Sonnenuntergang


Es war – dankbar will ich mich dessen immer wieder erinnern – für Europa eine verhältnismäßig ruhige Zeit, dieses Jahrzehnt von 1924 bis 1933, ehe jener eine Mensch unsere Welt verstörte. Gerade weil sie an den Beunruhigungen so schwer gelitten, nahm unsere Generation den relativen Frieden als unverhofftes Geschenk. Wir alle hatten das Gefühl, man müsse nachholen, was die schlimmen Jahre des Kriegs und des Nachkriegs aus unserem Leben an Glück, an Freiheit, an geistiger Konzentration gestohlen; man arbeitete mehr und doch entlasteter, man wanderte, man versuchte, man entdeckte sich wieder Europa, die Welt. Nie sind die Menschen so viel gereist wie in diesen Jahren, – war es die Ungeduld der jungen Leute, hastig gutzumachen, was sie versäumt in ihrem gegenseitigen Abgesperrtsein? War es vielleicht ein dunkles Vorgefühl, man müsse noch rechtzeitig ausbrechen aus der Enge, ehe die Sperre wieder von neuem begann?


Auch ich reiste viel in jener Zeit, nur war es schon ein anderes Reisen als in den Tagen meiner Jugend. Denn ich war jetzt in den Ländern kein Fremder mehr, überall hatte ich Freunde, Verleger, ein Publikum, ich kam als der Autor meiner Bücher und nicht mehr als der anonyme Neugierige von einst. Das brachte allerhand Vorteile. Ich konnte mit stärkerem Nachdruck und breiterer Wirkung für die Idee werben, die seit Jahren die eigentliche meines Lebens geworden: für die geistige Einigung Europas. Ich hielt in diesem Sinne Vorlesungen in der Schweiz, in Holland, ich sprach französisch im Palais des Arts in Brüssel, italienisch in Florenz in der historischen Sala dei Dugento, wo Michelangelo und Lionardo gesessen, englisch in Amerika auf einer lecture tour vom Atlantischen zum Pazifischen Ozean. Es war ein anderes Reisen; überall sah ich jetzt kameradschaftlich die Besten des Landes, ohne sie suchen zu müssen; die Männer, zu denen ich in meiner Jugend ehrfürchtig aufgesehen und denen ich nie eine Zeile zu schreiben gewagt hätte, waren mir Freunde geworden. Ich trat in Kreise, die sonst sich dem Fremden hochmütig verschließen, ich sah die Palais des Faubourg St. Germain, die Palazzi Italiens, die privaten Sammlungen; in den öffentlichen Bibliotheken stand ich nicht mehr bittend am Schalter der Bücherausgabe, sondern die Direktoren zeigten mir persönlich die verborgenen Schätze, bei den Antiquaren der Dollarmillionäre wie Dr. Rosenbach in Philadelphia, an deren Läden der kleine Sammler mit scheuem Blick vorbeigegangen, war ich zu Gast. Ich hatte zum erstenmal Einblick in die sogenannte ›obere‹ Welt und dazu die Behaglichkeit, die Bequemlichkeit, daß ich niemanden um Einlaß bemühen mußte, sondern daß alles an mich herankam. Aber sah ich damit die Welt besser? Immer wieder überkam mich Sehnsucht nach den Reisen meiner Jugend, wo niemand einen erwartete und durch die Abgeschiedenheit alles geheimnisvoller erschien; so wollte ich von der alten Art des Wanderns auch nicht lassen. Wenn ich nach Paris kam, hütete ich mich, selbst die besten Freunde wie Roger Martin du Gard, Jules Romains, Duhamel, Masereel gleich am Tage der Ankunft zu verständigen. Erst wollte ich wieder, wie einst als Student, ungehemmt und unerwartet durch die Straßen streifen. Ich suchte die alten Cafés auf und die kleinen Wirtshäuser, ich spielte mich in meine Jugend zurück; ebenso ging ich, wenn ich arbeiten wollte, an die absurdesten Orte, in kleine Provinzorte wie Boulogne oder Tirano oder Dijon; es war wundervoll, unbekannt zu sein, in den kleinen Hotels zu wohnen nach den widerlich luxuriösen, bald vor, bald zurück zu treten, Licht und Schatten nach eigener Willkür zu verteilen. Und so viel Hitler mir später genommen, das gute Bewußtsein, doch noch ein Jahrzehnt nach eigenem Willen und mit innerster Freiheit europäisch gelebt zu haben, dies allein vermochte selbst er mir weder zu konfiszieren noch zu verstören.


Von jenen Reisen war eine für mich besonders erregend und belehrend: eine Reise in das neue Rußland. 1914, knapp vor dem Kriege, als ich an meinem Buch über Dostojewskij arbeitete, hatte ich diese Reise schon vorbereitet; damals war die blutige Sense des Krieges dazwischengefahren, und seitdem hielt mich ein Bedenken zurück. Rußland war durch das bolschewistische Experiment für alle geistigen Menschen das faszinierendste Land des Nachkrieges geworden, ohne genaue Kenntnis gleich enthusiastisch bewundert wie fanatisch befeindet. Niemand wußte zuverlässig – dank der Propaganda und gleich rabiaten Gegenpropaganda –, was dort geschah. Aber man wußte, daß dort etwas ganz Neues versucht wurde, etwas, das im Guten oder im Bösen bestimmend sein könnte für die zukünftige Form unserer Welt. Shaw, Wells, Barbusse, Istrati, Gide und viele andere waren hinübergefahren, die einen als Enthusiasten, die anderen als Enttäuschte zurückkehrend, und ich wäre kein geistig verbundener, dem Neuen zugewandter Mensch gewesen, hätte es mich nicht gleichfalls verlockt, aus eigenem Augenschein mir ein Bild zu formen. Meine Bücher waren dort ungemein verbreitet, nicht nur die Gesamtausgabe mit Maxim Gorkijs Einleitung, sondern auch kleine billige Ausgaben für ein paar Kopeken, die bis in die breitesten Massen drangen; ich konnte also guten Empfanges gewiß sein. Aber was mich hinderte, war, daß jede Reise nach Rußland damals schon im vorhinein eine Art Parteinahme bedeutete und zu öffentlichem Bekenntnis oder öffentlicher Verneinung zwang, indes ich, der das Politische und Dogmatische im tiefsten verabscheute, nicht nach ein paar Wochen Überblicks über ein unabsehbares Land und ein noch ungelöstes Problem mir ein Urteil aufzwingen lassen wollte. So konnte ich mich trotz meiner brennenden Neugier nie entschließen, nach Sowjetrußland zu reisen.


Da gelangte im Frühsommer 1928 eine Einladung an mich, als Delegierter der österreichischen Schriftsteller an der Feier des hundertsten Geburtstages Leo Tolstois in Moskau teilzunehmen, um dort am Festabend das Wort zu seinen Ehren zu ergreifen. Einem solchen Anlaß auszuweichen, hatte ich keinen Grund, denn durch den überparteilichen Gegenstand war mein Besuch dem Politischen entrückt. Tolstoi als der Apostel der non-violence war nicht als Bolschewist zu deuten, und über ihn als Dichter zu sprechen stand mir ein offenkundiges Recht zu, da mein Buch über ihn in vielen Tausenden Exemplaren verbreitet war; auch schien es mir im europäischen Sinne eine bedeutsame Demonstration, wenn sich die Schriftsteller aller Länder vereinten, um dem Größten unter ihnen eine gemeinsame Huldigung darzubringen. Ich sagte also zu und hatte meinen raschen Entschluß nicht zu bereuen. Schon die Fahrt durch Polen war ein Erlebnis. Ich sah, wie schnell unsere Zeit Wunden zu heilen vermag, die sie sich selber schlägt. Dieselben Städte Galiziens, die ich 1915 in Trümmern gekannt, standen blank und neu; wieder erkannte ich, daß zehn Jahre, die im Leben eines einzigen Menschen ein breites Stück seiner Existenz bedeuten, nur ein Wimpernschlag sind im Leben eines Volkes. In Warschau war keine Spur zu entdecken, daß hier zweimal, dreimal, viermal siegreiche und besiegte Armeen durchgeflutet. Die Cafés glänzten mit eleganten Frauen. Die Offiziere, die tailliert und schlank durch die Straßen promenierten, wirkten eher wie meisterhafte Hofschauspieler, die Soldaten darstellen. Überall war Rührigkeit, Vertrauen und ein berechtigter Stolz zu spüren, daß die neue Republik Polen sich so stark aus dem Schutt der Jahrhunderte erhob. Von Warschau ging es weiter der russischen Grenze zu. Flacher und sandiger wurde das Land; an jeder Station stand die ganze Bevölkerung des Dorfes in bunten ländlichen Trachten, denn nur ein einziger Personenzug am Tage ging damals hinüber in das verbotene und verschlossene Land, und es war das große Ereignis, die blanken Wagen eines Expreßzuges zu sehen, der die Welt des Ostens mit der Welt des Westens verband. Endlich war die Grenzstation erreicht, Njegorolje. Breit über die Gleise war ein blutrotes Band gespannt mit einer Aufschrift, deren cyrillische Lettern ich nicht lesen konnte. Man übersetzte sie mir: ›Arbeiter aller Länder, vereinigt euch!‹ Man hatte, indem man unter diesem brennend roten Band hindurchschritt, das Imperium des Proletariats, die Sowjetrepublik, betreten, eine neue Welt. Der Zug freilich, in dem wir fuhren, war keineswegs proletarisch. Er erwies sich als Schlafwagenzug aus der zaristischen Zeit, behaglicher und bequemer als die europäischen Luxuszüge, weil breiter im Format und langsamer im Tempo. Zum erstenmal fuhr ich durch das russische Land, und sonderbar, es wirkte auf mich nicht fremd. Alles war mir merkwürdig vertraut, die weite leere Steppe mit ihrer leisen Melancholie, die kleinen Hütten und Städtchen mit ihren Zwiebeltürmen, die langbärtigen Männer, halb Bauer, halb Prophet, die mit gutmütigem, breitem Lachen uns grüßten, die Frauen mit ihren bunten Kopftüchern und weißen Kitteln, die Kwas, Eier und Gurken verkauften. Wieso kannte ich das alles? Nur durch die Meisterschaft der russischen Literatur – durch Tolstoi, Dostojewskij, Aksakow, Gorkij –, die uns das Leben des ›Volkes‹ so realistisch großartig geschildert. Ich glaubte, obwohl ich die Sprache nicht kannte, die Menschen zu verstehen, wenn sie sprachen, diese rührend einfachen Männer, die da in ihren weiten Blusen breit und behäbig standen, und die jungen Arbeiter im Zuge, die Schach spielten oder lasen oder diskutierten, diese unruhige, unbändige Geistigkeit der Jugend, die durch den Appell an alle Kräfte noch eine besondere Auferstehung erfahren. War es die Liebe Tolstois und Dostojewskijs zu dem ›Volke‹, die in einem als Erinnerung wirkte – jedenfalls überkam mich schon im Zuge ein Gefühl der Sympathie für das Kindliche und Rührende, das Kluge und noch Unbelehrte dieser Menschen.


Die vierzehn Tage, die ich in Sowjetrußland verbrachte, gingen hin in einer ständigen Hochspannung. Man sah, man hörte, man bewunderte, man war abgestoßen, man begeisterte, man ärgerte sich, immer war es ein Wechselstrom zwischen heiß und kalt. Moskau selbst war schon eine Zwiespältigkeit – da der herrliche Rote Platz mit seinen Mauern und Zwiebeltürmen, etwas wunderbar Tatarisches, Orientalisches, Byzantinisches und darum Urrussisches, und daneben wie eine fremde Horde von amerikanischen Riesen moderne, übermoderne Hochbauten. Nichts ging zusammen; in den Kirchen dämmerten noch rauchgeschwärzt die alten Ikonen und die juwelenschimmernden Altäre der Heiligen, und hundert Schritte weiter lag in ihrem gläsernen Sarg die Leiche Lenins, eben frisch aufgefärbt (ich weiß nicht, ob zu unseren Ehren) im schwarzen Anzug. Neben ein paar blinkenden Automobilen peitschten mit schmatzenden Koseworten bärtige, schmutzige Istvoshniks ihre mageren Pferdchen, die große Oper, in der wir sprachen, glühte großartig und zaristisch in pompösem Glanz vor dem proletarischen Publikum, und in den Vorstädten standen wie schmutzige verwahrloste Greise die alten morschen Häuser, die sich eines an das andere lehnen mußten, um nicht umzufallen. Alles war zu lange alt und träge und verrostet gewesen und wollte jetzt mit einem Ruck modern, ultramodern, supertechnisch werden. Durch diese Eile wirkte Moskau überfüllt, überbevölkert und wirr durcheinandergeschüttelt. Überall drängten sich die Leute, in den Geschäften, vor den Theatern, und überall mußten sie warten, alles war überorganisiert und funktionierte darum nicht recht; noch genoß die neue Bürokratie, die ›Ordnung‹ machen sollte, die Lust am Schreiben von Zetteln und Erlaubnissen und verzögerte alles. Der große Abend, der um 6 Uhr beginnen sollte, begann um ½10; als ich todmüde um 3 Uhr nachts die Oper verließ, sprachen die Redner noch unentwegt weiter; bei jedem Empfang, bei jeder Verabredung kam man als Europäer eine Stunde zu früh. Die Zeit zerfloß einem zwischen den Händen und war doch prall voll in jeder Sekunde durch Schauen und Beobachten und Diskutieren; irgendein Fieber war in all dem, und man spürte, daß sie einen unmerklich ergriff, jene geheimnisvolle russische Entzündung der Seele und ihre unbändige Lust, Gefühle und Ideen noch ganz heiß aus sich herauszustoßen. Ohne recht zu wissen warum und wofür, war man leicht exaltiert, es lag an der Atmosphäre, der unruhigen und neuen; vielleicht wuchs einem schon eine russische Seele zu.


Vieles war großartig, Leningrad vor allem, diese genial von verwegenen Fürsten konzipierte Stadt mit ihren breiten Prospekten, ihren mächtigen Palästen – und doch auch zugleich noch das bedrückende Petersburg der ›Weißen Nächte‹ und des Raskolnikow. Imposant die Eremitage und unvergeßlicher Anblick darin, wie in Scharen, den Hut ehrfürchtig in der Hand wie ehemals vor ihren Ikonen, die Arbeiter, die Soldaten, die Bauern mit ihren schweren Schuhen durch die einst kaiserlichen Säle gingen und die Bilder mit dem geheimen Stolz anschauten: das gehört jetzt uns, und wir werden lernen, solche Dinge zu verstehen. Lehrer führten rundbäckige Kinder durch die Säle, Kunstkommissare erklärten den etwas befangen zuhörenden Bauern Rembrandt und Tizian; immer hoben sie, wenn auf Einzelheiten gezeigt wurde, scheu die Augen unter den schweren Lidern. Auch hier wie überall war eine kleine Lächerlichkeit in diesem reinen und redlichen Bemühen, über Nacht das ›Volk‹ vom Analphabetismus gleich zum Verständnis Beethovens und Vermeers emporzureißen, aber diese Bemühung, die höchsten Werte einerseits auf den ersten Anhieb verständlich zu machen, andererseits zu verstehen, war auf beiden Seiten gleich ungeduldig. In den Schulen ließ man Kinder die wildesten, die extravagantesten Dinge malen, auf den Bänken zwölfjähriger Mädchen lagen Hegels Werke und Sorel (den ich damals selbst noch nicht kannte), Kutscher, die noch nicht recht lesen konnten, hielten Bücher in der Hand, nur weil es Bücher waren und Bücher ›Bildung‹ bedeuteten, also Ehre, Pflicht des neuen Proletariats. Ach, wie oft mußten wir lächeln, wenn man uns mittlere Fabriken zeigte und ein Staunen erwartete, als ob wir derlei noch nie in Europa und Amerika gesehen; »elektrisch«, sagte mir ganz stolz ein Arbeiter, auf eine Nähmaschine deutend, und blickte mich erwartungsvoll an, ich sollte in Bewunderung ausbrechen. Weil das Volk all diese technischen Dinge zum erstenmal sah, glaubte es demütig, die Revolution und Väterchen Lenin und Trotzkij hätten dies alles erdacht und erfunden. So lächelte man in Bewunderung und bewunderte, während man sich heimlich amüsierte; welch ein wunderbares begabtes und gütiges großes Kind, dieses Rußland, dachte man immer und fragte sich: wird es wirklich die ungeheure Lektion so rasch lernen, wie es sich vorgenommen? Wird dieser Plan noch weiter sich großartig entfalten oder in der alten russischen Oblomowerei versanden? In der einen Stunde hatte man Zuversicht, in der andern Mißtrauen. Je mehr ich sah, desto weniger wurde ich mir klar.


Aber lag das Zwiespältige an mir, lag es nicht vielmehr im russischen Wesen begründet, lag es nicht sogar in Tolstois Seele, den wir zu feiern gekommen waren? Auf der Bahnfahrt nach Jasnaja Poljana sprach ich darüber mit Lunartscharskij. »Was war er eigentlich«, sagte mir Lunartscharskij, »ein Revolutionär oder ein Reaktionär? Hat er es selbst gewußt? Als richtiger Russe wollte er alles zu rasch, nach Tausenden von Jahren die ganze Welt ändern in einem Handumdrehen. – Ganz wie wir«, fügte er lächelnd bei, »und mit einer einzigen Formel genau wie wir. Man sieht uns falsch, uns Russen, wenn man uns geduldig nennt. Wir sind geduldig mit unseren Körpern und sogar mit unserer Seele. Aber mit unserem Denken sind wir ungeduldiger als jedes andere Volk, wir wollen alle Wahrheiten, ›die‹ Wahrheit immer sofort wissen. Und wie hat er sich gequält darum, der alte Mann.« Und wirklich, als ich durch Tolstois Haus in Jasnaja Poljana ging, fühlte ich nur immer dies ›wie hat er sich gequält, der große alte Mann‹. Da war der Schreibtisch, an dem er seine unvergänglichen Werke geschrieben, und er hatte ihn verlassen, um nebenan in einem ärmlichen Gemach Schuhe zu schustern, schlechte Schuhe. Da war die Tür, da war die Treppe, durch die er diesem Haus, durch die er dem Zwiespalt seiner Existenz hatte entflüchten wollen. Da war die Flinte, mit der er im Kriege Feinde getötet, der er doch Feind alles Krieges war. Die ganze Frage seiner Existenz stand stark und sinnlich vor mir in diesem niederen weißen Gutshause, aber wunderbar war dies Tragische dann gelindert durch den Gang an seine letzte Ruhestätte.


Denn nichts Großartigeres, nichts Ergreifenderes habe ich in Rußland gesehen als Tolstois Grab. Abseits und allein liegt dieser erlauchte Pilgerort, eingebettet im Wald. Ein schmaler Fußpfad führt hin zu diesem Hügel, der nichts ist als ein gehäuftes Rechteck Erde, von niemandem bewacht, von niemandem gehütet, nur von ein paar großen Bäumen beschattet. Diese hochragenden Bäume hat, so erzählte mir seine Enkelin vor dem Grab, Leo Tolstoi selbst gepflanzt. Sein Bruder Nicolai und er hatten als Knaben von irgendeiner Dorffrau die Sage gehört, wo man Bäume pflanze, werde ein Ort des Glückes sein. So hatten sie halb im Spiel ein paar Schößlinge eingesetzt. Erst später entsann sich der alte Mann dieser wunderbaren Verheißung und äußerte sofort den Wunsch, unter jenen selbstgepflanzten Bäumen begraben zu werden. Das ist geschehen, ganz nach seinem Willen, und es ward das eindrucksvollste Grab der Welt durch seine herzbezwingende Schlichtheit. Ein kleiner rechteckiger Hügel mitten im Wald von Bäumen überblüht – nulla crux, nulla corona! kein Kreuz, kein Grabstein, keine Inschrift. Namenlos ist der große Mann begraben, der wie kein anderer an seinem Namen und seinem Ruhm litt, genau wie ein zufällig aufgefundener Landstreicher, wie ein unbekannter Soldat. Niemandem bleibt es verwehrt, an seine letzte Ruhestätte zu treten; der dünne Bretterzaun ringsherum ist nicht verschlossen. Nichts behütet die letzte Ruhe des Ruhelosen als die Ehrfurcht der Menschen. Während sich sonst Neugier um den Prunk eines Grabes drängt, bannt hier die zwingende Einfachheit jede Schaulust. Wind rauscht wie Gottes Wort über das Grab des Namenlosen, sonst keine Stimme, man könnte daran vorbeigehen, ohne mehr zu wissen, als daß hier irgendeiner begraben liegt, irgendein russischer Mensch in der russischen Erde. Nicht Napoleons Krypta unter dem Marmorbogen des Invalidendomes, nicht Goethes Sarg in der Fürstengruft, nicht jene Grabmäler in der Westminsterabtei erschüttern durch ihren Anblick so sehr wie dies herrlich schweigende, rührend namenlose Grab irgendwo im Walde, nur vom Wind umflüstert und selbst ohne Botschaft und Wort.


Vierzehn Tage war ich in Rußland gewesen, und noch immer empfand ich diese innerliche Gespanntheit, diesen Nebel leichter geistiger Berauschtheit. Was war es eigentlich, das einen so erregte? Bald erkannte ich’s: es waren die Menschen und die impulsive Herzlichkeit, die von ihnen ausströmte. Alle vom ersten bis zum letzten waren überzeugt, daß sie an einer ungeheuren Sache beteiligt waren, welche die ganze Menschheit betraf, alle davon durchdrungen, daß, was sie an Entbehrungen und Einschränkungen auf sich nehmen mußten, um einer höheren Mission willen geschah. Das alte Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Europa war umgeschlagen in einen trunkenen Stolz, vorauszusein, allen voraus. ›Ex Oriente lux‹ von ihnen kam das Heil; so meinten sie ehrlich und redlich, ›Die‹ Wahrheit, sie hatten sie erkannt; ihnen war gegeben, zu erfüllen, was die andern nur träumten. Wenn sie das Nichtigste einem zeigten, so strahlten ihre Augen: »Das haben wir gemacht.« Und dieses ›Wir‹ ging durch das ganze Volk. Der Kutscher, der einen fuhr, wies mit der Peitsche auf irgendein neues Haus, ein Lachen machte die Wangen breit: »Wir haben das gebaut.« Die Tataren, die Mongolen in den Studentenräumen kamen auf einen zu, zeigten einem voll Stolz ihre Bücher: »Darwin!« sagte der eine, »Marx!« der andere, genau so stolz, als hätten sie selbst die Bücher geschrieben. Unablässig drängten sie sich, einem zu zeigen, zu erklären, sie waren so dankbar, daß jemand gekommen war, ›ihr‹ Werk zu sehen. Jeder hatte – Jahre vor Stalin! – zu einem Europäer grenzenloses Vertrauen, mit guten treuen Augen blickten sie zu einem auf und schüttelten einem kräftig und brüderlich die Hand. Aber gerade die Geringsten zeigten zugleich, daß sie einen zwar liebten, aber nicht etwa ›Respekt‹ hatten man war doch Bruder, Towarisch, war Kamerad. Auch bei den Schriftstellern war es nicht anders. Wir saßen im Hause zusammen, das vormals Alexander Herzen gehört hatte, nicht nur Europäer und Russen, sondern Tungusen und Georgier und Kaukasier, jeder Sowjetstaat hatte für Tolstoi seinen Delegierten gesandt. Man konnte sich mit den meisten nicht verständigen, aber man verstand sich doch. Manchmal stand einer auf, kam auf einen zu, nannte den Titel eines Buches, das man geschrieben, deutete auf sein Herz um zu sagen »ich liebe es sehr«, dann packte er einen bei der Hand und schüttelte sie, als wollte er einem alle Gelenke vor Liebe zerbrechen. Und noch rührender, jeder brachte ein Geschenk. Es war damals noch eine schlimme Zeit; sie besaßen nichts von Wert, aber jeder holte etwas heran, um einem eine Erinnerung zu geben, einen alten wertlosen Stich, ein Buch, das man nicht lesen konnte, eine bäuerliche Schnitzerei. Ich hatte es freilich leichter, denn ich konnte mit Kostbarkeiten erwidern, die Rußland seit Jahren nicht gesehen –, mit einer Gillette-Rasierklinge, einer Füllfeder, ein paar Bogen guten weißen Briefpapiers, ein Paar weichen ledernen Pantoffeln, so daß ich mit geringstem Gepäck nach Hause kam. Gerade das Stumme und doch Impulsive der Herzlichkeit war überwältigend, und es war eine bei uns unbekannte Breite und Wärme der Wirkung, die man hier sinnlich fühlte denn bei uns erreichte man doch niemals das ›Volk‹ –, eine gefährliche Verführung wurde jedes Beisammensein mit diesen Menschen, der manche der ausländischen Schriftsteller auch tatsächlich bei ihren Besuchen in Rußland erlegen sind. Weil sie sich gefeiert sahen wie nie und von der wirklichen Masse geliebt, glaubten sie das Regime rühmen zu müssen, unter dem man sie so las und liebte; es liegt ja in der menschlichen Natur, Generosität mit Generosität, Überschwang mit Überschwang zu erwidern. Ich muß gestehen, daß ich selbst in manchen Augenblicken in Rußland nahe daran war, hymnisch zu werden und mich an der Begeisterung zu begeistern.


Daß ich diesem zauberischen Rausch nicht anheimfiel, danke ich nicht so sehr eigener innerer Kraft als einem Unbekannten, dessen Namen ich nicht weiß und nie erfahren werde. Es war nach einer Festlichkeit bei Studenten. Sie hatten mich umringt, umarmt und mir die Hände geschüttelt. Mir war noch ganz warm von ihrem Enthusiasmus, ich sah voll Freude ihre belebten Gesichter. Vier, fünf begleiteten mich nach Hause, ein ganzer Trupp, wobei die mir zugeteilte Dolmetscherin, ebenfalls eine Studentin, mir alles übersetzte. Erst wie ich die Zimmertür im Hotel hinter mir geschlossen hatte, war ich wirklich allein, allein eigentlich zum erstenmal seit zwölf Tagen, denn immer war man begleitet, immer umhütet, von warmen Wellen getragen. Ich begann mich auszuziehen und legte meinen Rock ab. Dabei spürte ich etwas knistern. Ich griff in die Tasche. Es war ein Brief. Ein Brief in französischer Sprache, aber ein Brief, der mir nicht durch die Post zugekommen war, ein Brief, den irgend jemand bei einer dieser Umarmungen oder Umdrängungen mir geschickt in die Tasche geschoben haben mußte.


Es war ein Brief ohne Unterschrift, ein sehr kluger, ein menschlicher Brief, nicht zwar der eines ›Weißen‹, aber doch voll Erbitterung gegen die immer steigende Einschränkung der Freiheit in den letzten Jahren. »Glauben Sie nicht alles«, schrieb mir dieser Unbekannte, »was man Ihnen sagt. Vergessen Sie nicht, bei allem, was man Ihnen zeigt, daß man Ihnen auch vieles nicht zeigt. Erinnern Sie sich, daß die Menschen, die mit Ihnen sprechen, meistens nicht das sagen, was sie Ihnen sagen wollen, sondern nur, was sie Ihnen sagen dürfen. Wir sind alle überwacht und Sie selbst nicht minder. Ihre Dolmetscherin meldet jedes Wort. Ihr Telephon ist abgehört, jeder Schritt kontrolliert.« Er gab mir eine Reihe von Beispielen und Einzelheiten, die zu überprüfen ich nicht imstande war. Aber ich verbrannte diesen Brief gemäß seiner Weisung – »Zerreißen Sie ihn nicht bloß, denn man würde die einzelnen Stücke aus Ihrem Papierkorb holen und zusammensetzen« – und begann zum erstenmal alles zu überdenken. War es nicht wirklich Tatsache, daß ich inmitten dieser ehrlichen Herzlichkeit, dieser wunderbaren Kameradschaftlichkeit eigentlich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gehabt hatte unbefangen mit jemandem unter vier Augen zu sprechen? Meine Unkenntnis der Sprache hatte mich verhindert, mit den Leuten aus dem Volke rechte Fühlung zu nehmen. Und dann: ein wie winziges Stück des unübersehbaren Reiches hatte ich in diesen vierzehn Tagen gesehen! Wenn ich ehrlich gegen mich und gegen andere sein wollte, mußte ich zugeben, daß mein Eindruck, so erregend, so beschwingend er in manchen Einzelheiten gewesen, doch keine objektive Gültigkeit haben konnte. So kam es, daß, während fast alle anderen europäischen Schriftsteller, die von Rußland zurückkamen, sofort ein Buch veröffentlichten mit begeistertem Ja oder erbittertem Nein, ich nichts als ein paar Aufsätze schrieb. Und ich habe mit dieser Zurückhaltung gut getan, denn schon nach drei Monaten war vieles anders, als ich es gesehen, und nach einem Jahr wäre dank der rapiden Wandlungen jedes Wort schon von den Tatsachen Lügen gestraft worden. Immerhin habe ich das Strömende unserer Zeit in Rußland so stark gefühlt wie selten in meinem Leben.


Meine Koffer waren bei meiner Abreise von Moskau ziemlich leer. Was ich weggeben konnte, hatte ich verteilt und meinerseits nur zwei Ikone mitgenommen, die dann lange Zeit mein Zimmer schmückten. Aber das Wertvollste, was ich mir heimbrachte, war die Freundschaft mit Maxim Gorkij, dem ich in Moskau zum ersten Male persönlich begegnet bin. Ich traf ihn ein oder zwei Jahre später in Sorrent wieder, wohin er sich wegen seiner gefährdeten Gesundheit hatte begeben müssen, und verbrachte dort drei unvergeßliche Tage als Gast in seinem Hause.


Dieses unser Beisammensein war eigentlich sehr sonderbar. Gorkij beherrschte keine ausländische Sprache, ich wiederum nicht die russische. Nach allen Regeln der Logik hätten wir also einander stumm gegenübersitzen müssen oder ein Gespräch nur dank unserer verehrten Freundin Maria Baronin Budberg durch Verdolmetschung aufrechterhalten können. Aber Gorkij war keineswegs bloß zufällig einer der genialsten Erzähler der Weltliteratur; erzählen bedeutete für ihn nicht nur künstlerische Ausdrucksform, es war eine funktionelle Emanation seines ganzen Wesens. Im Erzählen lebte er in dem Erzählten, verwandelte er sich in das Erzählte, und ich verstand ihn, ohne die Sprache zu verstehen, schon im voraus durch die plastische Tätigkeit seines Gesichts. An und für sich sah er nur – man kann es nicht anders sagen – ›russisch‹ aus. Nichts war auffallend an seinen Zügen; man hätte den hohen hagern Mann mit dem strohgelben Haar und den breiten Backenknochen sich als Bauer auf dem Felde denken können, als Kutscher auf einer Droschke, als kleinen Schuster, als verwahrlosten Vaganten – er war nichts als ›Volk‹, als konzentrierte Urform des russischen Menschen. Auf der Straße wäre man achtlos an ihm vorübergegangen, ohne das Besondere an ihm zu merken. Erst wenn man ihm gegenübersaß und er zu erzählen begann, erkannte man, wer er war. Denn er wurde unwillkürlich der Mensch, den er porträtierte. Ich erinnere mich, wie er – ich verstand schon, ehe man mir übersetzte – einen alten, buckligen, müden Menschen beschrieb, den er auf seinen Wanderungen einmal getroffen hatte. Unwillkürlich sank der Kopf ein, die Schultern drückten sich nieder, seine Augen, strahlend blau und leuchtend, als er begonnen, wurden dunkel und müde, seine Stimme brüchig; er hatte sich, ohne es zu wissen, in den alten Buckligen verwandelt. Und sofort, wenn er etwas Heiteres schilderte, brach das Lachen breit aus seinem Mund, er lehnte sich locker zurück, ein Glanz schimmerte auf seiner Stirn; es war eine unbeschreibliche Lust, ihm zuzuhören, während er mit runden, gleichsam bildnerischen Bewegungen Landschaft und Menschen um sich stellte. Alles an ihm war einfach-natürlich, sein Gehen, sein Sitzen, sein Lauschen, sein Übermut; eines Abends verkleidete er sich als Bojar, legte sich einen Säbel um, und sofort kam Hoheit in seinen Blick. Befehlend spannten sich seine Augenbrauen, er ging energisch im Zimmer auf und ab, als erwäge er einen grimmigen Ukas, und im nächsten Augenblick, als er die Verkleidung abgenommen, lachte er kindlich wie ein Bauernjunge. Seine Vitalität war ein Wunder; er lebte mit seiner zerstörten Lunge eigentlich gegen alle Gesetze der Medizin, aber ein unheimlicher Lebenswille, ein ehernes Pflichtgefühl hielten ihn aufrecht; jeden Morgen schrieb er mit seiner klaren kalligraphischen Handschrift an seinem großen Roman, beantwortete Hunderte von Fragen, mit denen sich aus seiner Heimat junge Schriftsteller und Arbeiter an ihn wandten; mit ihm beisammen zu sein hieß für mich Rußland erleben, nicht das bolschewistische, nicht das von einst und nicht das von heute, sondern des ewigen Volkes weite, starke und dunkle Seele. Innerlich war er in jenen Jahren noch nicht ganz entschieden. Als alter Revolutionär hatte er den Umsturz gewollt, war mit Lenin persönlich befreundet gewesen, aber er zögerte damals noch, sich ganz der Partei zu verschreiben, »Pope zu werden oder Papst«, wie er sagte, und doch drückte ihn das Gewissen, in jenen Jahren, wo jede Woche Entscheidung brachte, nicht mit den Seinen zu sein.


Zufällig wurde ich in jenen Tagen Zeuge einer solchen, sehr charakteristischen, durchaus neu-russischen Szene, die mir seinen ganzen Zwiespalt enthüllte. Zum erstenmal war in Neapel ein russisches Kriegsschiff auf einer Übungsfahrt eingelaufen. Die jungen Matrosen, die nie in der Weltstadt gewesen, promenierten in ihren schmucken Uniformen durch die Via Toledo und konnten sich mit ihren großen, neugierigen Bauernaugen nicht sattsehen an all dem Neuen. Am nächsten Tag entschloß sich ein Trupp von ihnen, nach Sorrent hinüberzufahren, um ›ihren‹ Dichter zu besuchen. Sie sagten sich nicht an; in ihrer russischen Bruderschaftsidee war es ihnen ganz selbstverständlich, daß ›ihr‹ Dichter jederzeit für sie Zeit haben müsse. Plötzlich standen sie vor seinem Haus, und sie hatten richtig gefühlt: Gorkij ließ sie nicht warten und lud sie zu Gast. Aber – Gorkij erzählte es selbst lachend am nächsten Tage – diese jungen Leute, denen nichts höher stand als die ›Sache‹, gebärdeten sich zunächst recht streng zu ihm. »Wie wohnst du da«, sagten sie, kaum in die schöne behagliche Villa eingetreten. »Du lebst ja ganz wie ein Bourgeois. Und warum kommst du eigentlich nicht nach Rußland zurück?« Gorkij mußte ihnen alles ausführlich erklären, so gut er konnte. Aber im Grunde meinten es die braven Jungen auch nicht so streng. Sie hatten eben nur zeigen wollen, daß sie vor Ruhm keinen ›Respekt‹ hatten und jeden zuerst auf seine Gesinnung prüften. Unbefangen setzten sie sich hin, tranken Tee, plauderten, und zum Schluß umarmte ihn einer nach dem andern beim Abschied. Es war wunderbar, wie Gorkij die Szene erzählte, ganz verliebt in die lockere freie Art dieser neuen Generation und ohne im mindesten etwa durch ihre Burschikosität gekränkt zu sein. »Wie anders wir waren«, wiederholte er immer, »entweder geduckt oder voll Vehemenz, aber nie sicher unserer selbst.« Den ganzen Abend leuchteten seine Augen. Und als ich ihm sagte: »Ich glaube, am liebsten wären Sie mit ihnen heimgefahren«, stutzte er, sah mich scharf an. »Wieso wissen Sie das? Wirklich, ich habe bis zum letzten Augenblick noch überlegt, ob ich nicht alles stehen und liegen lassen sollte, die Bücher, die Papiere und die Arbeit, und mit solchen jungen Burschen vierzehn Tage auf ihrem Schiff ins Blaue fahren. Dann hätte ich wieder gewußt, was Rußland ist. In der Ferne verlernt man das Beste, keiner von uns hat im Exil noch etwas Gutes geleistet.«


Aber Gorkij irrte, wenn er Sorrent ein Exil nannte. Er konnte doch jeden Tag heimkehren und ist auch tatsächlich heimgekehrt. Er war nicht verbannt mit seinen Büchern, mit seiner Person wie Mereschkowskij – ich bin dem tragisch Verbitterten in Paris begegnet –, nicht wie wir es heute sind, die nach Grillparzers schönem Wort ›zwei Fremden und keine Heimat‹ haben, unbehaust in geborgten Sprachen und umgetrieben vom Wind. Einen wirklichen Exilierten dagegen und einen besonderer Art konnte ich in den nächsten Tagen in Neapel aufsuchen: Benedetto Croce. Jahrzehntelang war er der geistige Führer der Jugend gewesen, er hatte als Senator und Minister alle äußeren Ehren in seinem Lande gehabt, bis sein Widerstand gegen den Faschismus ihn mit Mussolini in Konflikt brachte. Er legte seine Ämter nieder und zog sich zurück; dies aber genügte den Intransigenten nicht, sie wollten seinen Widerstand brechen und ihn notfalls sogar züchtigen. Die Studenten, im Gegensatz zu einst, heute überall Stoßtruppe der Reaktion, stürmten sein Haus und schlugen ihm die Scheiben ein. Aber der kleine untersetzte Mann, der mit seinen klugen Augen und seinem Spitzbärtchen eher wie ein behaglicher Bürgersmann aussieht, ließ sich nicht einschüchtern. Er verließ nicht das Land, er blieb in seinem Hause hinter dem Wall seiner Bücher, obwohl er Rufe an amerikanische und ausländische Universitäten hatte. Er setzte seine Zeitschrift ›Critica‹ in der gleichen Gesinnung fort, veröffentlichte weiter seine Bücher, und so stark war seine Autorität, daß die sonst unerbittliche Zensur auf Befehl Mussolinis vor ihm halt machte, während seine Schüler, seine Gesinnungsgenossen völlig erledigt wurden. Ihn aufzusuchen erforderte für einen Italiener und sogar für einen Ausländer besonderen Mut, denn die Behörden wußten wohl, daß er in seiner Zitadelle, seinen mit Büchern überfüllten Zimmern ohne Maske und Schminke sprach. So lebte er gleichsam in einem luftdicht abgeschlossenen Raum, in einer Art Gasflasche inmitten der vierzig Millionen seiner Landsleute. Diese hermetische Isolierung eines einzelnen in einer Millionenstadt, einem Millionenland hatte für mich gleichzeitig etwas Gespenstisches und Großartiges. Noch wußte ich nicht, daß dies noch immer eine bedeutend mildere Form der geistigen Abtötung bedeutete, als sie später uns selber zuteil werden sollte, und konnte nicht umhin zu bewundern, welche Frische und geistige Spannkraft dieser immerhin schon alte Mann sich in dem täglichen Kampfe bewahrte. Aber er lachte. »Gerade der Widerstand ist es, der einen verjüngt. Wäre ich Senator geblieben, so hätte ich es leicht gehabt, ich wäre längst geistig träge und inkonsequent geworden. Nichts schadet dem geistigen Menschen mehr als Mangel am Widerstand; erst seit ich allein stehe und die Jugend nicht mehr um mich habe, bin ich genötigt, selbst wieder jung zu werden.«


Aber einige Jahre mußten erst vergehen, bis auch ich verstand, daß Prüfung herausfordert, Verfolgung bestärkt und Vereinsamung steigert, sofern sie einen nicht zerbricht. Wie alle wesentlichen Dinge des Lebens lernt man derlei Erkenntnisse nie an fremden Erfahrungen, sondern immer nur an dem eigenen Schicksal.


Daß ich den wichtigsten Mann Italiens, Mussolini, nie gesehen habe, ist meiner Gehemmtheit zuzuschreiben, mich politischen Persönlichkeiten zu nähern; selbst in meinem Vaterlande, dem kleinen Österreich, bin ich, was eigentlich ein Kunststück war, keinem von den führenden Staatsmännern – nicht Seipel, nicht Dollfuß, nicht Schuschnigg – je begegnet. Und doch wäre es meine Pflicht gewesen, Mussolini, der, wie ich von gemeinsamen Freunden wußte, einer der ersten und besten Leser meiner Bücher in Italien war, persönlich Dank zu sagen für die spontane Art, in der er mir die erste Bitte, die ich je an einen Staatsmann gerichtet, erfüllt hatte.


Das kam so. Eines Tages erhielt ich einen Eilbrief eines Freundes aus Paris, eine italienische Dame wolle mich in einer wichtigen Angelegenheit in Salzburg besuchen, ich möchte sie sofort empfangen. Sie meldete sich am nächsten Tage, und was sie mir sagte, war wirklich erschütternd. Ihr Mann, ein hervorragender Arzt aus armer Familie, war von Matteotti auf seine Kosten erzogen worden. Bei der brutalen Ermordung dieses sozialistischen Führers durch die Faschisten hatte das schon stark ermüdete Weltgewissen noch einmal erbittert gegen ein einzelnes Verbrechen reagiert. Ganz Europa hatte sich in Entrüstung erhoben. Der getreue Freund war nun einer jener sechs Couragierten gewesen, die damals gewagt hatten, öffentlich den Sarg des Ermordeten durch die Straßen von Rom zu tragen; kurz darauf war er, boykottiert und bedroht, ins Exil gegangen. Aber das Schicksal der Familie Matteottis ließ ihm keine Ruhe, er wollte in Erinnerung an seinen Wohltäter dessen Kinder aus Italien ins Ausland schmuggeln. Bei diesem Versuch war er in die Hände von Spionen oder Agents provocateurs gefallen und verhaftet worden. Da jede Erinnerung an Matteotti für Italien peinlich war, hätte ein Prozeß aus diesem Anlaß kaum sehr schlimm für ihn ausfallen können; aber der Prokurator schob ihn geschickt in einen anderen gleichzeitigen Prozeß hinüber, dem ein geplantes Bombenattentat gegen Mussolini zugrunde lag. Und der Arzt, der im Felde die höchsten Kriegsdekorationen erworben hatte, wurde zu zehn Jahren schwerem Zuchthaus verurteilt.


Die junge Frau war verständlicherweise ungeheuer erregt. Man müsse etwas gegen dieses Urteil tun, das ihr Mann nicht überleben könne. Man müsse alle literarischen Namen Europas zu einem lauten Protest vereinigen, und sie bitte mich, ihr behilflich zu sein. Ich riet sofort ab, etwas mit Protesten zu versuchen. Ich wußte, wie abgebraucht seit dem Kriege alle diese Manifestationen geworden waren. Ich versuchte ihr klar zu machen, daß schon aus Nationalstolz kein Land von außen seine Justiz korrigieren lasse, und daß der europäische Protest im Falle Sacco und Vanzetti in Amerika eher ungünstige als fördernde Wirkung gehabt. Ich bat sie dringend, nichts in diesem Sinne zu tun. Sie würde bloß die Situation ihres Mannes verschlimmern, denn nie werde Mussolini, nie könne er, selbst wenn er wolle, eine Milderung anordnen, wenn man versuche, sie ihm von außen aufzunötigen. Aber ich versprach, aufrichtig erschüttert, mein Bestes zu tun. Ich ginge zufällig nächste Woche nach Italien, wo ich wohlmeinende Freunde in einflußreichen Stellungen hätte. Vielleicht könnten die im stillen zu seinen Gunsten wirken.


Ich versuchte es gleich am ersten Tage. Aber ich sah, wie sehr schon die Furcht sich in die Seelen eingefressen hatte. Kaum nannte ich den Namen, wurde jeder verlegen. Nein, er habe da keinen Einfluß. Es sei völlig unmöglich. So ging es von einem zum andern. Ich kam beschämt zurück, denn vielleicht konnte die Unglückliche glauben, ich hätte nicht das Äußerste versucht. Und ich hatte es auch nicht versucht. Es blieb noch eine Möglichkeit – der gerade, der offene Weg: an den Mann, in dessen Händen die Entscheidung lag, an Mussolini selbst zu schreiben.


Ich tat es. Ich richtete einen wirklich ehrlichen Brief an ihn. Ich wollte nicht mit Schmeicheleien beginnen, schrieb ich, und auch gleich zu Anfang sagen, daß ich den Mann sowie das Ausmaß seines Beginnens nicht kenne. Aber ich hätte seine Frau gesehen, die zweifellos unschuldig sei, und auch auf sie falle die volle Wucht der Strafe, wenn ihr Mann diese Jahre im Zuchthaus verbringe. Ich wolle keineswegs Kritik an dem Urteil üben, aber ich könne mir denken, daß es für die Frau Lebensrettung bedeute, wenn ihr Mann statt ins Zuchthaus auf eine der Gefangenen-Inseln gebracht werde, wo es Frauen und Kindern gestattet ist, mit den Exilierten zu wohnen.


Ich nahm den Brief und warf ihn, an Seine Exzellenz Benito Mussolini adressiert, in den gewöhnlichen Salzburger Briefkasten. Vier Tage später schrieb mir die Wiener Italienische Gesandtschaft, Seine Exzellenz lasse mir danken und sagen, daß er meinem Wunsche stattgegeben und auch eine Verkürzung der Strafzeit vorgesehen habe. Gleichzeitig kam aus Italien ein Telegramm, das bereits die erbetene Überführung bestätigte. Mit einem einzigen raschen Federstrich hatte Mussolini persönlich meine Bitte erfüllt, und tatsächlich wurde der Verurteilte auch bald völlig begnadigt. Kein Brief in meinem Leben hat mir mehr Freude und Genugtuung gebracht, und wenn je eines literarischen Erfolges, so denke ich dieses mit besonderer Dankbarkeit.


Es war gut in jenen Jahren der letzten Windstille zu reisen. Aber es war auch schön heimzukehren. Etwas Merkwürdiges hatte sich in aller Stille ereignet. Die kleine Stadt Salzburg mit ihren 40.000 Einwohnern, die ich mir gerade um ihrer romantischen Abgelegenheit willen gewählt, hatte sich erstaunlich verwandelt: sie war im Sommer zur künstlerischen Hauptstadt nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt geworden. Max Reinhardt und Hugo von Hofmannsthal hatten in den schwersten Nachkriegsjahren, um der Not der Schauspieler und Musiker abzuhelfen, die im Sommer brotlos waren, ein paar Aufführungen, vor allem jene berühmte Freilichtaufführung des ›Jedermann‹ auf dem Salzburger Domplatz veranstaltet, die zunächst aus der unmittelbaren Nachbarschaft Besucher anlockten; später hatte man es auch mit Opernaufführungen versucht, die sich immer besser, immer vollendeter anließen. Allmählich wurde die Welt aufmerksam. Die besten Dirigenten, Sänger, Schauspieler drängten sich ehrgeizig heran, der Gelegenheit froh, statt bloß vor ihrem eng heimischen auch vor einem internationalen Publikum ihre Künste zeigen zu können. Mit einemmal wurden die Salzburger Festspiele eine Weltattraktion, gleichsam die neuzeitlichen olympischen Spiele der Kunst, bei denen alle Nationen wetteiferten, ihre besten Leistungen zur Schau zu stellen. Niemand wollte mehr diese außerordentlichen Darstellungen missen. Könige und Fürsten, amerikanische Millionäre und Filmdivas, die Musikfreunde, die Künstler, die Dichter und Snobs gaben sich in den letzten Jahren in Salzburg Rendezvous; nie war in Europa eine ähnliche Konzentration der schauspielerischen und musikalischen Vollendung gelungen wie in dieser kleinen Stadt des kleinen und lange mißachteten Österreich. Salzburg blühte auf. In seinen Straßen begegnete man im Sommer jedwedem aus Europa und Amerika, der in der Kunst die höchste Form der Darbietung suchte, in Salzburger Landestracht – weiße kurze Leinenhosen und Joppen für die Männer, das bunte ›Dirndlkostüm‹ für die Frauen –, das winzige Salzburg beherrschte mit einemmal die Weltmode. In den Hotels kämpfte man um Zimmer, die Auffahrt der Automobile zum Festspielhaus war so prunkvoll wie einst jene zum kaiserlichen Hofball, der Bahnhof ständig überflutet; andere Städte versuchten diesen goldhaltigen Strom zu sich abzuziehen, keiner gelang es. Salzburg war und blieb in diesem Jahrzehnt der künstlerische Pilgerort Europas.


So lebte ich mit einemmal in der eigenen Stadt inmitten von Europa. Wieder hatte das Schicksal mir einen Wunsch erfüllt, den ich selbst kaum auszudenken gewagt, und unser Haus auf dem Kapuzinerberg wurde ein europäisches Haus. Wer ist dort nicht zu Gast gewesen? Unser Gästebuch könnte es besser bezeugen als die bloße Erinnerung, aber auch dies Buch ist mit dem Haus und vielem anderem den Nationalsozialisten verblieben. Mit wem haben wir dort nicht herzliche Stunden verbracht, von der Terrasse hinausblickend in die schöne und friedliche Landschaft, ohne zu ahnen, daß gerade gegenüber auf dem Berchtesgadener Berg der eine Mann saß, der all dies zerstören sollte? Romain Rolland hat bei uns gewohnt und Thomas Mann, von den Schriftstellern sind H. G. Wells, Hofmannsthal, Jakob Wassermann, van Loon, James Joyce, Emil Ludwig, Franz Werfel, Georg Brandes, Paul Valéry, Jane Adams, Schalom Asch, Arthur Schnitzler freundschaftlich empfangene Gäste gewesen, von den Musikern Ravel und Richard Strauss, Alban Berg, Bruno Walter, Bartók und wer noch alles von den Malern, den Schauspielern, den Gelehrten aus allen Winden? Wie viele gute und helle Stunden geistigen Gesprächs wehte jeder Sommer uns zu! Eines Tages klomm Arturo Toscanini die steilen Stufen empor, und mit der gleichen Stunde begann eine Freundschaft, die mich Musik noch mehr, noch wissender lieben und genießen ließ als je zuvor. Ich war jahrelang dann getreuester Gast bei seinen Proben und erlebte den leidenschaftlichen Kampf immer wieder, mit dem er jene Vollendung erzwingt, die dann in den öffentlichen Konzerten gleichzeitig als Wunder und Selbstverständlichkeit erscheint (ich versuchte einmal in einem Aufsatz diese Proben zu schildern, die jedem Künstler den vorbildlichsten Antrieb darstellen, nicht abzulassen bis zur letzten Fehllosigkeit). Herrlich ward mir Shakespeares Wort bestätigt, daß ›Musik der Seele Nahrung‹ ist, und dem Wettstreit der Künste zublickend, segnete ich das Geschick, das mir gegeben, ihnen dauernd verbunden zu wirken. Wie reich, wie farbig waren diese Sommertage, da Kunst und gesegnete Landschaft sich gegenseitig steigerten! Und immer, wenn ich mich rückschauend an das Städtchen erinnerte, verfallen, grau, bedrückt wie es unmittelbar nach dem Kriege gewesen, an unser eigenes Haus, darin wir frierend den durch das Dach einbrechenden Regen bekämpft, spürte ich erst, was diese benedeiten Jahre des Friedens für mein Leben getan. Es war wieder erlaubt, an die Welt, an die Menschheit zu glauben.


Es kamen viele erwünschte berühmte Gäste in unser Haus in jenen Jahren, aber auch in den Stunden des Alleinseins sammelte sich um mich ein magischer Kreis erhabener Gestalten, deren Schatten und Spur zu beschwören mir allmählich gelungen war: in meiner schon erwähnten Sammlung von Autographen hatten sich die größten Meister aller Zeiten in ihrer Handschrift zusammengefunden. Was ich als Fünfzehnjähriger dilettantisch begonnen, hatte sich in all diesen Jahren dank vieler Erfahrung, reichlicherer Mittel und eher noch gesteigerter Leidenschaft aus einem bloßen Nebeneinander in ein organisches Gebilde und, ich darf es wohl sagen, in ein wirkliches Kunstwerk verwandelt. In den Anfängen hatte ich wie jeder Anfänger nur getrachtet, Namen zusammenzuraffen, berühmte Namen; dann hatte ich aus psychologischer Neugier nur mehr Manuskripte gesammelt – Urschriften oder Fragmente von Werken, die mir zugleich Einblick in die Schaffensweise eines geliebten Meisters gewährten. Von den unzähligen unlösbaren Rätseln der Welt bleibt das tiefste und geheimnisvollste doch das Geheimnis der Schöpfung. Hier läßt sich die Natur nicht belauschen, niemals wird sie diesen letzten Kunstgriff sich absehen lassen, wie die Erde entstand und wie eine kleine Blume entsteht, wie ein Gedicht und wie ein Mensch. Hier zieht sie unbarmherzig und unnachgiebig ihren Schleier vor. Selbst der Dichter, selbst der Musiker wird nachträglich den Augenblick seiner Inspiration nicht mehr erläutern können. Ist einmal die Schöpfung vollendet gestaltet, so weiß der Künstler von ihrem Ursprung nicht mehr und nicht von ihrem Wachsen und Werden. Nie oder fast nie vermag er zu erklären, wie in seinen erhobenen Sinnen die Worte sich zu einer Strophe, wie aus einzelnen Tönen Melodien sich zusammenfügten, die dann durch die Jahrhunderte klingen. Das einzige, was eine leise Ahnung dieses unfaßbaren Schöpfungsprozesses gewähren kann, sind die handschriftlichen Blätter und insbesondere die noch nicht für den Druck bestimmten, die mit Korrekturen übersäten, noch ungewissen ersten Entwürfe, aus denen sich dann erst allmählich die künftige gültige Form kristallisiert. Solche Blätter von allen großen Dichtern, Philosophen und Musikern, solche Korrekturen und somit Zeugen ihres Arbeitskampfes zu vereinigen, war die zweite, wissendere Epoche meines Autographensammelns. Es war für mich eine Lust, sie zusammenzujagen auf Auktionen, eine gern getane Mühe, sie aufzuspüren an den verstecktesten Stellen, und zugleich eine Art Wissenschaft, denn allgemach war neben meiner Sammlung von Autographen eine zweite entstanden, die sämtliche Bücher, die je über Autographen geschrieben worden sind, umfaßte, sämtliche Kataloge, die je gedruckt worden sind, über viertausend an der Zahl, eine Handbibliothek ohnegleichen und ohne einen einzigen Rivalen, weil selbst die Händler nicht so viel Zeit und Liebe an ein Spezialfach wenden konnten. Ich darf wohl sagen – was ich nie im Hinblick auf Literatur oder ein anderes Gebiet des Lebens auszusprechen wagen würde –, daß ich in diesen dreißig oder vierzig Jahren des Sammelns eine erste Autorität auf dem Gebiete der Handschriften geworden war und von jedem bedeutenden Blatte wußte, wo es lag, wem es gehörte und wie es zu seinem Besitzer gewandert war, ein wirklicher Kenner also, der Echtheit auf den ersten Blick bestimmen konnte und in der Bewertung erfahrener als die meisten Professionellen war.


Aber allmählich ging mein sammlerischer Ehrgeiz weiter. Es genügte mir nicht, eine bloße handschriftliche Galerie der Weltliteratur und Musik, einen Spiegel der tausend Arten schöpferischer Methoden zu haben; die bloße Erweiterung der Sammlung lockte mich nicht mehr, sondern was ich in den letzten zehn Jahren meines Sammelns vornahm, war eine ständige Veredelung. Hatte es mir zuerst genügt, von einem Dichter oder Musiker Blätter zu haben, die ihn in einem schöpferischen Momente zeigten, so ging allmählich mein Bemühen dahin, jeden darzustellen in seinem allerglücklichsten schöpferischen Moment, in dem seines höchsten Gelingens. Ich suchte also von einem Dichter nicht nur die Handschrift eines seiner Gedichte, sondern eines seiner schönsten Gedichte und womöglich eines jener Gedichte, das von der Minute an, da die Inspiration in Tinte oder Bleistift zum erstenmal irdischen Niederschlag fand, in alle Ewigkeit reicht. Ich wollte von den Unsterblichen – verwegene Anmaßung! – in der Reliquie ihrer Handschrift gerade das, was sie für die Welt unsterblich gemacht hat.


So war die Sammlung eigentlich in ständigem Fluß; jedes für diesen höchsten Anspruch mindere Blatt, das ich besaß, wurde ausgeschaltet, verkauft oder eingetauscht, sobald es mir gelang, ein wesentlicheres, ein charakteristischeres, ein – wenn ich so sagen darf – ewigkeitshaltigeres zu finden. Und wunderbarerweise gelang es in vielen Fällen, denn es gab außer mir nur ganz wenige, die mit solcher Kenntnis, solcher Zähigkeit und gleichzeitig mit einem solchen Wissen die wesentlichen Stücke sammelten. So vereinigte schließlich erst eine Mappe und dann ein ganzer Kasten, durch Metall und Asbest der Verderbnis wehrend, Urhandschriften von Werken oder aus Werken, die zu den dauerhaftesten Manifesten der schöpferischen Menschheit gehören. Ich habe hier, nomadisch wie ich heute zu leben gezwungen bin, den Katalog jener längst zerstreuten Sammlung nicht zur Hand und kann nur aufs Geratewohl einige der Dinge aufzählen, in denen der irdische Genius in einem Ewigkeitsmoment verkörpert war.


Da war ein Blatt aus Lionardos Arbeitsbuch, Bemerkungen in Spiegelschrift zu Zeichnungen; von Napoleon in kaum leserlicher Schrift auf vier Seiten hingejagt der Armeebefehl an seine Soldaten bei Rivoli; da war ein ganzer Roman in Druckbogen von Balzac, jedes Blatt ein Schlachtfeld mit tausend Korrekturen und mit unbeschreiblicher Deutlichkeit seinen Titanenkampf darstellend von Korrektur zu Korrektur (eine Photokopie ist glücklicherweise für eine amerikanische Universität gerettet). Da war Nietzsches ›Geburt der Tragödie‹ in einer ersten, unbekannten Fassung, die er lange vor der Veröffentlichung für die geliebte Cosima Wagner geschrieben, eine Kantate von Bach und die Arie der Alceste von Gluck und eine von Händel, dessen Musikmanuskripte die seltensten von allen sind. Immer war das Charakteristischste gesucht und meist gefunden, von Brahms die ›Zigeunerlieder‹, von Chopin die ›Barcarole‹, von Schubert das unsterbliche ›An die Musik‹, von Haydn die unvergängliche Melodie des ›Gotte erhalte‹ aus dem Kaiserquartett. In einigen Fällen gelang es mir sogar, die einmalige Form des Schöpferischen zu einem ganzen Lebensbilde der schöpferischen Individualität zu erweitern. So hatte ich von Mozart nicht bloß ein ungelenkes Blatt des elfjährigen Knaben, sondern auch als Zeichen seiner Liederkunst das unsterbliche ›Veilchen‹ Goethes, von seiner Tanzmusik die Menuette, die Figaros ›Non piú andrai‹ paraphrasierten, und aus dem ›Figaro‹ selbst die Arie des Cherubin, anderseits wieder die zauberhaft unanständigen, niemals im vollen Text öffentlich gedruckten Briefe an das Bäsle und einen skabrösen Kanon und schließlich noch ein Blatt, das er knapp vor seinem Tode geschrieben, eine Arie aus dem ›Titus‹. Ebensoweit war der Lebensbogen bei Goethe umrandet, das erste Blatt eine Übersetzung des neunjährigen Knaben aus dem Lateinischen, das letzte ein Gedicht, im zweiundachtzigsten Jahre knapp vor dem Tode geschrieben, und dazwischen ein mächtiges Blatt aus dem Kronstück seines Schaffens, ein zweiseitiges Folioblatt aus dem ›Faust‹, ein Manuskript zu den Naturwissenschaften, zahlreiche Gedichte und dazu noch Zeichnungen aus den verschiedensten Stadien seines Lebens; man überschaute Goethes ganzes Leben in diesen fünfzehn Blättern. Bei Beethoven, dem Allerverehrtesten, konnte mir freilich ein solches vollkommenes Rundbild nicht gelingen. Wie bei Goethe mein Verleger Professor Kippenberg, war mir hier als Gegenkämpfer und Gegenbieter einer der reichsten Männer der Schweiz entgegen, der einen Beethovenschatz ohnegleichen ansammelte. Aber abgesehen von dem Jugendnotizbuch, dem Lied ›Der Kuß‹ und Fragmenten aus der Egmont-Musik gelang es mir, wenigstens einen Augenblick, den tragischsten seines Lebens, in einer Vollkommenheit optisch darzustellen, wie ihn kein Museum der Erde zu bieten vermag. Durch einen ersten Glücksfall konnte ich die ganzen noch übrigen Einrichtungsstücke seines Zimmers, die nach seinem Tode versteigert wurden und von Hofrat Breuning erworben worden waren, an mich bringen, den mächtigen Schreibtisch vor allem, in dessen Laden verborgen sich die beiden Bilder seiner Geliebten, der Gräfin Giulietta Guicciardi und der Gräfin Erdödy fanden, die Geldkassette, die er bis zum letzten Augenblick neben seinem Bette verwahrt, das kleine Schreibpult, auf dem er noch im Bett die letzten Kompositionen und Briefe niedergeschrieben, eine weiße Locke von seinem Haar, abgeschnitten an seinem Totenbett, die Einladung zum Leichenbegängnis, den letzten Wäschezettel, den er mit zitternder Hand geschrieben, das Dokument des Hausinventars bei der Versteigerung und die Subskription seiner sämtlichen Wiener Freunde für die mittellos zurückgelassene Köchin Sali. Und da dem richtigen Sammler der Zufall immer freundlich in die Hände spielt, hatte ich, kurz nachdem ich alle diese Dinge aus seinem Sterbezimmer erworben, Gelegenheit, noch die drei Zeichnungen von seinem Totenbett an mich zu bringen. Aus den Schilderungen der Zeitgenossen wußte man, daß ein junger Maler und Freund Schuberts, Josef Teltscher, an jenem 26. März, da Beethoven im Todeskampfe lag, versucht hatte, den Sterbenden zu zeichnen, aber von dem Hofrat Breuning, der dies als pietätlos empfand, aus dem Sterbezimmer gewiesen worden war. Hundert Jahre waren diese Zeichnungen verschollen, bis bei einer kleinen Versteigerung in Brünn mehrere Dutzend Skizzenbücher dieses Malerchens spottbillig verkauft wurden, in denen sich dann plötzlich diese Skizzen fanden. Und wie nun wiederum Zufall an Zufall sich fügt, rief mich eines Tages ein Händler an, ob ich Interesse hätte für das Original der Zeichnung am Sterbebette Beethovens. Ich antwortete, das besäße ich doch selbst, aber dann stellte sich heraus, daß das neu mir angebotene Blatt das Original der später so berühmt gewordenen Lithographie Danhausers von Beethoven auf dem Totenbette war. Und so hatte ich nun alles beisammen, was diesen letzten, denkwürdigen und wahrhaft unvergänglichen Augenblick in einer optischen Form bewahrte.


Daß ich mich nie als den Besitzer dieser Dinge empfand, sondern nur als ihren Bewahrer in der Zeit, war selbstverständlich. Nicht das Gefühl des Habens, des Für-mich-Habens lockte mich, sondern der Reiz des Vereinens, die Gestaltung einer Sammlung zum Kunstwerk. Ich war mir bewußt, mit dieser Sammlung etwas geschaffen zu haben, was als Gesamtheit des Überdauerns würdiger war als meine eigenen Werke. Trotz vielen Angeboten zögerte ich, einen Katalog zusammenzustellen, weil ich doch noch mitten im Bau und am Werke war und ungenügsam manche Namen und manche Stücke in den vollkommensten Formen noch entbehrte. Meine wohlerzogene Absicht war, diese einmalige Sammlung nach meinem Tode demjenigen Institut zu überlassen, das meine besondere Bedingung erfüllen würde, nämlich alljährlich eine bestimmte Summe auszusetzen, um die Sammlung weiterhin in meinem Sinne zu vervollständigen. So wäre sie nicht ein starres Ganzes geblieben, sondern lebendiger Organismus, fünfzig und hundert Jahre über mein eigenes Leben hinaus sich ergänzend und vervollständigend zu einer immer schöneren Ganzheit.


Aber unserer geprüften Generation ist es versagt, über sich hinaus zu denken. Als die Zeit Hitlers einsetzte und ich mein Haus verließ, war die Freude an meinem Sammeln dahin und auch die Sicherheit, irgend etwas bleibend zu erhalten. Eine Zeitlang ließ ich noch Teile in Safes und bei Freunden, aber dann entschloß ich mich, gemäß Goethes mahnendem Wort, daß Museen, Sammlungen und Rüstkammern, wenn man sie nicht fortentwickle, in sich erstarren, lieber Abschied zu nehmen von einer Sammlung, der ich meine gestaltende Mühe weiter nicht mehr geben konnte. Einen Teil schenkte ich zum Abschied der Wiener Nationalbibliothek, hauptsächlich jene Stücke, die ich selbst von zeitgenössischen Freunden zum Geschenk erhalten, einen Teil veräußerte ich, und was mit dem Rest geschah oder geschieht, beschwert meine Gedanken nicht sehr. Immer war nur das Schaffen meine Freude, nie das Geschaffene. So klage ich dem einst Besessenen nicht nach. Denn wenn wir Gejagten und Vertriebenen in diesen Zeiten, die jeder Kunst und jeder Sammlung feind sind, eine Kunst noch neu zu lernen hatten, so war es die des Abschiednehmens von allem, was einstens unser Stolz und unsere Liebe gewesen.


So gingen mit Arbeit und Reisen, mit Lernen, Lesen, Sammeln und Genießen die Jahre. Eines Novembermorgens 1931 wachte ich auf und war fünfzig Jahre alt. Dem braven weißhaarigen Salzburger Postboten schuf das Datum einen schlimmen Tag. Da in Deutschland die gute Gepflogenheit herrschte, den fünfzigsten Geburtstag eines Autors in den Zeitungen ausführlich zu feiern, hatte der alte Mann eine stattliche Fracht von Briefen und Telegrammen die steilen Stufen emporzuschleppen. Ehe ich sie öffnete und las, überdachte ich, was dieser Tag mir bedeutete. Das fünfzigste Lebensjahr meint eine Wende; man blickt beunruhigt zurück; wieviel seines Weges man schon gegangen, und fragt sich im stillen, ob er noch weiter aufwärts führt. Ich überdachte die gelebte Zeit; wie von meinem Haus auf die Kette der Alpen und das sanft niederfallende Tal blickte ich zurück auf diese fünfzig Jahre und mußte mir sagen, daß es frevlerisch wäre, wollte ich nicht dankbar sein. Mir war schließlich mehr, unermeßlich mehr gegeben worden als ich erwartet oder zu erreichen gehofft. Das Medium, durch das ich mein Wesen entwickeln und zum Ausdruck bringen wollte, die dichterische, die literarische Produktion hatte eine Wirksamkeit gezeitigt weit über meine verwegensten Knabenträume. Da lag, als Geschenk des Insel-Verlags zu meinem fünfzigsten Geburtstag gedruckt, eine Bibliographie meiner in allen Sprachen erschienenen Bücher und war in sich selbst schon ein Buch; keine Sprache fehlte, nicht Bulgarisch und Finnisch, nicht Portugiesisch und Armenisch, nicht Chinesisch und Maratti. In Blindenschrift, in Stenographie, in allen exotischen Lettern und Idiomen waren Worte und Gedanken von mir zu Menschen gegangen, ich hatte meine Existenz unermeßlich über den Raum meines Wesens hinaus ausgebreitet. Ich hatte manche der besten Menschen unserer Zeit zu persönlichen Freunden gewonnen, ich hatte die vollendetsten Aufführungen genossen; die ewigen Städte, die ewigen Bilder, die schönsten Landschaften der Erde hatte ich sehen dürfen und genießen. Ich war frei geblieben, unabhängig von Amt und Beruf, meine Arbeit war meine Freude und mehr noch, sie hatte anderen Freude bereitet! Was konnte da Schlimmes noch geschehen? Da waren meine Bücher: konnte sie jemand zunichte machen? (So dachte ich ahnungslos in dieser Stunde.) Da mein Haus – konnte mich jemand aus ihm vertreiben? Da meine Freunde – konnte ich sie jemals verlieren? Ich dachte ohne Angst an Tod, an Krankheit, aber auch nicht das entfernteste Bild dessen kam mir in den Sinn, was zu erleben mir noch bevorstand, daß ich heimatlos, gehetzt, gejagt als Ausgetriebener noch einmal von Land zu Land, über Meere und Meere würde wandern müssen, daß meine Bücher verbrannt, verboten, geächtet werden sollten, mein Name in Deutschland wie der eines Verbrechers angeprangert und dieselben Freunde, deren Briefe und Telegramme vor mir auf dem Tisch lagen, erblassen würden, wenn sie mir zufällig begegneten. Daß ausgelöscht werden könnte ohne Spur alles, was dreißig und vierzig Jahre beharrlich geleistet, daß all dies Leben, aufgebaut, fest und scheinbar unerschütterlich wie es vor mir stand, in sich zerfallen könnte und daß ich nahe dem Gipfel gezwungen sein würde, mit schon leicht ermüdenden Kräften und verstörter Seele noch einmal von Anfang zu beginnen. Wahrhaftig, es war kein Tag, so Unsinniges und Absurdes sich auszuträumen. Ich konnte zufrieden sein. Ich liebte meine Arbeit und liebte darum das Leben. Ich war vor Sorge geschützt; selbst wenn ich keine Zeile mehr schrieb, sorgten meine Bücher für mich. Alles schien erreicht, das Schicksal gebändigt. Die Sicherheit, die ich in der Frühzeit meines Elternhauses gekannt und die im Kriege verlorengegangen war, sie war wiedergewonnen aus eigener Kraft. Was blieb noch zu wünschen?


Aber sonderbar – gerade daß ich in dieser Stunde nichts zu wünschen wußte, schuf mir ein geheimnisvolles Unbehagen. Wäre es wirklich gut, fragte etwas in mir – ich war es nicht selbst –, wenn dein Leben so weiterginge, so windstill, so geregelt, so einträglich, so bequem, so ohne neue Anspannung und Prüfung? Ist sie dir, ist sie dem Wesentlichen in dir nicht eher unzugehörig, diese privilegierte, ganz in sich gesicherte Existenz? Ich ging nachdenklich durch das Haus. Es war schön geworden in diesen Jahren und genau so wie ich es gewollt. Aber doch, sollte ich immer hier leben, immer an demselben Schreibtisch sitzen und Bücher schreiben, ein Buch und noch ein Buch und dann die Tantiemen empfangen und noch mehr Tantiemen, allmählich ein würdiger Herr werdend, der seinen Namen und sein Werk mit Anstand und Haltung zu verwalten hat, abgeschieden schon von allem Zufälligen, allen Spannungen und Gefahren? Sollte es immer so weitergehen bis sechzig, bis siebzig in geradem, glattem Geleise? Wäre es nicht besser für mich – so träumte es in mir weiter – etwas anderes käme, etwas Neues, etwas das mich unruhiger, gespannter, das mich jünger machte, indem es mich herausforderte zu neuem und vielleicht noch gefährlicherem Kampf? Immer haust ja in jedem Künstler ein geheimnisvoller Zwiespalt: wirft ihn das Leben wild herum, so sehnt er sich nach Ruhe; aber ist ihm Ruhe gegeben, so sehnt er sich in die Spannungen zurück. So hatte ich an diesem fünfzigsten Geburtstage im tiefsten nur den einen frevlerischen Wunsch: etwas möchte geschehen, das mich noch einmal wegrisse von diesen Sicherheiten und Bequemlichkeiten, das mich nötigte, nicht bloß fortzusetzen, sondern wieder anzufangen. War es Angst vor dem Alter, vor dem Müdesein, vor dem Trägewerden? Oder war es geheimnisvolle Ahnung, die mich damals ein anderes, ein härteres Leben um der inneren Entfaltung willen begehren ließ? Ich weiß es nicht.


Ich weiß es nicht. Denn was in dieser sonderlichen Stunde aus dem Dämmer des Unbewußten aufstieg, war gar kein deutlich ausgesprochener Wunsch und sicherlich nichts, was dem wachen Willen verbunden war. Es war bloß ein flüchtiger Gedanke, der mich anwehte, vielleicht gar nicht mein eigener Gedanke, sondern einer, der aus Tiefen kam, um die ich nicht wußte. Aber die dunkle Macht über meinem Leben, sie, die unfaßbare, die mir so vieles schon erfüllt, was ich selbst nie zu wünschen mich erdreistet, mußte ihn vernommen haben. Und schon hob sie folgsam die Hand, um mir mein Leben bis ins letzte Fundament zu zerschlagen und mich zu nötigen, aus seinen Trümmern ein völlig anderes, ein härteres und schwereres, von Grund auf neu aufzubauen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.