Der Kampf um Verwirklichung
Es ist leichter, zehn Bände Philosophie zu schreiben, als einen einzigen Grundsatz in der Praxis durchzuführen.
Tagebuch 1847
Im Evangelium, das Leo Tolstoi in jenen Jahren so beharrlich durchblättert, wird er nicht ohne Erschütterung das prophetische Wort gelesen haben: »Wer Wind sät, wird Sturm ernten«, denn dies Schicksal erfüllt sich nun in seinem eigenen Leben. Niemals wirft ohne Sühne ein einziger Mensch, und am wenigsten ein gewaltiger, seine geistige Unruhe in die Welt: tausendfältig schwillt im Rückstoß der Aufruhr wider die eigene Brust. Heute, da längst die Diskussion ausgekühlt ist, vermögen wir gar nicht mehr zu ermessen, welche fanatische Erwartung im ersten Anruf die Botschaft Tolstois in der russischen und darüberhin in der ganzen Welt entzündete: ein Seelenaufruhr muß es gewesen sein, gewaltsame Erweckung eines ganzen Volksgewissens. Vergebens, daß die Regierung, von solch umstürzender Wirkung erschreckt, die polemischen Schriften Tolstois hastig verbietet, in Schreibmaschinenkopien schleichen sie von Hand zu Hand, sie werden eingeschmuggelt dank ausländischer Ausgaben; und je kühner Tolstoi die Elemente der bisherigen Ordnung, den Staat, den Zaren, die Kirche angreift, je glühender er eine bessere Weltordnung für die Mitmenschheit postuliert, um so strömender wendet sich das jeder Heilsbotschaft offene Herz der Menschheit ihm entgegen. Denn trotz Eisenbahn, Radio und Telegraph, trotz Mikroskop und aller technischen Magie hat unsere sittliche Welt sich genau dieselbe messianische Erwartung eines höheren moralischen Zustandes bewahrt wie in den Tagen Christi, Mohammeds oder Buddhas; unaustilgbar lebt und bebt in der ewig wunderwilligen Massenseele eine immer wieder erneute Sehnsucht nach einem Führer und Lehrer. Immer darum, wenn ein Mensch, ein einzelner, sich mit einer Verheißung an die Menschheit wendet, rührt er an den Nerv dieser Glaubenssehnsüchtigkeit, und eine unendliche aufgestaute Opferbereitschaft pocht jedem entgegen, der den Mut auf sich nimmt, aufzustehen und das verantwortlichste Wort zu wagen: »Ich weiß um die Wahrheit.«
So wenden sich aus ganz Rußland Millionen Seelenblicke zu Ende des Jahrhunderts Tolstoi entgegen, kaum daß er seine apostolische Botschaft ankündigt. Die »Beichte«, für uns längst bloß noch ein psychologisches Dokument, berauscht die gläubige Jugend wie eine Verkündigung. Endlich, so jubeln sie, hat einmal ein Gewaltiger und Freier und überdies der größte Dichter Rußlands als Forderung ausgesprochen, was bisher nur die Enterbten klagten, die halb Leibeigenen heimlich flüsterten: daß die gegenwärtige Ordnung der Welt ungerecht, unmoralisch und darum unhaltbar sei und eine neue, bessere Form gefunden werden müsse. Ein unverhoffter Impuls ist allen Unzufriedenen geworden, und zwar nicht von einem der professionellen Fortschrittsphraseure, sondern von einem unabhängigen und unbestechlichen Geiste, dessen Autorität und Ehrlichkeit niemand zu bezweifeln wagt. Mit seinem eigenen Leben, mit jeder Handlung seines offensichtlichen Daseins will, so hören sie, dieser Mann beispielgebend vorausgehen, er will als Graf seine Vorrechte, als reicher Mann sein Eigentum lassen und als erster der Besitzenden und Großen demütig sich einordnen in die unterschiedslose Werkgemeinschaft des arbeitenden Volkes. Bis zu den Ungebildeten, zu den Bauern und Analphabeten wandert die Botschaft von dem neuen Heiland der Enterbten, schon scharen sich die ersten Jünger zusammen, die Sekte der Tolstoianer beginnt buchstabengläubig ihres Lehrers Wort zu erfüllen, und hinter ihnen erwacht und wartet die unübersehbare Masse der Bedrückten. So glühen Millionen Herzen, Millionen Blicke Tolstoi, dem Verkünder entgegen und blicken gierig auf jeden Akt, jede Tat seines weltbedeutsam gewordenen Lebens. »Doch dieser hat gelernt, er wird uns lehren.«
Aber sonderbar, Tolstoi scheint ursprünglich gar nicht wahrzunehmen, welche Wucht von Verantwortung er sich zulastet. Selbstverständlich ist er klarsichtig genug, um zu empfinden, daß man eine solche Lebenslehre als Verkünder nicht nur in kalten Lettern auf dem Papier stehenlassen, sondern beispielhaft inmitten der eigenen Existenz verwirklichen müsse. Aber – und dies ist der Irrtum seines Anfangs – er meint, schon genug getan zu haben, wenn er die Durchführbarkeit seiner neuen sozialen und ethischen Forderungen in seiner Lebenshaltung nur symbolisch andeutet und ab und zu ein Zeichen prinzipieller Bereitschaft gibt. Er kleidet sich also wie ein Bauer, um den äußern Unterschied zwischen Herrn und Knecht unsichtbar zu machen; er arbeitet auf dem Felde mit Sense und Pflug und läßt sich dabei von Rjepin malen, damit jedermann schwarz auf weiß gewahren könne: Arbeit im Felde, grobe, ehrliche Arbeit um das Brot empfinde ich nicht als Schande, und niemand muß sich ihrer schämen, denn seht! ich selbst, Leo Tolstoi, der, wie ihr alle wißt, derlei nicht nötig hätte und den seine geistige Leistung vollkommen entschuldigte, ich nehme sie freudig auf mich. Er überträgt, um mit der »Sünde« des Eigentums nicht länger die Seele zu beflecken, seinen Besitz, sein Hab und Gut (damals schon mehr als eine halbe Million Rubel) an die Frau und Familie und weigert sich, von seinen Werken weiterhin noch Geld oder Geldeswert zu empfangen. Er gibt Almosen und dem fremdesten, niedersten Menschen, der ihn anspricht, seine Zeit in Besuchen und Briefen; er nimmt sich jedes Unrechts und jeder Ungerechtigkeit auf Erden mit brüderlich helfender Liebe an. Aber dennoch, bald muß er erkennen, daß noch mehr von ihm gefordert wird, denn die große grobe Masse der Gläubigen, jenes »Volk« eben, das er mit allen Sinnen seiner Seele sucht, hat kein Genügen an jenen geistig gedachten Symbolen der Demütigung, sondern fordert mehr von Leo Tolstoi: die völlige Entäußerung, das restlose Aufgehen in seinem Elend und Unglück. Wahrhaft Gläubige und Überzeugte schafft immer nur die Märtyrertat – und immer steht darum am Anfang jeder Religion ein Mann der vollkommenen Selbsthingabe – niemals aber die bloß andeutende, die versprechende Haltung. Und alles, was Tolstoi bisher tat, um seine Lehre in ihrer Erfüllbarkeit zu bekräftigen, war nie mehr als bloß Geste der Erniedrigung, ein religiös demütiger Symbolakt, vergleichbar etwa jenem, den die katholische Kirche dem Papst oder den strenggläubigen Kaisern auferlegt, daß sie am Gründonnerstage, also einmal im Jahre, zwölf Greisen die Füße waschen. Damit wird bekundet und vor dem Volke gezeigt, daß selbst die niedrigste Handhabung auch die Höchsten der Erde nicht erniedrige. Aber sowenig der Papst oder die Kaiser Österreichs und Spaniens durch diesen einmal jährlichen Akt der Bußübung sich ihrer Macht begeben und wirklich zu Badeknechten werden, sowenig wird der große Dichter und Adelsherr durch die eine Stunde mit Pfriem und Leisten zum Schuster, durch die zwei Stunden Feldarbeit schon zum Bauern, durch die Vermögensübertragung an seine Hausgenossen zum wirklichen Bettler. Tolstoi demonstrierte zuerst nur die Erfüllbarkeit seiner Lehre, aber er erfüllt sie nicht. Gerade aber dies hatte das Volk, dem Symbole (aus einem tiefen Instinkt) nicht genügen und das nur ein vollkommenes Opfer zu überzeugen vermag, von Leo Tolstoi erwartet, denn immer legen die ersten Anhänger ihres Meisters Lehre viel buchstabengenauer und strenger und wortwörtlicher aus als der Lehrer selbst. Darum jene profunde Enttäuschung, da sie, zu dem Propheten der freiwilligen Armut pilgernd, bemerken müssen, daß genau wie auf den andern Adelssitzen, die Bauern von Jasnaja Poljana weiterhin im Elend sielen, er aber, Leo Tolstoi, ganz wie vordem die Gäste als Graf im Herrenhaus herrschaftlich empfängt und somit immer noch der »Klasse von Menschen« angehört, »die durch allerlei Kunstgriffe dem Volk das Notwendige rauben«. Jene laut angekündigte Vermögensübertragung wird ihnen nicht eingängig als tatsächlicher Verzicht, sein Nichtmehrhaben nicht als Armut, sehen sie doch weiterhin den Dichter im Vollgenuß aller bisherigen Bequemlichkeit, und selbst die Stunde Ackern und Schustern vermag sie keineswegs zu überzeugen. »Was ist das für ein Mensch, der das eine predigt und das andere tut?«, murrt entrüstet ein alter Bauer, und härter noch äußern sich die Studenten und wirklichen Kommunisten über dies zweideutige Schwanken zwischen Lehre und Tat. Allmählich ergreift die Enttäuschung über seine halbe Haltung gerade die überzeugtesten Anhänger seiner Theorien: Briefe und oft pöbelhafte Angriffe mahnen immer vehementer, entweder sich zu dementieren oder endlich die Lehre wortwörtlich und nicht nur in symbolischen Gelegenheitsbeispielen zu erfüllen.
Aufgeschreckt durch diesen Anruf, erkennt Tolstoi endlich selbst, welch ungeheuren Anspruch er herausgefordert, und daß kein Diktum, sondern nur ein Faktum, nicht agitatorische Exempel, sondern nur vollkommene Umformung der Lebensführung seine Botschaft verlebendigen könne. Wer als Sprecher und Versprechender auf öffentlicher Tribüne steht, auf der höchsten des neunzehnten Jahrhunderts, erhellt vom grellen Scheinwerferlicht des Ruhms, überwacht von Millionen Augenpaaren, der muß auf alles private und konziliante Leben endgültig Verzicht leisten, der darf seine Gesinnung nicht bloß gelegentlich andeuten durch Symbole, sondern braucht als gültigen Zeugen die wirkliche Opfertat: »Um von den Menschen gehört zu werden, muß man die Wahrheit durch Leiden erhärten, noch besser durch den Tod.« So wächst Tolstoi für sein persönliches Dasein eine Verpflichtung entgegen, die der apostolische Doktrinär niemals geahnt. Mit Schauern, verstört, seiner Kraft nicht gewiß, bis in die unterste Seelentiefe verängstigt, nimmt Tolstoi das Kreuz auf sich, das er sich mit seiner Lehre aufgeladen, nämlich von nun an mit jeder Handlung seines Daseins restlos seine sittlichen Forderungen zu verbildlichen und inmitten einer spottfreudigen und geschwätzigen Welt ein heiliger Diener seiner religiösen Überzeugung zu sein.
Ein Heiliger: das Wort ist ausgesprochen, aller lächelnden Ironie zu Trotz. Denn gewiß scheint zunächst der Heilige in unserer ernüchterten Zeit vollkommen absurd und unmöglich, ein Anachronismus verschollenen Mittelalters. Aber nur die Embleme und die kultische Umschalung eines jeden seelischen Typs unterliegen der Vergängnis; jeder Typus selbst kehrt folgerichtig und zwanghaft immer wieder zurück in jenem unabsehbaren Spiel der Analogien, das wir Geschichte nennen. Immer und in jeder Epoche werden Menschen ein heiliges Dasein versuchen müssen, weil das religiöse Gefühl der Menschheit diese höchste Seelenform immer wieder neu benötigt und erschafft; nur wird ihre Vollführung sich äußerlich wandeln müssen am Wandel der Zeit. Unser Begriff von der Durchheiligung des Daseins kraft geistiger Inbrunst hat nichts mehr zu tun mit den holzschnitthaften Figuren der Legenda aurea und der Säulenstarre der Wüstenväter, denn wir haben die Gestalt des Heiligen längst abgelöst von dem Spruch theologischer Konzile und päpstlicher Konklaven – »heilig« bedeutet für uns heute einzig heroisch im Sinne der vollkommenen Hingabe des Daseins an eine religiös durchlebte Idee. Nicht um einen Zollstrich dünkt uns die intellektuelle Ekstase, die weltverleugnende Einsamkeit des Gott-Töters von Sils-Maria oder die erschütternde Bedürfnislosigkeit des Diamantschleifers von Amsterdam geringer, als die Ekstase eines fanatischen Dornengeißlers; selbst jenseits alles Wundertums, bei Schreibmaschine und elektrischem Licht, mitten in unseren querschnittigen, helligkeitserfüllten, menschendurchfluteten Städten ist der Geistheilige als der Blutzeuge des Gewissens auch heute noch möglich; nur tut es uns nicht mehr not, diese Wunderbaren und Seltenen als göttlich Unfehlbare und irdisch Unanfechtbare zu betrachten, sondern im Gegenteil: wir lieben diese großartigen Versucher, diese gefährlich Versuchten gerade in ihren Krisen und Kämpfen und am tiefsten nicht trotz, sondern eben in ihrer Fehlbarkeit. Denn unser Geschlecht will seine Heiligen nicht mehr als Gottesgesandte eines überirdischen Jenseits verehren, sondern gerade als die allerirdischsten unter den Menschen.
Darum ergreift bei dem ungeheuren Versuche Tolstois um die vorbildliche Form seines Lebens uns gerade am meisten sein Schwanken, und daß er in letzter Erfüllung menschlich versagt, scheint uns erschütternder, als sein Heiligsein uns gewesen wäre. Hic incipit tragoedia! Im Augenblicke, da Tolstoi die heroische Aufgabe unternimmt, aus den zeitlich konventionellen Lebensformen herauszutreten und nur die zeitlosen seines Gewissens zu verwirklichen, wird sein Leben notwendigerweise tragisches Schauspiel, größer als irgendeines, das wir seit Friedrich Nietzsches Empörung und Untergang gesehen. Denn eine solche gewaltsame Ablösung aus allen eingewachsenen Beziehungen der Familie, der Adelswelt, des Eigentums, der Zeitgesetze kann nie geschehen, ohne ein tausendgliedriges Nervengeflecht zu zerfetzen, ohne sich selbst und seine Nächsten auf das schmerzhafteste zu verwunden. Aber Tolstoi fürchtet keineswegs den Schmerz, im Gegenteil sogar, als echter Russe und darum Extremist dürstet er geradezu nach wirklicher Qual als dem sichtlichen Beweis seiner Wahrhaftigkeit. Er ist längst müde der Gemächlichkeit seines Daseins; das flache Familienglück, der Ruhm seiner Werke, die Ehrfurcht seiner Mitmenschen ekeln ihn an – unbewußt sehnt sich der schöpferische Mensch in ihm nach gespannterem vielfältigerem Schicksal, nach einer tieferen Vermischung mit den Urkräften der Menschheit, nach Armut, Not und dem Leiden, dessen schöpferischen Sinn er seit seiner Krise zum erstenmal erkennt. Er möchte, um die Reinheit seiner Demutslehre apostolisch zu bezeugen, das Leben des niedrigsten Menschen führen, ohne Haus, ohne Geld, ohne Familie, beschmutzt, verlaust, verachtet, vom Staat verfolgt, von der Kirche verstoßen. Er möchte im eigenen Fleisch und Bein und Hirn erleben, was er als die wichtigste und einzige seelenträchtige Form eines wahren Menschen in seinen Büchern geschildert: den Heimatlosen, Besitzlosen, den der Wind des Schicksals wie ein Herbstblatt vor sich hinjagt. Tolstoi verlangt – und hier baut die große Künstlerin Geschichte wieder eine ihrer genialen und ironischen Antithesen – aus innerstem Willen eigentlich genau nach dem Schicksal, das seinem Gegenspieler Dostojewski, diesem aber wider seinen Willen, verhängt gewesen. Denn Dostojewski erlebt alles an offensichtlichem Leiden, an Grausamkeit und Haß des Geschicks, was Tolstoi aus pädagogischem Prinzip, aus Märtyrergier gewaltsam erleben möchte. Dostojewski klebt die echte, quälende, brennende, freudenaussaugende Armut wie ein Nessushemd an, als Heimatloser schleppt er sich über alle Länder der Erde, Krankheit zerspellt seinen Körper, die Soldaten des Zaren binden ihn an den Todespfahl und werfen ihn in die Gefängnisse Sibiriens – alles, was Tolstoi zur Demonstration seiner Lehre als Märtyrer dieser Lehre durchaus erleben möchte, das ist jenem verschwenderisch zugeteilt, indes dem nach äußern, sichtbaren Leiden dürstenden Tolstoi nicht ein Tropfen Verfolgung und Armut zufällt.
Denn keine weltüberzeugende Bestätigung und Sichtbarmachung seines Leidenswillens will jemals Tolstoi gelingen. Überall sperrt ihm ein höhnisches und ironisches Schicksal den Weg zum Märtyrertum. Er möchte arm sein, sein Vermögen an die Menschheit schenken, nie mehr Geld aus seinen Schriften und Werken ziehen, aber seine Familie erlaubt ihm nicht, arm zu sein; wider seinen Willen wächst das große Vermögen ständig in seiner Hausgenossen Hand. Er möchte einsam sein; aber der Ruhm überflutet sein Haus mit Reportern und Neugierigen. Er möchte verachtet sein, aber je mehr er sich selber beschimpft und erniedrigt, je gehässiger er sein eigenes Werk herabsetzt und seine Aufrichtigkeit verdächtigt, um so ehrfürchtiger hängen die Menschen ihm an. Er möchte das Leben eines Bauern führen, in niederen rauchigen Hütten, unbekannt und ungestört, oder als Pilger und Bettler über die Straßen irren, aber die Familie umhüllt ihn mit Pflege und schiebt zu seiner Qual alle Bequemlichkeiten der Technik, die er öffentlich mißbilligt, bis in sein Zimmer hinein. Er möchte verfolgt sein, eingesperrt und geknutet – »es ist mir peinlich, in Freiheit zu leben« –, aber mit Sammetpfötchen weichen die Behörden ihm aus und begnügen sich damit, einzig seine Anhänger zu knuten und nach Sibirien zu schicken. So greift er zum Äußersten und beschimpft schließlich den Zaren, um endlich bestraft, verschickt, verurteilt zu werden, endlich einmal öffentlich die Revolte seiner Überzeugung zu büßen; jedoch Nikolaus II. entgegnet dem Beschwerde führenden Minister: »Ich bitte, Leo Tolstoi nicht anzurühren, ich habe nicht die Absicht, einen Märtyrer aus ihm zu machen.« Dies aber, gerade dies, Märtyrer seiner Überzeugung, wollte Tolstoi in den letzten Jahren durchaus werden, und gerade dies gestattet ihm das Schicksal nicht, ja, es entfaltet eine geradezu boshafte Fürsorge gegen diesen Leidenswilligen, daß ihm nur kein Leid geschehe. Wie ein Rasender, irrsinnig in seiner Gummizelle, so schlägt er im unsichtbaren Gefängnis seines Ruhms um sich; er bespeit seinen eigenen Namen, er schneidet dem Staat, der Kirche und allen Mächten grimmige Fratzen – aber man hört ihm höflich zu, den Hut in der Hand, und schont ihn als einen hochgeborenen und ungefährlichen Irren. Niemals gelingt ihm die sichtliche Tat, der endgültige Beweis, das ostentative Märtyrertum. Zwischen seinen Willen zur Kreuzigung und die Verwirklichung hat der Teufel den Ruhm gestellt, der alle Schläge des Schicksals auffängt und das Leiden nicht an ihn herankommen läßt.
Warum aber – so fragt ungeduldig das Mißtrauen aller seiner Anhänger und höhnisch der Spott seiner Gegner –, warum zerreißt Leo Tolstoi nicht mit entschlossenem Willen diesen peinlichen Widerspruch? Warum fegt er nicht das Haus rein von Reportern und Photographen, warum duldet er den Verkauf seiner Werke durch die Familie, warum gibt er statt dem eigenen immer wieder dem Willen seiner Umgebung nach, die in vollkommener Mißachtung seiner Forderungen unentwegt Reichtum, Behagen als höchste Güter der Erde anspricht? Warum handelt er nicht endlich eindeutig und klar nach dem Gebot seines Gewissens? Tolstoi hat selbst den Menschen auf diese furchtbare Frage nie geantwortet und niemals sich entschuldigt, im Gegenteil, keiner der müßigen Schwätzer, die mit schmutzigen Fingern auf den taghellen Widerspruch zwischen Wille und Wirksamkeit hindeuteten, verurteilte die Halbheit seines Handelns oder vielmehr seines Nichthandelns härter als er selbst. 1908 schreibt er in sein Tagebuch: »Wenn ich von mir als von einem Fremden reden hörte: ein Mensch, der in Luxus lebt, alles, was er kann, den Bauern nimmt, sie verhaften läßt und dabei das Christentum bekennt und predigt, Fünfkopekenstücke als Almosen austeilt und sich bei all seinen gemeinen Handlungen hinter seine liebe Frau verkriecht – ich würde mich nicht bedenken, einen solchen Menschen als Schuft zu bezeichnen! Und eben das müßte auch mir gesagt werden, damit ich mich von den Eitelkeiten der Welt lossage und nur der Seele lebe.« Nein, einen Leo Tolstoi brauchte niemand über seine moralischen Zweideutigkeiten aufzuklären, er zerriß sich selbst täglich die Seele an ihnen. Wenn er sich, im Tagebuch, die Frage ins Gewissen stößt, rotglühenden Brandstahl: »Sag, Leo Tolstoi, lebst du nach den Grundsätzen deiner Lehre?«, so antwortet die ingrimmige Verzweiflung: »Nein, ich sterbe vor Scham, ich bin schuldig und verdiene Verachtung«. Er war sich vollkommen darüber klar, daß nach seinem Glaubensbekenntnis zur Entbehrung logisch und ethisch nur eine einzige Lebensform für ihn möglich war: sein Haus zu verlassen, seinen Adelstitel, seine Kunst aufzugeben und als Pilger über die russischen Straßen zu ziehen. Zu diesem letzten notwendigsten und einzig überzeugenden Entschluß hat sich der Bekenner jedoch niemals aufraffen können. Aber gerade dies Geheimnis seiner letzten Schwäche, diese Unfähigkeit zum prinzipiellen Radikalismus, will mir Tolstois letzte Schönheit bedeuten. Denn Vollkommenheit ist immer nur jenseits des Menschlichen möglich; jeder Heilige, selbst der Apostel der Sanftmut, muß hart sein können, er muß die fast übermenschliche, die inhumane Forderung an die Jünger stellen, daß sie Vater und Mutter, Weib und Kind gleichgültig hinter sich lassen um der Heiligkeit willen. Ein konsequentes, ein vollkommenes Leben läßt sich immer nur im luftleeren Raum eines abgelösten Individuums verwirklichen, nie in Bindung und Verbindung: darum führt zu allen Zeiten der Weg des Heiligen in die Wüste als die ihm einzig gemäße Hausung und Heimstatt. So müßte auch Tolstoi, sofern er die äußersten Konsequenzen seiner Lehre tätig verwirklichen will, wie von Kirche und Staat sich auch aus dem engeren, wärmeren und haftenderen Kreise der Familie loslösen: zu diesem brutalen, rücksichtslosen Gewaltakt aber fehlt dem allzu menschlichen Heiligen dreißig Jahre lang die Kraft. Zweimal war er geflohen, zweimal zurückgekehrt, denn der Gedanke, seine verstörte Frau könnte Selbstmord begehen, lähmt ihm in letzter Stunde den Willen, er kann sich nicht entschließen – dies seine geistige Schuld und seine menschliche Schönheit! –, einen einzigen Menschen aufzuopfern für seine abstrakte Idee. Lieber als sich mit den Kindern zu entzweien und die Gattin in den Selbstmord zu treiben, duldet er stöhnend das drückende Dach einer nur körperlichen Gemeinsamkeit; verzweifelt gibt er in entscheidenden Fragen, wie jener des Testaments und des Bücherverkaufes, seiner Familie nach und nimmt es eher auf sich, selbst zu leiden, als anderen Leiden zu verursachen. Er bescheidet sich schmerzlich, lieber ein brüchiger Mensch statt ein felsenharter Heiliger zu sein.
Denn auf sich und sich allein häuft er derart vor der Öffentlichkeit allen Anschein der Lauheit und Halbschlächtigkeit. Er weiß, jeder Bube darf nun seiner spotten, jeder Aufrichtige ihn bezweifeln, jeder seiner Anhänger ihn richten, aber dies und gerade dies wird nun Tolstois großartige Dulderart in all diesen dunklen Jahren, daß er mit hartverschlossenen Lippen die Beschuldigung der Zweideutigkeit hinnimmt, ohne sich jemals zu entschuldigen. »Möge meine Lage vor den Menschen falsch sein, vielleicht ist gerade das nötig«, schreibt er 1898 erschüttert in sein Tagebuch, und langsam beginnt er den besonderen Sinn seiner Prüfung zu erkennen, nämlich, daß dieses sein Märtyrertum ohne Triumph, dieses Unrechtleiden ohne Gegenwehr und Entschuldigung für ihn längst ein grimmigeres und gewichtigeres geworden ist, als ein Märtyrertum am Markte, jenes andere theatralische, gewesen wäre, das er vom Schicksal jahrelang ersehnt. »Ich wünschte oft, zu leiden und Verfolgung zu erdulden, aber das bedeutet, daß ich faul war und andere für mich arbeiten lassen wollte, dadurch daß sie mich quälen, während ich bloß zu leiden hätte.« Der ungeduldigste aller Menschen, der gern mit einem Ruck in die Qual hineingesprungen wäre und in überschwenglicher Büßerlust sich hätte verbrennen lassen am Opferpfahl seiner Überzeugung, erkennt, daß ihm als viel härtere Prüfung das Brennen am langsam schwelenden Feuer auferlegt ist: die Mißachtung der Uneingeweihten und die ewige Unruhe des eigenen wissenden Gewissens. Denn welch unaufhörliche Gewissensfolter für einen so wachen und unbelügbaren Selbstbeobachter, sich täglich neu eingestehen zu müssen, daß er, der irdische Mensch Leo Tolstoi, in seinem eigenen Haus und Leben nicht imstande ist, die ethischen Forderungen zu erfüllen, die der Apostel Leo Tolstoi an eine Millionenmenschheit stellt, und daß er trotzdem, seines eigenen Versagens bewußt, nicht innehält, weiter und weiter diese Lehre zu predigen! Daß er, der längst sich selbst nicht mehr glaubt, von den andern immer noch Gläubigkeit und Zustimmung fordert! Hier schwärt die Wunde, die eitrige Stelle in Tolstois Gewissen. Er weiß, daß die Mission, die er auf sich genommen, längst eine Rolle geworden ist, ein Schauspielstück der Demut, unablässig der Welt neu vorgespielt; sich selbst hat Tolstoi nie belogen, und eben daß er um seine Halbschlächtigkeiten und Posen genauer wußte als selbst seine erbittertsten Feinde, gerade das hat sein Leben zu einer intimen Tragödie gemacht. Wer wissen oder nur ahnen will, bis zu welchem Maße des Selbstekels und der Selbstzerschmetterung diese gequälte, und wahrheitswütige Seele sich gepeinigt hat, der lese jene Novelle, die man erst im Nachlaß gefunden hat, den »Vater Sergius«. Genau wie die heilige Therese, von ihren Visionen erschreckt, ihren Beichtvater ängstlich fragt, ob diese Verkündigungen wirklich von Gott und nicht vielleicht von seinem Widerpart, dem Teufel, ihr zugesandt seien, um ihren Hochmut herauszufordern, so fragt sich Tolstoi in jener Novelle, ob sein Lehren und Tun vor den Menschen wirklich göttlichen, also ethischen und hilfreichen Ursprungs sei oder nicht vom Teufel der Eitelkeit stamme, von Ruhmsucht und Freude am Weihrauch. In sehr durchsichtiger Verhüllung schildert er in jenem Heiligen seine eigne Situation in Jasnaja Poljana: wie zu ihm selbst die Gläubigen, die Neugierigen, die Pilger der Bewunderung, wandern zu jenem wundertätigen Mönch Hunderte Büßer und Verehrer. Aber gleich Tolstoi selbst fragt sich inmitten des Tumults seiner Anhänger, dieser Doppelgänger seines Gewissens, ob er, den alle als Heiligen verehren, tatsächlich heiligen Herzens lebe; er fragt sich: »In welchem Maße geschieht, was ich tue, Gott zuliebe und inwieweit nur um der Menschen willen?« Und zerschmetternd antwortet Tolstoi sich selbst durch Vater Sergius:
»Er fühlte in der Tiefe seiner Seele, daß der Teufel sein Wirken um Gottes willen durch ein anderes, nur auf den Ruhm bei den Menschen abgesehenes, vertauscht hatte. Er fühlte das; denn wie es ihm früher wohlgetan hatte, wenn man ihn nicht aus seiner Einsamkeit aufstörte, so war ihm jetzt diese Einsamkeit eine Qual. Er fühlte sich durch die Besucher belästigt, sie machten ihn müde, doch in seinem innersten Herzen freute er sich über sie, freute sich über die Lobpreisungen, mit denen sie ihn überhäuften. Es blieb ihm immer weniger Zeit zu seelischer Stärkung und Gebet, mitunter dachte er, er sei einem Platze ähnlich, an dem eine Quelle gesprudelt hatte, eine schwache Quelle lebendigen Wassers, die aus ihm und durch ihn strömte; jetzt aber kann sich das Wasser nicht mehr ansammeln, wenn die Dürstenden herandrängen und einander stoßen, und sie haben alles zerstampft, es ist nur Schmutz übriggeblieben… Es war jetzt keine Liebe mehr in ihm, keine Demut und auch keine Reinheit.«
Kann man furchtbarere Verurteilung sich erdenken als diese schneidende Selbstzurückweisung, die jede mögliche Vergötterung für immer erledigen soll? Mit diesem Bekenntnis zertrümmert Tolstoi für immer das für Lesebücher schon gestanzte Klischee des heiligen Mannes von Jasnaja Poljana; wie erschüttert zeigt sich das zerfleischte Gewissen eines brüchigen, unsicheren Menschen, der unter der Last seiner selbst aufgeladenen Verantwortung zusammenbricht, statt der Aureole des Heiligen. Die Bewunderung einer Welt, die scharwenzelnde Verhimmelung seiner Jünger, die Pilgerzüge jedes einzelnen Tags, all diese lärmenden und berauschenden Zustimmungen vermochten diesen mißtrauischen Geist, dieses unbestechliche Gewissen darüber nicht zu täuschen, wieviel Theatralisches in diesem literarisch aufgezogenen Christentum, wieviel Ruhmsucht in den eigenen Demütigungen versteckt war. Doch unersättlich in seiner Grausamkeit gegen sich selbst, bezweifelt in dieser symbolischen Autopsie Tolstoi die Ehrlichkeit sogar seines ersten Willens. Ganz ängstlich fragt er weiter durch seines Doppelgängers Mund: »Aber war nicht wenigstens eine ehrliche Absicht, Gott zu dienen, vorhanden?« Doch abermals schlägt die Antwort alle Pforten der Heiligkeit zu. »Ja, sie war vorhanden, aber alles ist beschmutzt und von Ruhm überwuchert. Es gibt keinen Gott für einen, der so gelebt hat wie ich um des Ruhmes vor den Menschen willen.« Er hat den Glauben vertan durch zu viel Reden und Tragieren der Gläubigkeit. Die Theaterpose vor der versammelten Literatur Europas, die pathetischen Gemeindebeichten statt einer schweigenden Demut, dies hat, so fühlt und bekennt hellseherisch Tolstoi, ihm seine vollkommene Heiligung unmöglich gemacht. Erst wenn er der Welt, dem Ruhm, der Eitelkeit entsagt, wird Vater Sergius, sein Gewissensbruder, sich seinem Gotte nähern; und es ist sein Wort, wenn er ihn sehnsüchtig am Ende seiner Irrfahrten sagen läßt: »Ich will ihn suchen.«
»Ich will ihn suchen« – nur dies Wort enthält Tolstois wahrsten Willen –, sein wirkliches Schicksal: kein Gottfinder zu sein, nur Gottsucher. Er ist kein Heiliger gewesen, kein welterlösender Prophet, nicht einmal ein vollkommen eindeutig ehrlicher Gestalter seines Lebens: er ist immer Mensch geblieben, großartig in manchen Augenblicken und in den nächsten wieder unwahrhaftig und eitel. Ein Mensch mit Schwächen, Unzulänglichkeiten und Zweideutigkeiten, aber immer dieser Fehler tragisch bewußt und mit einer Leidenschaftlichkeit ohnegleichen um Vollendung bemüht. Kein Heiliger, aber ein heiliger Wille, kein Gläubiger, aber eine titanische Glaubenskraft, Bildnis nicht des Göttlichen, das still gefaßt und beendet in sich ruht, sondern Symbol einer Menschheit, die nie befriedigt rasten darf auf ihrem Wege, sondern unablässig ringen muß um reinere Gestaltung, jede Stunde und jeden Tag.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.