erstenmal in großem Stil. Er hatte seit Jahren nach allen Seiten hin Versprechungen gemacht und bei allen Parteien wichtige Exponenten gewonnen, von denen jeder meinte, sich der mystischen Kräfte des ›unbekannten Soldaten‹ für seine Zwecke bedienen zu können. Aber dieselbe Technik, die Hitler später in der großen Politik geübt, Bündnisse mit Eid und deutscher Treuherzigkeit gerade mit jenen zu schließen, die er vernichten und ausrotten wollte, feierte ihren ersten Triumph. So vollkommen wußte er nach allen Seiten hin durch Versprechungen zu täuschen, daß am Tage, da er zur Macht kam, Jubel in den allergegensätzlichsten Lagern herrschte. Die Monarchisten in Doorn meinten, er sei des Kaisers getreuester Wegbereiter, aber ebenso frohlockten die bayrischen, die wittelsbachischen Monarchisten in München; auch sie hielten ihn für ihren Mann. Die Deutschnationalen hofften, er werde ihnen das Holz kleinschlagen, das ihre Öfen heizen sollte; ihr Führer Hugenberg hatte sich vertraglich den wichtigsten Platz gesichert in Hitlers Kabinett und glaubte damit den Fuß im Steigbügel zu haben – natürlich flog er trotz beschworener Vereinbarung nach den ersten Wochen hinaus. Die Schwerindustrie fühlte durch Hitler sich von der Bolschewistenangst entlastet, sie sah den Mann an der Macht, den sie seit Jahren im geheimen finanziert; und gleichzeitig atmete das verarmte Kleinbürgertum, dem er in hundert Versammlungen die ›Brechung der Zinsknechtschaft‹ versprochen hatte, begeistert auf. Die kleinen Händler erinnerten sich an die Zusage der Schließung der großen Warenhäuser, ihrer gefährlichsten Konkurrenz (eine Zusage, die nie erfüllt wurde), und insbesondere dem Militär war Hitler willkommen, weil er militaristisch dachte und den Pazifismus beschimpfte. Sogar die Sozialdemokraten sahen seinen Aufstieg nicht so unfreundlich an, wie man hätte erwarten sollen, weil sie hofften, daß er ihre Erzfeinde, die hinter ihnen so unangenehm drängenden Kommunisten, abtun würde. Die verschiedensten, die gegensätzlichsten Parteien betrachteten diesen ›unbekannten Soldaten‹, der jedem Stand, jeder Partei, jeder Richtung alles versprochen und beschworen hatte, als ihren Freund – sogar die deutschen Juden waren nicht sehr beunruhigt. Sie machten sich vor, ein ›ministre Jacobin‹ sei kein Jakobiner mehr, ein Kanzler des Deutschen Reiches werde die Vulgaritäten eines antisemitischen Agitators selbstverständlich abtun. Und schließlich, was konnte er Gewalttätiges durchsetzen in einem Staate, wo das Recht fest verankert war, wo im Parlament die Majorität gegen ihn stand und jeder Staatsbürger seine Freiheit und Gleichberechtigung nach der feierlich beschworenen Verfassung gesichert meinte?
Dann kam der Reichstagsbrand, das Parlament verschwand, Göring ließ seine Rotten los, mit einem Hieb war alles Recht in Deutschland zerschlagen. Schaudernd vernahm man, daß es mitten im Frieden Konzentrationslager gab und daß in die Kasernen geheime Gelasse eingebaut wurden, in denen man unschuldige Menschen ohne Gericht und Formalität erledigte. Das konnte nur ein Ausbruch erster sinnloser Wut sein, sagte man sich. Derlei kann nicht dauern im zwanzigsten Jahrhundert. Aber es war erst der Anbeginn. Die Welt horchte auf und weigerte sich zunächst, das Unglaubhafte zu glauben. Aber schon in jenen Tagen sah ich die ersten Flüchtlinge. Sie waren nachts über die Salzburger Berge geklettert oder durch den Grenzfluß geschwommen. Ausgehungert, abgerissen, verstört starrten sie einen an; mit ihnen hatte die panische Flucht vor der Unmenschlichkeit begonnen, die dann über die ganze Erde ging. Aber noch ahnte ich nicht, als ich diese Ausgetriebenen sah, daß ihre blassen Gesichter schon mein eigenes Schicksal kündeten, und daß wir alle Opfer sein würden der Machtwut dieses einen Mannes.
Man kann dreißig oder vierzig Jahre inneren Weltglaubens schwer abtun in einigen wenigen Wochen. Verankert in unseren Anschauungen des Rechts, glaubten wir an die Existenz eines deutschen, eines europäischen, eines Weltgewissens und waren überzeugt, es gebe ein Maß von Unmenschlichkeit, das sich selbst ein für allemal vor der Menschheit erledige. Da ich versuche, hier so ehrlich als möglich zu bleiben, muß ich bekennen, daß wir alle 1933 und noch 1934 in Deutschland und Österreich jedesmal nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel dessen für möglich gehalten haben, was dann immer wenige Wochen später hereinbrechen sollte. Allerdings: daß wir freien und unabhängigen Schriftsteller gewisse Schwierigkeiten, Unannehmlichkeiten, Feindseligkeiten zu erwarten hätten, war von vorneweg klar. Sofort nach dem Reichstagsbrand sagte ich meinem Verleger, es werde nun bald vorbei sein mit meinen Büchern in Deutschland. Ich werde seine Verblüffung nicht vergessen. »Wer sollte Ihre Bücher verbieten?« sagte er damals, 1933, noch ganz erstaunt. »Sie haben doch nie ein Wort gegen Deutschland geschrieben oder sich in Politik eingemengt.« Man sieht: all die Ungeheuerlichkeiten, wie Bücherverbrennungen und Schandpfahlfeste, die wenige Monate später schon Fakten sein sollten, waren einen Monat nach Hitlers Machtergreifung selbst für weitdenkende Leute noch jenseits aller Faßbarkeit. Denn der Nationalsozialismus in seiner skrupellosen Täuschertechnik hütete sich, die ganze Radikalität seiner Ziele zu zeigen, ehe man die Welt abgehärtet hatte. So übten sie vorsichtig ihre Methode: immer nur eine Dosis und nach der Dosis eine kleine Pause. Immer nur eine einzelne Pille und dann einen Augenblick Abwartens, ob sie nicht zu stark gewesen, ob das Weltgewissen diese Dosis noch vertrage. Und da das europäische Gewissen – zum Schaden und zur Schmach unserer Zivilisation – eifrigst seine Unbeteiligtheit betonte, weil diese Gewalttaten doch »jenseits der Grenze« vor sich gingen, wurden die Dosen immer kräftiger, bis schließlich ganz Europa an ihnen zugrunde ging. Nichts Genialeres hat Hitler geleistet als diese Taktik des langsamen Vorfühlens und immer stärkeren Steigerns gegen ein moralisch und bald auch militärisch immer schwächer werdendes Europa. Auch die innerlich längst beschlossene Aktion zur Vernichtung jedes freien Wortes und jedes unabhängigen Buches in Deutschland erfolgte nach jener vortastenden Methode. Es wurde nicht etwa gleich ein Gesetz erlassen – das kam erst zwei Jahre später –, das unsere Bücher glatt verbot; man veranstaltete statt dessen zunächst nur eine leise Tastprobe, wie weit man gehen könne, in dem man die erste Attacke auf unsere Bücher einer offiziell unverantwortlichen Gruppe zuschob, den nationalsozialistischen Studenten. Nach dem gleichen System, mit dem man ›Volkszorn‹ inszenierte, um den längst beschlossenen Judenboykott durchzusetzen, gab man ein geheimes Stichwort an die Studenten, ihre ›Empörung‹ gegen unsere Bücher öffentlich zur Schau zu stellen. Und die deutschen Studenten, froh jeder Gelegenheit, reaktionäre Gesinnung bekunden zu können, rotteten sich folgsam an jeder Universität zusammen, holten Exemplare unserer Bücher aus den Buchhandlungen und marschierten unter wehenden Fahnen mit dieser Beute auf einen öffentlichen Platz. Dort wurden die Bücher entweder nach altem deutschem Brauch – Mittelalter war mit einemmal Trumpf geworden – an den Schandpfahl, an den öffentlichen Pranger genagelt – ich habe selbst ein solches mit einem Nagel durchbohrtes Exemplar eines meiner Bücher besessen, das ein befreundeter Student nach der Exekution gerettet und mir zum Geschenk gemacht –, oder sie wurden, da es leider nicht erlaubt war, Menschen zu verbrennen, auf großen Scheiterhaufen unter Rezitierung patriotischer Sprüche zu Asche verbrannt. Zwar hatte nach langem Zögern der Propagandaminister Goebbels im letzten Augenblick beschlossen, der Bücherverbrennung seinen Segen zu geben, aber sie blieb noch immer eine halboffizielle Maßnahme, und nichts zeigt deutlicher, wie wenig sich Deutschland damals noch mit solchen Akten identifizierte, als daß das Publikum aus diesen studentischen Verbrennungen und Ächtungen nicht die geringsten Konsequenzen zog. Obwohl die Buchhändler ermahnt wurden, keines unserer Bücher in die Auslage zu legen und obwohl keine Zeitung mehr ihrer Erwähnung tat, ließ sich das wirkliche Publikum nicht im mindesten beeinflussen. Solange noch nicht Zuchthaus oder Konzentrationslager darauf stand, wurden meine Bücher noch 1933 und 1934 trotz allen Schwierigkeiten und Schikanen fast ebenso zahlreich wie vordem verkauft. Erst mußte jene grandiose Verordnung ›zum Schutz des deutschen Volkes‹ Gesetz werden, die Druck, Verkauf und Verbreitung unserer Bücher zum Staatsverbrechen erklärte, um uns gewaltsam den Hunderttausenden und Millionen Deutscher zu entfremden, die noch jetzt uns lieber als alle die plötzlich aufgeplusterten Blut- und Bodendichter lesen und in unserem Wirken treu begleiten wollten.
Dieses Schicksal völliger literarischer Existenzvernichtung in Deutschland mit so eminenten Zeitgenossen wie Thomas Mann, Heinrich Mann, Werfel, Freud und Einstein und manchen anderen, deren Werk ich ungleich wichtiger nehme als das meine, teilen zu dürfen, habe ich eher als Ehre empfunden denn als Schmach, und jedwede Märtyrergeste widerstrebt mir dermaßen, daß ich dieser Einbeziehung ins allgemeine Schicksal nur ungern Erwähnung tue. Aber seltsamerweise war es gerade mir beschieden, die Nationalsozialisten und sogar Adolf Hitler in persona in eine besonders peinliche Situation zu bringen. Just meine literarische Gestalt unter all den Geächteten ist in den hohen und höchsten Kreisen der Berchtesgadener Villa immer wieder Gegenstand der wildesten Erregung und endloser Debatten gewesen, so daß ich den erfreulichen Dingen meines Lebens die bescheidene Genugtuung beifügen kann, dem zeitweilig mächtigsten Manne der Neuzeit, Adolf Hitler, Ärgernis verursacht zu haben.
Schon in den ersten Tagen des neuen Regimes hatte ich unschuldigerweise eine Art Aufruhr verschuldet. Es lief nämlich damals durch ganz Deutschland ein Film, der nach meiner Novelle ›Brennendes Geheimnis‹ verfaßt und ebenso betitelt war. Niemand nahm daran den geringsten Anstoß. Aber am Tage nach dem Brand des Reichstags, den vergeblich die Nationalsozialisten aus ihren Schuhen in die der Kommunisten zu schieben suchten, ereignete es sich, daß vor den Kinoüberschriften und Plakaten ›Brennendes Geheimnis‹ die Leute sich sammelten, einer den andern zwinkernd anstoßend und lachend. Bald verstanden die Gestapo-Leute, warum man bei diesem Titel lachte. Und noch am selben Abend jagten auf Motorrädern Polizisten herum, die Vorstellungen wurden verboten, vom nächsten Tage an war der Titel meiner Novelle ›Brennendes Geheimnis‹ aus allen Zeitungsankündigungen und von allen Plakatsäulen spurlos verschwunden. Aber ein einzelnes Wort, das sie störte, zu verbieten, ja selbst unsere gesamten Bücher zu verbrennen und zu zerstören, war immerhin eine ziemlich einfache Sache gewesen. In einem bestimmten Fall dagegen konnten sie mich nicht treffen, ohne zugleich den Mann zu schädigen, den sie eben in diesem kritischen Augenblick für ihr Prestige vor der Welt höchst notwendig brauchten, den größten, den berühmtesten lebenden Musiker der deutschen Nation, Richard Strauss, mit dem ich gerade gemeinsam eine Oper vollendet hatte.
Es war dies meine erste Zusammenarbeit mit Richard Strauss gewesen. Vordem hatte seit der ›Elektra‹ und dem ›Rosenkavalier‹ Hugo von Hofmannsthal alle Operntexte für ihn geschrieben, und ich war nie Richard Strauss persönlich begegnet. Nach dem Tode Hofmannsthals ließ er mir nun durch meinen Verleger sagen, er möchte gerne eine neue Arbeit beginnen, und ob ich bereit sei, ihm einen Operntext zu schreiben. Ich empfand ganz das Ehrenvolle eines solchen Antrags. Seit Max Reger meine ersten Gedichte vertont, hatte ich immer in Musik und mit Musikern gelebt. Busoni, Toscanini, Bruno Walter, Alban Berg war ich in naher Freundschaft verbunden. Aber ich wußte keinen produzierenden Musiker unserer Zeit, dem ich zu dienen williger bereit gewesen wäre als Richard Strauss, diesem letzten aus dem großen Geschlecht der deutschen Vollblutmusiker, das von Händel und Bach über Beethoven und Brahms bis in unsere Tage reicht. Ich erklärte mich sofort bereit und machte gleich bei der ersten Begegnung Strauss den Vorschlag, als Motiv einer Oper das Thema ›The Silent Woman‹ von Ben Jonson zu nehmen, und es bedeutete für mich eine gute Überraschung, wie rasch, wie klarsichtig Strauss auf alle meine Vorschläge einging. Nie hatte ich bei ihm einen solchen rapid auffassenden Kunstverstand, eine so erstaunliche dramaturgische Kenntnis vermutet. Noch während man ihm einen Stoff erzählte, formte er ihn schon dramatisch aus und paßte ihn sofort – was noch erstaunlicher war – den Grenzen seines eigenen Könnens an, die er mit einer fast unheimlichen Klarheit übersah. Mir sind viele große Künstler in meinem Leben begegnet; nie aber einer, der so abstrakt und unbeirrbar Objektivität gegen sich selber zu bewahren wußte. So bekannte Strauss mir freimütig gleich in der ersten Stunde, er wisse wohl, daß ein Musiker mit siebzig Jahren nicht mehr die ursprüngliche Kraft der musikalischen Inspiration besitze. Symphonische Werke wie ›Till Eulenspiegel‹ oder ›Tod und Verklärung‹ würden ihm kaum mehr gelingen, denn gerade die reine Musik bedürfe eines Höchstmaßes von schöpferischer Frische. Aber das Wort inspiriere ihn noch immer. Ein Vorhandenes, eine schon geformte Substanz vermöge er noch dramatisch voll zu illustrieren, weil aus Situationen und Worten sich ihm musikalische Themen spontan entwickelten, und darum habe er sich jetzt, in seinen späteren Jahren, ausschließlich der Oper zugewandt. Er wisse wohl, daß es mit der Oper als Kunstform eigentlich vorbei sei. Wagner sei ein so ungeheurer Gipfel, daß niemand über ihn hinauskommen könne. »Aber«, fügte er mit einem breiten bajuwarischen Lachen bei, »ich habe mir geholfen, indem ich einen Umweg um ihn gemacht habe.«
Nachdem wir uns über die Grundlinien klar geworden, gab er mir noch einige kleine Instruktionen. Er wolle mir absolute Freiheit lassen, denn ihn inspiriere niemals ein schon im voraus zugeschneiderter Operntext im Verdischen Sinne, sondern immer nur eine dichterische Arbeit. Nur wäre ihm lieb, wenn ich ein paar komplizierte Formen einbauen könnte, die der Koloristik besondere Entwicklungsmöglichkeiten geben würden. »Mir fallen keine langen Melodien ein wie dem Mozart. Ich bringe es immer nur zu kurzen Themen. Aber was ich verstehe, ist dann so ein Thema zu wenden, zu paraphrasieren, aus ihm alles herauszuholen, was drinnen steckt, und ich glaube, das macht mir heute keiner nach.« Wieder war ich verblüfft über diese Offenheit, denn wirklich findet sich bei Strauss kaum je eine Melodie, die über ein paar Takte hinausreicht; aber wie sind dann diese wenigen Takte – etwa des Rosenkavalierwalzers – gesteigert und fugiert zu einer vollkommenen Fülle!
Ebenso wie bei dieser ersten Begegnung war ich bei jeder neuen immer wieder voll Bewunderung, mit welcher Sicherheit und Sachlichkeit dieser alte Meister sich selbst in seinem Werke gegenüberstand. Einmal saß ich mit ihm allein bei einer geschlossenen Probe seiner ›Ägyptischen Helena‹ im Salzburger Festspielhaus. Niemand anderer war im Raum, es war vollkommen dunkel um uns. Er hörte zu. Auf einmal merkte ich, daß er leise und ungeduldig mit den Fingern auf der Stuhllehne trommelte. Dann flüsterte er mir zu: »Schlecht! Ganz schlecht! Da ist mir gar nichts eingefallen.« Und nach einigen Minuten wieder: »Wenn ich das nur streichen könnte! O Gott, o Gott, das ist ganz leer und zu lang, viel zu lang!« und wieder nach ein paar Minuten: »Sehen S’, das ist gut!« Er beurteilte sein eigenes Werk so sachlich und unbeteiligt, als ob er diese Musik zum ersten Male höre und als ob sie von einem ganz wildfremden Komponisten geschrieben sei, und dieses erstaunliche Gefühl für sein eigenes Maß verließ ihn niemals. Immer wußte er genau, wer er war und wieviel er konnte. Wie wenig oder wieviel die andern im Vergleich zu ihm bedeuteten, interessierte ihn nicht sehr und ebensowenig, wieviel er den anderen galt. Was ihn freute, war die Arbeit selbst.
Dieses ›Arbeiten‹ ist bei Strauss ein ganz merkwürdiger Prozeß. Nichts vom Dämonischen, nichts von dem ›Raptus‹ des Künstlers, nichts von jenen Depressionen und Desperationen, wie man sie aus Beethovens, aus Wagners Lebensbeschreibungen kennt. Strauss arbeitet sachlich und kühl, er komponiert – wie Johann Sebastian Bach, wie alle diese sublimen Handwerker ihrer Kunst – ruhig und regelmäßig. Um neun Uhr morgens setzt er sich an seinen Tisch und führt genau an der Stelle die Arbeit fort, wo er gestern zu komponieren aufgehört, regelmäßig mit Bleistift die erste Skizze schreibend, mit Tinte die Klavierpartitur, und so pausenlos weiter bis zwölf oder ein Uhr. Nachmittags spielt er Skat, überträgt zwei, drei Seiten in die Partitur und dirigiert allenfalls abends im Theater. Jede Art von Nervosität ist ihm fremd, bei Tag und bei Nacht ist sein Kunstintellekt immer gleich hell und klar. Wenn der Diener an die Tür klopft, um ihm den Frack zu bringen zum Dirigieren, steht er auf von der Arbeit, fährt ins Theater und dirigiert mit der gleichen Sicherheit und der gleichen Ruhe, wie er nachmittags Skat spielt, und die Inspiration setzt am nächsten Morgen genau an der gleichen Stelle wieder ein. Denn Strauss ›kommandiert‹ nach Goethes Wort seine Einfälle; Kunst heißt für ihn Können und sogar Alles-Können, wie sein lustiges Wort bezeugt: »Was ein richtiger Musiker sein will, der muß auch eine Speiskarte komponieren können.« Schwierigkeiten erschrecken ihn nicht, sondern machen seiner formenden Meisterschaft nur Spaß. Ich erinnere mich mit Vergnügen, wie seine kleinen blauen Augen funkelten, als er mir bei einer Stelle triumphierend sagte: »Da habe ich der Sängerin etwas aufzulösen gegeben! Die soll sich nur verflucht plagen, bis sie das herausbringt.« In solchen seltenen Sekunden, wo sein Auge auffunkelt, spürt man, daß etwas Dämonisches in diesem merkwürdigen Menschen tief verborgen liegt, der zuerst durch das Pünktliche, das Methodische, das Solide, das Handwerkliche, das scheinbar Nervenlose seiner Arbeitsweise einen ein wenig mißtrauisch macht, wie ja auch sein Gesicht zuerst eher banal wirkt mit seinen dicken kindlichen Wangen, der etwas gewöhnlichen Rundlichkeit der Züge und der nur zögernd zurückgewölbten Stirn. Aber ein Blick in seine Augen, diese hellen, blauen, stark strahlenden Augen, und sofort spürt man irgendeine besondere magische Kraft hinter dieser bürgerlichen Maske. Es sind vielleicht die wachsten Augen, die ich je bei einem Musiker gesehen, nicht dämonische, aber irgendwie hellsichtige, die Augen eines Mannes, der seine Aufgabe bis zum letzten Grunde erkannt.
Nach Salzburg von so belebender Begegnung zurückgekehrt, machte ich mich gleich an die Arbeit. Selbst neugierig, ob er auf meine Verse eingehen könnte, sandte ich ihm schon nach zwei Wochen den ersten Akt. Sofort schrieb er mir eine Karte mit einem Meistersingerzitat »der erste Bar gelang«. Bei dem zweiten Akt kamen als noch herzlicherer Gruß die Anfangstakte seines Liedes »Ach, daß ich dich gefunden, du liebes Kind!«, und diese seine Freude, ja sogar Begeisterung machte mir die Weiterarbeit zu einem unbeschreiblichen Vergnügen. An meinem ganzen Libretto hat Richard Strauss nicht eine einzige Zeile geändert und nur einmal mich gebeten, um einer Gegenstimme willen noch drei oder vier Zeilen einzufügen. So entspann sich zwischen uns die denkbar herzlichste Beziehung, er kam in unser Haus und ich zu ihm nach Garmisch, wo er mir mit seinen langen schmalen Fingern am Klavier aus der Skizze nach und nach die ganze Oper vorspielte. Und ohne Vertrag und Verpflichtung wurde es selbstverständlich ausgemachte Sache, daß ich nach Beendigung dieser Oper gleich eine zweite entwerfen sollte, deren Grundlagen er schon im voraus restlos gebilligt hatte.
Januar 1933, als Adolf Hitler zur Macht kam, war unsere Oper, die ›Schweigsame Frau‹, in der Klavierpartitur so gut wie fertig und ungefähr der erste Akt instrumentiert. Wenige Wochen später erfolgte das strikte Verbot an die deutschen Bühnen, Werke von Nichtariern oder auch nur solche aufzuführen, an denen ein Jude in irgendeiner Form beteiligt gewesen; sogar auf die Toten wurde der große Bann ausgedehnt und zur Erbitterung aller Musikfreunde der Welt Mendelssohns Standbild vor dem Gewandhaus in Leipzig entfernt. Für mich schien mit diesem Verbot das Schicksal unserer Oper erledigt. Ich nahm als selbstverständlich an, daß Richard Strauss die weitere Arbeit aufgeben und eine andere mit jemand anderem beginnen würde. Statt dessen schrieb er mir Brief auf Brief, was mir denn einfiele; im Gegenteil, ich solle, da er jetzt schon an die Instrumentation gehe, für seine nächste Oper den Text vorbereiten. Er denke nicht daran, sich von irgend jemandem die Zusammenarbeit mit mir verbieten zu lassen; und ich muß offen bekennen, daß er im Verlauf der ganzen Angelegenheit mir kameradschaftliche Treue gehalten hat, solange sie zu halten war. Freilich traf er gleichzeitig Vorkehrungen, die mir weniger sympathisch waren, er näherte sich den Machthabern, kam öfters mit Hitler und Göring und Goebbels zusammen und ließ sich zu einer Zeit, da selbst Furtwängler sich noch offen auflehnte, zum Präsidenten der nazistischen Reichsmusikkammer ernennen.
Diese seine offene Teilnahme war den Nationalsozialisten in jenem Augenblick ungeheuer wichtig. Denn ärgerlicherweise hatten nicht nur die besten Schriftsteller, sondern auch die wichtigsten Musiker ihnen offen den Rücken gekehrt, und die wenigen, die zu ihnen hielten oder überliefen, waren in den weitesten Kreisen unbekannt. In einem solchen peinlichen Augenblick den berühmtesten Musiker Deutschlands offen auf ihre Seite zu bekommen, bedeutete für Goebbels und Hitler im rein dekorativen Sinn unermeßlichen Gewinn. Hitler, der, wie mir Strauss erzählte, schon in seinen Wiener Vagantenjahren mit Geld, das er sich mühsam auf irgendeine Weise verschafft hatte, nach Graz gefahren war, um der Premiere der ›Salome‹ beizuwohnen, ehrte ihn demonstrativ; an allen festlichen Abenden in Berchtesgaden wurden außer Wagner fast nur Strausssche Lieder vorgetragen. Bei Strauss dagegen war die Teilnahme bedeutend absichtsvoller. Bei seinem Kunstegoismus, den er jederzeit offen und kühl bekannte, war ihm jedes Regime innerlich gleichgültig. Er hatte dem deutschen Kaiser gedient als Kapellmeister und für ihn Militärmärsche instrumentiert, dann dem Kaiser von Österreich als Hofkapellmeister in Wien, war aber ebenso in der österreichischen und deutschen Republik persona gratissima gewesen. Den Nationalsozialisten besonders entgegenzukommen, war außerdem von vitalem Interesse für ihn, da er in nationalsozialistischem Sinne ein mächtiges Schuldkonto hatte. Sein Sohn hatte eine Jüdin geheiratet, und er mußte fürchten, daß seine Enkel, die er über alles liebte, als Auswurf von den Schulen ausgeschlossen würden; seine neue Oper war durch mich belastet, seine früheren Opern durch den nicht ›rein arischen‹ Hugo von Hofmannsthal, sein Verleger war ein Jude. Um so dringlicher schien ihm geboten, sich Rückhalt zu schaffen, und er tat es in beharrlichster Weise. Er dirigierte, wo die neuen Herren es gerade verlangten, er setzte für die Olympischen Spiele eine Hymne in Musik und schrieb mir gleichzeitig in seinen unheimlich freimütigen Briefen über diesen Auftrag mit wenig Begeisterung. In Wirklichkeit bekümmerte ihn im sacro egoismo des Künstlers nur eines: sein Werk in lebendiger Wirksamkeit zu erhalten und vor allem die neue Oper aufgeführt zu sehen, die seinem Herzen besonders nahestand.
Mir mußten derlei Konzessionen an den Nationalsozialismus selbstverständlich im höchsten Maße peinlich sein. Denn wie leicht konnte der Eindruck entstehen, als ob ich heimlich mitwirkte oder auch nur zustimmte, daß mit meiner Person eine einmalige Ausnahme in einem so schmählichen Boykott gemacht würde. Von allen Seiten drängten meine Freunde auf mich ein, öffentlich gegen eine Aufführung im nationalsozialistischen Deutschland zu protestieren. Aber erstens verabscheue ich prinzipiell öffentliche und pathetische Gesten, außerdem widerstrebte es mir, einem Genius von Richard Strauss’ Range Schwierigkeiten zu bereiten. Strauss war schließlich der größte lebende Musiker und siebzig Jahre alt, er hatte drei Jahre an dieses Werk gewandt und während dieser ganzen Zeit mir gegenüber freundschaftliche Gesinnung, Korrektheit und sogar Mut bezeigt. Deshalb hielt ich es meinerseits für das Richtige, schweigend zuzuwarten und die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen. Außerdem wußte ich, daß ich durch nichts den neuen Hütern der deutschen Kultur mehr Schwierigkeiten bereitete als durch vollkommene Passivität. Denn die nationalsozialistische Reichsschrifttumskammer und das Propagandaministerium suchten doch nur nach einem willkommenen Vorwand, um ein Verbot gegen ihren größten Musiker auf stichhaltigere Weise begründen zu können. So wurde zum Beispiel von allen denkbaren Ämtern und Personen das Libretto eingefordert in der geheimen Hoffnung, einen Vorwand zu finden. Wie bequem wäre es gewesen, hätte die ›Schweigsame Frau‹ eine Situation enthalten wie etwa jene im ›Rosenkavalier‹, wo ein junger Mann aus dem Schlafzimmer einer verheirateten Frau kommt! Da hätte man vorgeben können, die deutsche Moral schützen zu müssen. Aber zu ihrer Enttäuschung enthielt mein Buch nichts Unmoralisches. Dann wurden alle denkbaren Kartotheken der Gestapo und meine früheren Bücher durchstöbert. Aber auch hier war nicht zu entdecken, daß ich jemals gegen Deutschland (ebensowenig wie gegen irgendeine andere Nation der Erde) ein herabsetzendes Wort gesagt oder mich politisch betätigt hätte. Was immer sie taten und versuchten, die Entscheidung fiel unabänderlich auf sie allein zurück, ob sie dem Altmeister, dem sie selbst das Banner der nationalsozialistischen Musik in die Hand gedrückt, vor den Augen der ganzen Welt das Recht verweigern sollten, seine Oper aufführen zu lassen, oder ob – Tag der nationalen Schande! – der Name Stefan Zweig, auf dessen Nennung als Textdichter Richard Strauss ausdrücklich bestand, noch einmal wie schon so oft die deutschen Theaterzettel beschmutzen sollte. Wie freute mich im stillen ihre große Sorge und ihr schmerzhaftes Kopfzerbrechen; ich ahnte, auch ohne mein Zutun oder vielmehr gerade durch mein Nichtsdazu-Tun und Nichts-dagegen-Tun würde meine musikalische Komödie sich unaufhaltsam zu einer parteipolitischen Katzenmusik entfalten.
Die Partei drückte sich um die Entschließung herum, solange dies irgendwie zu bewerkstelligen war. Aber Anfang 1934 mußte sie sich endlich entscheiden, ob sie sich gegen ihr eigenes Gesetz oder gegen den größten Musiker der Zeit stellen wollte. Der Termin duldete keinen weiteren Aufschub. Die Partitur, die Klavierauszüge, die Textbücher waren längst gedruckt, im Hoftheater von Dresden die Kostüme bestellt, die Rollen verteilt und sogar schon studiert, und noch immer hatten sich die verschiedenen Instanzen, Göring und Goebbels, Reichsschrifttumskammer und Kulturrat, Unterrichtsministerium und die Streichergarde nicht einigen können. So sehr all das als Narrentraum erscheinen mag, die Affäre der ›Schweigsamen Frau‹ wurde schließlich zu einer aufregenden Staatsangelegenheit. Von all den Instanzen wagte keine die volle Verantwortung für das erlösende ›bewilligt‹ oder ›verboten‹ zu übernehmen: so blieb nichts übrig, als diese Angelegenheit der persönlichen Entscheidung des Herrn Deutschlands und Herrn der Partei, Adolf Hitler, anheimzustellen. Meine Bücher hatten schon vordem die Ehre genossen, reichlich von den Nationalsozialisten gelesen zu werden; insbesondere war es der ›Fouché‹ gewesen, den sie als Vorbild politischer Unbedenklichkeit immer wieder studierten und diskutierten. Aber daß sich, nach Goebbels und Göring, Adolf Hitler persönlich einmal würde bemühen müssen, die drei Akte meines lyrischen Librettos ex officio zu studieren, dessen war ich wahrhaftig nicht gewärtig gewesen. Die Entscheidung fiel ihm nicht leicht. Es gab, wie ich hinterdrein auf allerhand Umwegen berichtet bekam, noch eine endlose Reihe von Konferenzen. Schließlich wurde Richard Strauss vor den Allgewaltigen zitiert, und Hitler teilte ihm in persona mit, daß er die Aufführung, obwohl sie gegen alle Gesetze des neuen deutschen Reiches verstoße, ausnahmsweise gestatte, eine Entscheidung, wahrscheinlich ebenso unwillig und unehrlich gegeben wie die Unterzeichnung des Vertrages mit Stalin und Molotow.
So brach dieser schwarze Tag für das nationalsozialistische Deutschland heran, daß noch einmal eine Oper aufgeführt wurde, wo der geächtete Name Stefan Zweig auf allen Anschlagzetteln paradierte. Ich wohnte selbstverständlich der Aufführung nicht bei, da ich wußte, daß der Zuschauerraum von braunen Uniformen strotzen würde und sogar Hitler selbst zu einer der Aufführungen erwartet wurde. Die Oper errang einen sehr großen Erfolg und ich muß zu Ehren der Musikkritiker feststellen, daß neun Zehntel von ihnen die gute Gelegenheit begeistert nutzten, noch einmal, zum letztenmal ihren inneren Widerstand gegen den Rassenstandpunkt zeigen zu dürfen, indem sie die denkbar freundlichsten Worte über mein Libretto sagten. Sämtliche deutschen Theater, Berlin, Hamburg, Frankfurt, München, kündigten sofort die Aufführung der Oper für die nächste Spielzeit an.
Plötzlich, nach der zweiten Vorstellung, kam ein Blitz aus den hohen Himmeln. Alles wurde abgesagt, die Oper über Nacht für Dresden und ganz Deutschland verboten. Und noch mehr: man las erstaunt, daß Richard Strauss seine Demission als Präsident der Reichsmusikkammer eingereicht habe. Jeder wußte, daß etwas Besonderes geschehen sein mußte. Aber es dauerte noch einige Zeit, ehe ich die ganze Wahrheit erfuhr. Strauss hatte wieder einmal einen Brief an mich geschrieben, in dem er mich drängte, doch bald an das Libretto einer neuen Oper zu gehen, und in dem er sich mit allzu großer Freimütigkeit über seine persönliche Einstellung äußerte. Dieser Brief war der Gestapo in die Hände gefallen. Er wurde Strauss vorgelegt, der daraufhin sofort seine Demission geben mußte, und die Oper wurde verboten. Sie ist in deutscher Sprache nur in der freien Schweiz und in Prag in Szene gegangen, später noch italienisch in der Mailänder Scala mit dem besonderen Einverständnis Mussolinis, der sich damals dem Rassenstandpunkt noch nicht unterworfen hatte. Das deutsche Volk aber hat nie mehr einen Ton aus dieser teilweise bezaubernden Altersoper seines größten lebenden Musikers hören dürfen.
Während sich diese Angelegenheit unter ziemlichem Getöse vollzog, lebte ich im Ausland, denn ich spürte, daß die Unruhe in Österreich mir ruhige Arbeit unmöglich machte. Mein Haus in Salzburg lag so nahe der Grenze, daß ich mit freiem Auge den Berchtesgadener Berg sehen konnte, auf dem Adolf Hitlers Haus stand, eine wenig erfreuliche und sehr beunruhigende Nachbarschaft. Diese Nähe der deutschen Reichsgrenze gab mir allerdings auch Gelegenheit, besser als meine Freunde in Wien die Bedrohlichkeit der österreichischen Situation zu beurteilen. Dort betrachteten die in den Cafés Sitzenden und sogar auch die Leute in den Ministerien den Nationalsozialismus als eine Angelegenheit, die ›drüben‹ geschah und Österreich nicht im mindesten berühren konnte. War denn nicht die sozialdemokratische Partei mit ihrer straffen Organisation zur Stelle, die beinahe die Hälfte der Bevölkerung geschlossen hinter sich hatte? War nicht auch die klerikale Partei mit ihr in leidenschaftlicher Abwehr einig, seit Hitlers ›deutsche Christen‹ das Christentum offen verfolgten und ihren Führer offen und wörtlich ›größer als Christus‹ nannten? Waren nicht Frankreich, England, der Völkerbund Österreichs Schirmherren? Hatte nicht Mussolini ausdrücklich das Protektorat und sogar die Garantie der österreichischen Unabhängigkeit übernommen? Selbst die Juden sorgten sich nicht und taten, als ob die Entrechtung der Ärzte, der Rechtsanwälte, der Gelehrten, der Schauspieler in China vor sich ginge und nicht drei Stunden weit drüben im gleichen Sprachgebiet. Sie saßen behaglich in ihren Häusern und fuhren in ihren Automobilen. Außerdem hatte jeder das Trostsprüchlein bereit: »Das kann nicht lange dauern.« Ich aber erinnerte mich an ein Gespräch, das ich auf meiner kurzen russischen Reise mit meinem ehemaligen Verleger in Leningrad gehabt. Er hatte mir erzählt, ein wie reicher Mann er früher gewesen, was für schöne Bilder er besessen, und ich hatte ihn gefragt, warum er denn nicht gleich bei Ausbruch der Revolution wie so viele andere weggegangen sei. »Ach«, hatte er mir geantwortet, »wer konnte denn damals glauben, eine solche Sache wie eine Räte- und Soldatenrepublik würde länger als vierzehn Tage dauern?« Es war die gleiche Täuschung aus dem gleichen Lebenswillen, sich selbst zu täuschen.
In Salzburg freilich, knapp an der Grenze, sah man die Dinge deutlicher. Es begann ein fortwährendes Hin und Her über den schmalen Grenzfluß, die jungen Leute schlichen nachts hinüber und wurden einexerziert, die Agitatoren kamen in Autos oder mit Bergstöcken als schlichte ›Touristen‹ über die Grenze und organisierten in allen Ständen ihre ›Zellen‹. Sie begannen zu werben und gleichzeitig zu drohen, daß, wer nicht rechtzeitig sich bekenne, später dafür werde bezahlen müssen. Das schüchterte die Polizisten, die Staatsbeamten ein. Immer mehr spürte ich an einer gewissen Unsicherheit im Betragen, wie die Leute zu schwanken begannen. Nun sind im Leben immer die kleinen persönlichen Erlebnisse die überzeugendsten. Ich hatte in Salzburg einen Jugendfreund, einen recht bekannten Schriftsteller, mit dem ich durch dreißig Jahre in innigstem, herzlichstem Verkehr gestanden hatte. Wir duzten uns, wir hatten uns gegenseitig Bücher gewidmet, wir trafen uns jede Woche. Eines Tages sah ich nun diesen alten Freund auf der Straße mit einem fremden Herrn und merkte, daß er sofort bei einer ihm ganz gleichgültigen Auslage stehenblieb und diesem Herrn mit mir zugewendetem Rücken dort ungemein interessiert etwas zeigte. Sonderbar, dachte ich: er muß mich doch gesehen haben. Aber das konnte Zufall sein. Am nächsten Tage telephonierte er mir plötzlich, ob er nachmittags auf einen Plausch zu mir kommen könne. Ich sagte zu, etwas verwundert, denn sonst trafen wir uns immer im Kaffeehaus. Es ergab sich, daß er mir nichts Besonderes zu sagen hatte trotz dieses eiligen Besuchs. Und es war mir sofort klar, daß er einerseits die Freundschaft mit mir aufrechterhalten, anderseits, um nicht als Judenfreund verdächtigt zu werden, sich in der kleinen Stadt nicht mehr allzu intim mit mir zeigen wollte. Das machte mich aufmerksam. Und ich merkte bald, daß in letzter Zeit eine ganze Reihe von Bekannten, die sonst häufig kamen, ausgeblieben waren. Man stand auf gefährdetem Posten.
Ich dachte damals noch nicht daran, Salzburg endgültig zu verlassen, aber ich entschloß mich lieber als sonst, den Winter im Ausland zu verbringen, um all diesen kleinen Spannungen zu entgehen. Doch ich ahnte nicht, daß es schon eine Art von Abschied war, als ich im Oktober 1933 mein schönes Haus verließ.
Meine Absicht war gewesen, den Januar und Februar arbeitend in Frankreich zu verbringen. Ich liebte dieses schöne geistige Land als eine zweite Heimat und fühlte mich dort nicht als Ausländer. Valéry, Romain Rolland, Jules Romains, André Gide, Roger Martin du Gard, Duhamel, Vildrac, Jean Richard Bloch, die Führer der Literatur, waren alte Freunde. Meine Bücher hatten beinahe so viele Leser wie in Deutschland, niemand nahm mich als ausländischen Schriftsteller, als Fremden. Ich liebte das Volk, ich liebte das Land, ich liebte die Stadt Paris und fühlte mich dort dermaßen zu Hause, daß jedesmal, wenn der Zug in die Gare du Nord einrollte, ich das Gefühl hatte, ich käme ›zurück‹. Aber diesmal war ich durch die besonderen Umstände früher abgereist als sonst und wollte erst nach Weihnachten in Paris sein. Wohin inzwischen? Da erinnerte ich mich, daß ich eigentlich seit mehr als einem Vierteljahrhundert, seit meiner Studentenzeit, nicht wieder in England gewesen war. Warum nur immer Paris, sagte ich mir. Warum nicht auch einmal zehn oder vierzehn Tage in London, nach Jahren und Jahren wieder die Museen sehen mit anderem Blick, wieder das Land und die Stadt? So nahm ich statt des Expreßzugs nach Paris jenen nach Calais und stieg im vorschriftsmäßigen Nebel eines Novembertags nach dreißig Jahren wieder an der Victoria-Station aus und wunderte mich bei der Ankunft nur, daß ich nicht wie damals im Cab zu meinem Hotel fuhr, sondern in einem Auto. Der Nebel, das kühle, weiche Grau, war wie damals. Noch hatte ich keinen Blick auf die Stadt getan, aber mein Geruchssinn hatte, über drei Jahrzehnte hinweg, diese sonderbar herbe, dichte, feuchte, einen von nah umhüllende Luft wiedererkannt.
Das Gepäck, das ich mitbrachte, war gering, und ebenso meine Erwartungen. Freundschaftliche Bindungen besaß ich in London so gut wie keine; auch literarisch bestand zwischen uns kontinentalen und den englischen Schriftstellern wenig Kontakt. Sie hatten eine Art eigenen, abgegrenzten Lebens mit eigenem Wirkungskreis innerhalb ihrer uns nicht ganz zugänglichen Tradition: ich kann mich nicht erinnern, unter den vielen Büchern, die aus aller Welt in mein Haus auf meinen Tisch kamen, je das eines englischen Autors als kollegiale Gabe gefunden zu haben. Shaw war ich einmal in Hellerau begegnet, Wells war einmal zu Besuch nach Salzburg in mein Haus gekommen, meine eigenen Bücher wiederum waren zwar alle übersetzt, aber wenig bekannt; immer war England das Land gewesen, wo sie die geringste Wirkung geübt. Auch hatte ich, während ich mit meinem amerikanischen, meinem französischen, meinem italienischen, meinem russischen Verleger persönlich befreundet war, nie einen Herrn der Firma gesehen, die meine Bücher in England veröffentlichte. Ich war also darauf vorbereitet, mich dort ebenso fremd zu fühlen wie vor dreißig Jahren.
Aber es kam anders. Nach einigen Tagen fühlte ich mich in London unbeschreiblich wohl. Nicht daß sich London wesentlich geändert hätte. Aber ich selbst hatte mich verändert. Ich war dreißig Jahre älter geworden und nach den Kriegs- und Nachkriegsjahren der Spannung und Überspannung voll Sehnsucht, einmal wieder ganz still zu leben und nichts Politisches zu hören. Selbstverständlich gab es auch in England Parteien, Whigs und Torys, eine konservative und liberale und Labour Partei, aber deren Diskussionen gingen mich nichts an. Es gab zweifellos auch in der Literatur Parteiungen und Strömungen, Streit und verborgene Rivalitäten, aber ich stand hier völlig außerhalb. Jedoch die eigentliche Wohltat war, daß ich endlich wieder eine zivile, höfliche, unerregte, haßlose Atmosphäre um mich fühlte. Nichts hatte mir das Leben in den letzten Jahren dermaßen vergiftet, als immer Haß und Spannung im Lande, in der Stadt um mich zu fühlen, immer mich wehren zu müssen, in diese Diskussionen hineingezerrt zu werden. Hier war die Bevölkerung nicht in gleicher Weise verstört, ein höheres Maß von Rechtlichkeit und Anständigkeit herrschte hier im öffentlichen Leben als in unseren durch den großen Betrug der Inflation selbst unmoralisch gewordenen Ländern. Die Menschen lebten ruhiger, zufriedener und blickten mehr auf ihren Garten und ihre kleinen Liebhabereien als auf ihren Nachbarn. Hier konnte man atmen, denken und überlegen. Aber das Eigentliche, was mich hielt, war eine neue Arbeit.
Das kam so. Es war soeben meine ›Marie Antoinette‹ erschienen, und ich las die Korrekturbogen meines Erasmusbuches, in dem ich ein geistiges Porträt des Humanisten versuchte, der, obwohl klarer den Widersinn der Zeit verstehend als die professionellen Weltverbesserer, tragischerweise doch nicht imstande war, mit all seiner Vernunft ihm in den Weg zu treten. Nach Vollendung dieser verschleierten Selbstdarstellung war es meine Absicht, einen langgeplanten Roman zu schreiben. Ich hatte genug von Biographien. Aber da geschah mir gleich am dritten Tage, daß ich im Britischen Museum, angezogen von meiner alten Leidenschaft für Autographen, die im öffentlichen Raum ausgestellten Stücke musterte. Darunter war der handschriftliche Bericht über die Hinrichtung Maria Stuarts. Unwillkürlich fragte ich mich: wie war das eigentlich mit Maria Stuart? War sie wirklich am Mord ihres zweiten Gatten beteiligt, war sie es nicht? Da ich abends nichts zu lesen hatte, kaufte ich ein Buch über sie. Es war ein Hymnus, der sie wie eine Heilige verteidigte, ein Buch, flach und töricht. In meiner unheilbaren Neugier schaffte ich mir am nächsten Tage ein anderes an, das ungefähr genau das Gegenteil behauptete. Nun begann mich der Fall zu interessieren. Ich fragte nach einem wirklich verläßlichen Buch. Niemand konnte mir eines nennen, und so suchend und mich erkundigend geriet ich unwillkürlich hinein ins Vergleichen und hatte, ohne es recht zu wissen, ein Buch über Maria Stuart begonnen, das mich dann Wochen in den Bibliotheken festhielt. Als ich Anfang 1934 wieder nach Österreich fuhr, war ich entschlossen, nach dem mir liebgewordenen London zurückzukehren, um dieses Buch dort in Stille zu vollenden.
Ich brauchte nicht mehr als zwei oder drei Tage in Österreich, um zu sehen, wie sich die Situation in diesen wenigen Monaten verschlimmert hatte. Aus der stillen und sicheren Atmosphäre Englands in dies von Fiebern und Kämpfen geschüttelte Österreich zu kommen, war, wie wenn man an einem heißen New Yorker Julitag aus einem luftgekühlten, einem air-conditioned Raum plötzlich auf die glühende Straße tritt. Die nationalsozialistische Pression begann den klerikalen und bürgerlichen Kreisen allmählich die Nerven zu zerstören; immer härter fühlten sie die wirtschaftlichen Daumschrauben, den subversiven Druck des ungeduldigen Deutschlands. Die Regierung Dollfuß, die Österreich unabhängig halten und vor Hitler bewahren wollte, suchte immer verzweifelter nach einer letzten Stütze. Frankreich und England waren zu abgelegen und auch innerlich zu gleichgültig, die Tschechoslowakei noch von alter Ranküne und Rivalität gegen Wien erfüllt – so blieb nur Italien, das damals ein wirtschaftliches und politisches Protektorat über Österreich anstrebte, um sich die Alpenpässe und Triest zu schützen. Für diesen Schutz verlangte Mussolini allerdings einen harten Preis. Österreich sollte den faschistischen Tendenzen angepaßt, das Parlament und damit die Demokratie erledigt werden. Dies war nun nicht möglich ohne die Beseitigung oder Entrechtung der sozialdemokratischen Partei, der stärksten und bestorganisierten Österreichs. Sie zu brechen gab es keinen anderen Weg als den brutaler Gewalt.
Für diese terroristische Aktion hatte schon der Vorgänger von Dollfuß, Ignaz Seipel, eine Organisation geschaffen, die sogenannte ›Heimwehr‹. Äußerlich gesehen, stellte sie so ziemlich die ärmlichste Angelegenheit dar, die man sich denken konnte, kleine Provinzadvokaten, entlassene Offiziere, dunkle Existenzen, unbeschäftigte Ingenieure, jeder eine enttäuschte Mittelmäßigkeit, die alle einander auf das grimmigste haßten. Schließlich fand man in dem jungen Fürsten Starhemberg einen sogenannten Führer, der einst zu Füßen Hitlers gesessen und gegen die Republik und die Demokratie gewettert hatte und jetzt mit seinen gemieteten Soldaten als Hitlers Antagonist herumzog und versprach, ›Köpfe rollen zu lassen‹. Was die Heimwehrleute positiv wollten, war völlig unklar. Die Heimwehr hatte in Wirklichkeit kein anderes Ziel, als auf irgendeine Weise an die Krippe zu kommen, und ihre ganze Kraft war die Faust Mussolinis, der sie vorwärtsstieß. Daß diese angeblich patriotischen Österreicher mit ihren von Italien gelieferten Bajonetten den Ast absägten, auf dem sie saßen, merkten sie nicht.
Die sozialdemokratische Partei begriff besser, wo die eigentliche Gefahr lag. An sich brauchte sie den offenen Kampf nicht zu scheuen. Sie hatte ihre Waffen und konnte durch einen Generalstreik alle Bahnen, alle Wasserwerke, alle Elektrizitätswerke lahmlegen. Aber sie wußte auch, daß Hitler nur auf eine solche sogenannte ›rote Revolution‹ wartete, um einen Vorwand zu haben, als ›Retter‹ in Österreich einzurücken. So schien es ihr besser, ein Großteil ihrer Rechte und sogar das Parlament zu opfern, um zu einem erträglichen Kompromiß zu gelangen. Alle Vernünftigen befürworteten einen solchen Ausgleich angesichts der Zwangslage, in der sich Österreich im drohenden Schatten des Hitlerismus befand. Sogar Dollfuß selbst, ein geschmeidiger, ehrgeiziger, aber durchaus realistischer Mann, schien zu einer Einigung geneigt. Aber der junge Starhemberg und sein Kumpan, Major Fey, der dann bei der Ermordung von Dollfuß eine merkwürdige Rolle spielte, verlangten, daß der Schutzbund seine Waffen ausliefere und daß jede Spur demokratischer und bürgerlicher Freiheit vernichtet werde. Gegen diese Forderung wehrten sich die Sozialdemokraten, Drohungen wechselten herüber und hinüber in den Lagern. Eine Entscheidung, das spürte man, lag jetzt in der Luft, und ich mußte im Gefühl der allgemeinen Spannung ahnungsvoll an Shakespeares Worte denken: »So foul a sky clears not without a storm.«
Ich war nur einige Tage in Salzburg gewesen und bald nach Wien weitergefahren. Und gerade in diesen ersten Februartagen brach das Gewitter los. Die Heimwehr hatte in Linz das Haus der Arbeiterschaft überfallen, um die Waffendepots, die sie dort vermutete, wegzunehmen. Die Arbeiter hatten mit dem Generalstreik geantwortet, Dollfuß wiederum mit dem Befehl, mit Waffen diese künstlich erzwungene ›Revolution‹ niederzuschlagen. So rückte die reguläre Wehrmacht mit Maschinengewehren und Kanonen gegen die Wiener Arbeiterhäuser an. Drei Tage wurde erbittert gekämpft von Haus zu Haus; es war das letztemal in Spanien, daß sich in Europa die Demokratie gegen den Faschismus wehrte. Drei Tage hielten die Arbeiter stand, ehe sie der technischen Übermacht erlagen.
Ich war in diesen drei Tagen in Wien und somit Zeuge dieses Entscheidungskampfes und damit des Selbstmords der österreichischen Unabhängigkeit. Aber da ich ehrlicher Zeuge sein will, muß ich das zunächst paradox scheinende Faktum bekennen, daß ich von dieser Revolution selbst nichts das mindeste gesehen habe. Wer sich vorgesetzt hat, ein möglichst ehrliches und anschauliches Bild seiner Zeit zu geben, muß auch den Mut haben, romantische Vorstellungen zu enttäuschen. Und nichts scheint mir charakteristischer für die Technik und Eigenart moderner Revolutionen, als daß sie sich im Riesenraum einer modernen Großstadt eigentlich nur an ganz wenigen Stellen abspielen und darum für die meisten Einwohner völlig unsichtbar bleiben. So sonderbar es scheinen mag: ich war an diesen historischen Februartagen 1934 in Wien und habe nichts gesehen von diesen entscheidenden Ereignissen, die sich in Wien abspielten, und nichts, auch nicht das mindeste davon gewußt, während sie geschahen. Es wurde mit Kanonen geschossen, es wurden Häuser besetzt, es wurden Hunderte von Leichen weggetragen – ich habe nicht eine einzige gesehen. Jeder Leser der Zeitung in New York, in London, in Paris hatte bessere Kenntnis von dem, was wirklich vor sich ging, als wir, die wir doch scheinbar Zeugen waren. Und dieses erstaunliche Phänomen, daß man in unserer Zeit zehn Straßen weit von Entscheidungen weniger weiß als die Menschen in einer Entfernung von Tausenden Kilometern, habe ich dann später immer und immer wieder bestätigt gefunden. Als Dollfuß einige Monate später mittags in Wien ermordet wurde, sah ich um halb sechs Uhr nachmittags in London die Plakate auf den Straßen. Ich versuchte sofort, nach Wien zu telephonieren; zu meinem Erstaunen erhielt ich sofort Verbindung und erfuhr zu meinem noch größeren Erstaunen, daß man in Wien, fünf Straßen vom Auswärtigen Amt, viel weniger wußte als in London an jeder Straßenecke. Ich kann also an meinem Wiener Revolutionserlebnis beispielhaft nur das Negative darstellen: wie wenig heutzutage ein Zeitgenosse, wenn er nicht zufällig an der entscheidenden Stelle steht, von den Ereignissen sieht, welche das Antlitz der Welt und sein eigenes Leben verändern. Alles, was ich erlebte, war: ich hatte abends eine Verabredung mit der Ballettregisseurin der Oper, Margarete Wallmann, in einem Ringstraßencafe. Ich ging also zu Fuß zur Ringstraße und wollte sie gedankenlos überschreiten. Da traten plötzlich ein paar Leute in alten, rasch zusammengerafften Uniformen mit Gewehren auf mich zu und fragten, wohin ich wollte. Als ich ihnen erklärte, ich wollte in jenes Cafe J., ließen sie mich ruhig durch. Ich wußte weder, warum plötzlich solche Gardisten auf der Straße standen, noch was sie eigentlich bezweckten. In Wirklichkeit wurde damals schon seit mehreren Stunden erbittert in den Vorstädten geschossen und gekämpft, aber in der inneren Stadt hatte niemand eine Ahnung. Erst als ich abends ins Hotel kam und meine Rechnung bezahlen wollte, weil es meine Absicht war, am nächsten Morgen nach Salzburg zurückzureisen, sagte mir der Portier, er fürchte, das werde nicht möglich sein, die Bahnen verkehrten nicht. Es sei Eisenbahnerstreik, und außerdem gehe in den Vorstädten etwas vor.
Am nächsten Tage brachten die Zeitungen ziemlich undeutliche Mitteilungen über einen Aufstand der Sozialdemokraten, der aber schon mehr oder minder niedergeschlagen sei. In Wirklichkeit hatte der Kampf an diesem Tage erst seine volle Kraft erreicht, und die Regierung entschloß sich, nach den Maschinengewehren auch Kanonen gegen die Arbeiterhäuser einzusetzen. Aber auch die Kanonen vernahm ich nicht. Wäre damals ganz Österreich besetzt worden, sei es von den Sozialisten oder Nationalsozialisten oder Kommunisten, ich hätte es ebensowenig gewußt wie seinerzeit die Leute in München, die am Morgen aufwachten und erst aus den ›Münchener Neuesten Nachrichten‹ erfuhren, daß ihre Stadt in den Händen Hitlers war. Alles ging im inneren Kreise der Stadt ebenso ruhig und regelmäßig weiter wie sonst, während in den Vorstädten der Kampf wütete, und wir glaubten töricht den offiziellen Mitteilungen, daß alles schon beigelegt und erledigt sei. In der Nationalbibliothek, wo ich etwas nachzusehen hatte, saßen die Studenten und lasen und studierten wie immer, alle Geschäfte waren offen, die Menschen gar nicht erregt. Erst am dritten Tag, als alles vorüber war, erfuhr man stückweise die Wahrheit. Kaum daß die Bahnen wieder verkehrten, am vierten Tag, fuhr ich morgens nach Salzburg zurück, wo mich zwei, drei Bekannte, die ich auf der Straße traf, sofort mit Fragen bestürmten, was eigentlich in Wien geschehen sei. Und ich, der ich doch der ›Augenzeuge‹ der Revolution gewesen, mußte ihnen ehrlich sagen: »Ich weiß es nicht. Am besten, ihr kauft eine ausländische Zeitung.«
Sonderbarerweise fiel am nächsten Tag im Zusammenhang mit diesen Ereignissen eine Entscheidung in meinem eigenen Leben. Ich war nachmittags von Wien in mein Haus nach Salzburg zurückgekommen, hatte dort Stöße von Korrekturen und Briefen vorgefunden und bis tief in die Nacht gearbeitet, um alle Rückstände zu beseitigen. Am nächsten Morgen, ich lag noch im Bett, klopfte es an die Tür; unser braver alter Diener, der mich sonst nie weckte, wenn ich nicht ausdrücklich eine Stunde bestimmt hatte, erschien mit bestürztem Gesicht. Ich möchte hinunterkommen, es seien Herren von der Polizei da und wünschten mich zu sprechen. Ich war etwas verwundert, nahm den Schlafrock und ging in das untere Stockwerk. Dort standen vier Polizisten in Zivil und eröffneten mir, sie hätten Auftrag, das Haus zu durchsuchen; ich solle sofort alles abliefern, was an Waffen des Republikanischen Schutzbundes im Hause verborgen sei.
Ich muß gestehen, daß ich im ersten Augenblick zu verblüfft war, um irgend etwas zu antworten. Waffen des Republikanischen Schutzbundes in meinem Hause? Die Sache war zu absurd. Ich hatte nie einer Partei angehört, mich nie um Politik gekümmert. Ich war viele Monate nicht in Salzburg gewesen, und abgesehen von all dem wäre es das lächerlichste Ding von der Welt gewesen, ein Waffendepot gerade in diesem Hause anzulegen, das außerhalb der Stadt auf einem Berge lag, so daß man jeden, der ein Gewehr oder eine Waffe trug, unterwegs beobachten konnte. Ich antwortete also nichts als ein kühles: »Bitte, sehen Sie nach.« Die vier Detektive gingen durch das Haus, öffneten einige Kästen, klopften an ein paar Wände, aber es war mir sofort klar an der lässigen Art, wie sie es taten, daß diese Nachschau pro forma geschah und keiner von ihnen ernstlich an ein Waffendepot in diesem Hause glaubte. Nach einer halben Stunde erklärten sie die Untersuchung für beendet und verschwanden.
Warum mich diese Farce damals so sehr erbitterte, bedarf leider bereits einer aufklärenden historischen Anmerkung. Denn in den letzten Jahrzehnten hat Europa und die Welt beinahe schon vergessen, welch heilige Sache vordem persönliches Recht und staatsbürgerliche Freiheit gewesen. Seit 1933 sind Durchsuchungen, willkürliche Verhaftungen, Vermögenskonfiskationen, Austreibungen von Heim und Land, Deportationen und jede andere denkbare Form der Erniedrigung beinahe selbstverständliche Angelegenheiten geworden; ich kenne kaum einen meiner europäischen Freunde, der nicht derlei erfahren. Aber damals, zu Beginn von 1934, war eine Hausdurchsuchung in Österreich noch ein ungeheurer Affront. Daß jemand, der wie ich vollkommen jeder Politik fernstand und seit Jahren nicht einmal sein Wahlrecht ausgeübt hatte, ausgesucht worden war, mußte einen besonderen Grund haben, und in der Tat war es eine typisch österreichische Angelegenheit. Der Polizeipräsident von Salzburg war genötigt gewesen, scharf gegen die Nationalsozialisten vorzugehen, die mit Bomben und Explosivstoffen Nacht für Nacht die Bevölkerung beunruhigten, und diese Überwachung war eine bedenkliche Mutleistung, denn schon damals setzte die Partei ihre Technik des Terrors ein. Jeden Tag erhielten die Amtsstellen Drohbriefe, sie würden dafür zu bezahlen haben, wenn sie weiterhin die Nationalsozialisten ›verfolgten‹, und in der Tat – wenn es Rache galt, haben die Nationalsozialisten ihr Wort immer hundertprozentig gehalten sind die getreuesten österreichischen Beamten gleich am ersten Tage nach Hitlers Einmarsch ins Konzentrationslager geschleppt worden. So lag der Gedanke nahe, durch eine Haussuchung bei mir demonstrativ kundzutun, daß man vor niemandem mit solchen Sicherungsmaßnahmen zurückscheue. Ich aber spürte hinter dieser an sich unbeträchtlichen Episode, wie ernst die Sachlage in Österreich schon geworden war, wie übermächtig der Druck von Deutschland her. Mein Haus gefiel mir nicht mehr seit jenem amtlichen Besuch, und ein bestimmtes Gefühl sagte mir, daß solche Episoden nur schüchternes Vorspiel viel weiterreichender Eingriffe waren. Am selben Abend begann ich meine wichtigsten Papiere zu packen, entschlossen, nun immer im Ausland zu leben, und diese Loslösung bedeutete mehr als eine von Haus und Land, denn meine Familie hing an diesem Haus als ihrer Heimat, sie liebte das Land. Mir aber war persönliche Freiheit die wichtigste Sache auf Erden. Ohne irgend jemanden meiner Freunde und Bekannten von meiner Absicht zu verständigen, reiste ich zwei Tage später nach London zurück; mein erstes dort war, der Behörde in Salzburg die Mitteilung zu machen, daß ich meinen Wohnsitz definitiv aufgegeben hätte. Es war der erste Schritt, der mich von meiner Heimat loslöste. Aber ich wußte, seit jenen Tagen in Wien, daß Österreich verloren war – freilich ahnte ich noch nicht, wieviel ich damit verlor.
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