Ein Tag aus dem Leben Tolstois


In der Familie ist mir traurig zumute, weil ich die Empfindungen meiner Angehörigen nicht teilen kann. Alles, was sie freut, die Schulprüfungen, der Erfolg in der Welt, die Einkäufe, alles das halte ich für ein Unglück und Übel für sie selbst, darf es aber nicht sagen. Ich darf es ja freilich und tue es auch, aber meine Worte werden von niemandem erfaßt.


Tagebuch


So bilde ich mir dank der Zeugnisse seiner Freunde und nach seinem eigenen Wort aus tausend einen einzigen Tag Leo Tolstois.


Frühmorgens: Der Schlaf fließt langsam ab von den Lidern des alten Mannes, er erwacht, sieht sich um – Morgenlicht färbt schon die Fenster, es wird Tag. Aus dunkler Verschattung taucht das Denken empor und als erstes Gefühl, das erstaunt beglückte: Ich lebe noch. Gestern abend, wie allnachts, hat er sich hingestreckt auf sein Bett, mit der demütigen Ergebung, sich nicht wieder zu erheben. Bei der flackernden Lampe hat er noch in sein Tagebuch vor das Datum des werdenden Tages die drei Buchstaben geschrieben: W. i. l., »Wenn ich lebe«, und wunderbar, noch einmal ist ihm die Gnade des Daseins geschenkt, er lebt, atmet noch, er ist gesund. Wie einen Gruß Gottes saugt er mit aufgetaner Lunge die Luft und mit grauen gierigen Augen das Licht: wunderbar, man lebt noch, man ist gesund. Dankbar steht er auf, der alte Mann, macht sich nackt, der Guß eiskalten Wassers rötet gut den wohlerhaltenen Leib. Mit turnerischer Lust beugt er, bis die Lunge stöhnt und die Gelenke knacken, den Oberkörper auf und nieder. Dann zieht er Hemd und Hausrock um die rotgescheuerte Haut, stößt die Fenster auf und fegt eigenhändig die Stube, wirft die krachenden Holzscheite ins flink aufprasselnde Feuer, sein eigener Diener, sein eigener Knecht.


Dann hinab in die Frühstücksstube. Sophia Andrejewna, die Töchter, der Sekretär, ein paar Freunde sind schon zur Stelle, im Samowar brodelt der Tee. Auf einem hohen Tablett bringt der Sekretär ihm den bunten Wust von Briefen, Zeitschriften, Büchern entgegen, bespickt mit Frankaturen aus vier Erdteilen. Mißmutig blickt Tolstoi auf den papiernen Turm. »Weihrauch und Belästigung«, denkt er im stillen; »Verwirrung jedenfalls! Man sollte mehr allein sein mit sich selbst und mit Gott, nicht immer Nabel des Weltalls spielen, sich all das fernhalten, was stört, verwirrt, was eitel, hoffärtig, ruhmsüchtig und unwahr macht. Besser, man schaufelte all das in den Ofen, um sich nicht zu verzetteln, nicht sich die Seele mit Hochmut zu verstören.« Aber die Neugier ist mächtiger, er durchblättert doch die gehäufte, wirre Vielfältigkeit von Bitten, Anklagen, Betteleien, geschäftlichen Anträgen, Besuchsankündigungen und loser Schwätzerei mit raschen knisternden Fingern. Ein Brahmane schreibt aus Indien, er hätte Buddha falsch verstanden, ein Verbrecher aus dem Zuchthaus erzählt seine Lebensgeschichte und will Rat, junge Menschen wenden sich an ihn in ihrer Verwirrung, Bettler in ihrer Verzweiflung, alle drängen sie demütig zu ihm, wie sie sagen, als dem einzigen, der ihnen helfen könnte, an das Gewissen der Welt. Die Runzeln auf der Stirn schneiden sich tiefer: »Wem kann ich helfen«, denkt er, »ich, der mir selbst nicht zu helfen weiß; von einem Tage zum andern gehe ich irre und suche mir neuen Sinn, um dieses unergründliche Leben zu ertragen, und rede großspurig von der Wahrheit, um mich zu täuschen. Was Wunder, daß sie da alle kommen und schreien: Leo Nikolajewitsch, lehre du uns das Leben! Lüge ist, was ich tue, Großtuerei und Gaukelspiel, in Wahrheit bin ich längst ausgeschöpft, weil ich mich verschwende, weil ich mich fortgieße an alle die tausend und aber tausend Menschen, statt mich in mir selber zu sammeln, weil ich rede und rede und rede, statt mich auszuschweigen und mein innerstes wahrstes Wort in der Stille zu hören. Aber ich darf die Menschen in ihrem Vertrauen nicht enttäuschen, ich muß ihnen antworten.« Einen Brief hält er länger und liest ihn zweimal, dreimal: den eines Studenten, der ihn ingrimmig schmäht, daß er Wasser predige und Wein trinke. Es sei Zeit, daß er endlich sein Haus verlasse, sein Eigentum an die Bauern gebe und Pilgrim werde auf den Straßen Gottes. »Er hat recht«, denkt Tolstoi, »er spricht mein Gewissen. Aber, wie ihm erklären, was ich mir selber nicht erklären kann, wie mich verteidigen, da er mich anklagt in meinem eigenen Namen?« Diesen einen Brief nimmt er mit sich, um ihn gleich zu beantworten, nun er aufsteht, in sein Arbeitszimmer zu gehen. An der Tür kommt der Sekretär noch nach und erinnert, zu Mittag habe sich der Korrespondent der »Times« angesagt für ein Interview: ob er ihn empfangen wolle. Tolstois Gesicht verfinstert sich. »Immer diese Zudringlichkeit! Was wollen sie denn von mir: nur in mein Leben gaffen. Was ich sage, steht in meinen Schriften; jeder, der lesen kann, vermag sie zu verstehen.« Aber irgendeine eitle Schwäche gibt doch rasch nach. »Meinetwegen«, sagt er, »aber nur für eine halbe Stunde.« Und kaum, daß er die Schwelle des Arbeitszimmers überschreitet, murrt schon das Gewissen: »Warum habe ich schon wieder nachgegeben; immer noch, mit grauen Haaren, eine Spanne vor dem Tode handle ich noch eitel und liefere mich aus an Menschengeschwätz, immer wieder werde ich schwach, wenn sie gegen mich andringen. Wann werde ich endlich lernen, mich zu verbergen, mich zu verschweigen! Hilf mir, Gott, hilf mir doch!«


Endlich allein mit sich im Arbeitszimmer. An den nackten Wänden hängen Sense, Rechen und Beil, auf dem gebohnten Grund steht fest, mehr Klotz als Ruhestatt, ein schwerer Sessel vor dem plumpen Tisch; eine Zelle, halb mönchisch, halb bäurisch. Vom letzten Tage liegt noch der Aufsatz halbfertig auf dem Tisch, »Gedanken über das Leben«. Er überliest seine eigenen Worte, streicht, ändert, setzt wieder an. Immer wieder stockt die rasche, übergroß kindliche Schrift. »Ich bin zu leichtfertig, ich bin zu ungeduldig. Wie kann ich über Gott schreiben, wenn ich mich über den Begriff noch nicht klar fühle, wenn ich selbst noch nicht fest stehe, und meine Gedanken schwanken von einem Tage zum andern? Wie soll ich deutlich sein und jedem verständlich, wenn ich über Gott spreche, den unaussprechlichen, und über das Leben, das ewig unverständliche? Was ich da unternehme, geht über meine Kraft. Mein Gott, wie sicher war ich früher, da ich dichterische Werke schrieb, den Menschen das Leben darbot, wie Er es vor uns hingestellt hat und nicht so, wie ich, ein alter, verwirrter, suchender Mann, mir wünsche, daß es wahrhaft sei. Ich bin kein Heiliger, nein, ich bin es nicht und sollte nicht die Menschen lehren; ich bin nur einer, dem Gott hellere Augen und bessere Sinne als Tausenden zugetan, damit er seine Welt rühme. Und vielleicht war ich wahrer und besser damals, als ich nur der Kunst diente, die ich jetzt so unsinnig verfluche.« Er hält inne und blickt sich unwillkürlich um, als könnte ihn jemand belauschen, wie er nun aus einer versteckten Lade die Novellen holt, an denen er jetzt heimlich arbeitet (denn öffentlich hat er ja die Kunst als eine »Überflüssigkeit«, eine »Sünde« verhöhnt und erniedrigt). Da sind sie, die heimlich geschriebenen, vor den Menschen versteckten Werke, »Hadschi Murat«, »Der gefälschte Coupon«; er blättert sie an und liest ein paar Seiten. Das Auge wird wieder warm. »Ja, das ist gut geschrieben«, fühlt er, »das ist gut! Daß ich seine Welt schildere, nur dazu hat mich Gott gerufen, nicht daß ich seine Gedanken verrate. Wie schön ist die Kunst, wie rein das Schaffen und wie qualvoll das Denken! Wie war ich glücklich damals, als ich jene Blätter schrieb, mir selber rannen die Tränen nieder, als ich den Frühlingsmorgen im ›Eheglück‹ schilderte, und noch nachts kam Sophia Andrejewna herein, mit brennenden Augen, und umarmte mich: beim Abschreiben mußte sie innehalten und mir danken, und wir waren glücklich die ganze Nacht, das ganze Leben. Aber ich kann jetzt nicht mehr zurück, ich darf die Menschen nicht mehr enttäuschen, ich muß weiter auf dem begonnenen Weg, weil sie von mir Hilfe erhoffen in ihrer Seelennot. Ich darf nicht innehalten, meine Tage sind gezählt.« Er seufzt auf und schiebt die geliebten Blätter wieder in das Versteck der Lade zurück; wie ein Lohnschreiber, stumm, ärgerlich schreibt er weiter an dem theoretischen Traktat, die Stirn zerfurcht und das Kinn so tief gebückt, daß der weiße Bart manchmal raschelnd über das Papier mitstreift.


Endlich Mittag! Genug getan für heute! Weg die Feder: er springt auf und wirbelt mit seinen flinken, kleinen Schritten die Treppe hinab. Dort hält schon der Reitknecht Delire, die Lieblingsstute, bereit. Ein Ruck in den Sattel, und schon strafft sich die beim Schreiben gebückte Gestalt, er scheint größer, stärker, jünger, lebendiger, als er, aufrecht sitzend, leicht und locker wie ein Kosak auf dem schmalhufigen Pferde gegen den Wald sprengt. Der weiße Bart wellt und weht im Sausen des Windes, weit und wollüstig öffnet er die Lippen, um den Brodem der Felder stärker in sich einzusaugen, Leben, das lebendige, im alternden Leib zu fühlen, und die Wollust des gerüttelten Blutes rauscht ihm warm und süß durch die Adern bis zu den Fingerspitzen und in die dröhnende Muschel des Ohres. Wie er jetzt in den jungen Wald einreitet, hält er plötzlich an, um zu sehen, noch einmal zu sehen, wie an der lenzlichen Sonne die klebrigen Knospen aufgebrochen schimmern und ein dünnes, zittriges Grün, zart wie Stickerei, in den Himmel halten. Mit scharfem Schenkeldruck drängt er das Pferd zu den Birken, sein Falkenauge beobachtet erregt, wie eine hinter der andern, vor und zurück, ein mikroskopisches Paternosterwerk, die Ameisen die Borke entlangziehen, die einen, beladen schon, mit dickem Bauch, die andern noch das Baummehl fassend mit ihren winzigen Filigranzangen. Minutenlang steht er reglos begeistert, der greise Patriarch, und blickt auf das Winzige im Ungeheuren, Tränen strömen ihm warm in den Bart. Wie wunderbar das ist, seit mehr als siebzig Jahren immer wieder neu wunderbar, dieser Gottesspiegel der Natur, still und sprechend zugleich, ewig von andern Bildern erfüllt, allzeit belebt und weiser in seiner Stille als alle Gedanken und Fragen. Unter ihm schnaubt ungeduldig das Pferd. Tolstoi erwacht aus seiner sinnenden Versunkenheit, drückt der Stute kräftig die Schenkel an die Flanken, um nun im Sausen des Windes nicht bloß das Kleine und Zärtliche, sondern auch Wildheit und Leidenschaft der Sinne zu fühlen. Und er reitet und reitet und reitet, glücklich und gedankenlos, reitet zwanzig Werst, bis schon glänzender Schweiß die Flanke der Stute weiß überschäumt. Dann lenkt er sie heimwärts in ruhigem Trab. Seine Augen sind ganz licht, seine Seele leicht, er ist glücklich und froh wie als Knabe in denselben Wäldern, auf demselben seit siebzig Jahren vertrauten Weg, der alte, uralte Mann.


Aber in der Nähe des Dorfes verfinstert sich plötzlich das übersonnte Gesicht. Sein fachmännischer Blick hat die Felder geprüft: hier liegt inmitten seines Gutsbereiches eins schlecht gehalten, verwahrlost, der Zaun abgefault und zur Hälfte wahrscheinlich verheizt, der Boden nicht gepflügt. Zornig reitet er heran, Auskunft zu fordern. Aus der Türe tritt barfüßig, mit versträhntem Haar und geducktem Blick eine schmutzige Frau; zwei, drei kleine, halbnackte Kinder drängen ängstlich nach an ihrem zerschlissenen Rock, und von rückwärts aus der niederen, rauchigen Hütte quäkt noch ein viertes. Gerunzelter Stirn forscht er nach dem Grund der Verwahrlosung. Die Frau flennt zusammenhanglose Worte, seit sechs Wochen sei ihr Mann im Gefängnis, verhaftet wegen Holzdiebstahls. Wie sollte sie sorgen ohne ihn, den Starken und Fleißigen, und er habe es doch nur aus Hunger getan, der Herr wisse ja selbst: die schlechte Ernte, die hohen Steuern, die Pacht. Die Kinder, ihre Mutter flennen sehend, beginnen mitzuheulen, hastig greift Tolstoi in die Tasche und reicht, um jede weitere Erörterung abzuschneiden, ihr ein Geldstück hin. Dann reitet er rasch, ein Flüchtling, davon. Sein Antlitz ist düster, seine Freude verflogen. »Das also geschieht auf meinem – nein, auf dem Grunde, den ich meiner Frau und meinen Kindern geschenkt habe. Aber warum verstecke ich immer feig hinter meine Frau Mitwissen und Schuld? Ein Lügenspiel vor der Welt, nichts sonst war jene Vermögensüberweisung; denn genau, wie ich selbst von Bauernfron satt geworden bin, saugen jetzt die Meinen aus dieser Armut ihr Geld. Ich weiß doch: von dem Neubau des Hauses, in dem ich sitze, ist jeder Ziegel aus dieser Leibeigenen Schweiß gebacken, ihr steingewordenes Fleisch, ihre Arbeit. Wie durfte ich meiner Frau und meinen Kindern schenken, was mir nicht gehörte, die Erde jener Bauern, die sie pflügen und bestellen. Schämen muß ich mich vor Gott, in dessen Namen ich, Leo Tolstoi, immer Gerechtigkeit den Menschen predige, ich, dem täglich fremdes Elend in die Fenster sieht.« Ganz zornig ist sein Antlitz geworden und verdunkelt sich noch mehr, wie er jetzt an den steinernen Säulen vorbei in den »Herrensitz« einreitet. Der livrierte Lakai und der Reitknecht stürzen aus der Tür, um ihm vom Pferd zu helfen. »Meine Sklaven«, höhnt ingrimmig von innen die selbstanklägerische Scham.


Im weiträumigen Speisezimmer erwartet ihn schon die lange Tafel, blühweiß gedeckt und mit Silbergeschirr: die Gräfin, die Töchter, die Söhne, der Sekretär, der Hausarzt, die Französin, die Engländerin, ein paar Nachbarn, ein revolutionärer Student, als Hauslehrer angestellt, und dann jener englische Reporter: der breite Menschenbrei brodelt heiter durcheinander. Jetzt freilich, da er eintritt, bricht sofort ehrfürchtig das Lärmen ab. Ernst, adelshöflich begrüßt Tolstoi die Gäste und setzt sich an den Tisch, ohne ein Wort zu sprechen. Wie der livrierte Diener ihm jetzt seine erlesenen vegetarischen Gerichte hinstellt – Spargel, fremdländische Ware, auf das zärtlichste zubereitet –, muß er denken an die zerschlissene Frau, die Bäuerin, der er zehn Kopeken geschenkt. Finster sitzt er und sieht in sich hinein. »Wenn sie doch nur verstehen wollten, daß ich nicht so leben kann und will, umringt von Lakaien, vier Gänge zu Mittag, auf Silber mit allen Überflüssigkeiten, indes die anderen nicht das Nötigste haben; sie wissen doch alle, daß ich nur dies eine Opfer von ihnen begehre, nur dies eine, daß sie den Luxus lassen, diese schändliche Sünde an der von Gott gleichgewollten Menschheit. Aber sie, die meine Frau ist und meine Gedanken teilen sollte wie mein Bett und mein Leben, sie steht als Feind gegen meine Gedanken. Ein Mühlstein ist sie an meinem Hals, eine Gewissenslast, die mich hinabzieht in ein falsches, verlogenes Leben; längst sollte ich die Stricke zerschneiden, mit denen sie mich binden. Was habe ich noch mit ihnen zu tun? Sie stören mich in meinem Leben, und ich störe sie in dem ihren. Überflüssig bin ich hier, eine Last für mich und sie alle.«


Unwillkürlich feindselig hebt er den Blick aus seinem Zorn und sieht sie an, Sophia Andrejewna, seine Frau. Mein Gott, wie ist sie alt geworden und grau, auch ihr queren Falten die Stirn, auch ihr zerreißt Gram den verfallenen Mund. Und eine weiche Welle überflutet plötzlich des alten Mannes Herz. »Mein Gott«, denkt er, »wie sieht sie düster, wie sieht sie traurig aus, sie, die ich als junges, lachendes, unschuldiges Mädchen in mein Leben nahm. Ein Menschenalter, vierzig, fünfundvierzig Jahre leben wir nun zusammen, als ein Mädchen habe ich sie genommen, ich schon halb verbrauchter Mann, und sie hat mir dreizehn Kinder geboren. Meine Werke hat sie schaffen helfen, meine Kinder gesäugt, und ich, was habe ich aus ihr gemacht? Eine verzweifelte, fast wahnsinnige, überreizte Frau, der man die Schlafmittel versperren muß, damit sie nicht ihr Leben wegwirft, so unglücklich wurde sie durch mich. Und da, meine Söhne, ich weiß, sie mögen mich nicht, und da, meine Töchter, denen zehre ich die Jugend weg, und da, die Sekretäre, die jedes Wort aufschreiben und jedes meiner Worte aufpicken wie Spatzen den Pferdemist; schon haben sie den Balsam und Weihrauch im Kasten bereit, um meine Mumie für das Museum der Menschheit zu erhalten. Und dort dieser englische Laffe wartet schon mit dem Notizbuch, wie ich ihm ›das Leben‹ erklären werde – eine Sünde gegen Gott und gegen die Wahrheit ist dieser Tisch, dieses Haus, gräßlich geheimnislos und ohne Reinheit, und ich Lügner sitze behaglich in dieser Hölle und fühle mich warm und wohl, statt aufzuspringen und meinen Weg zu gehen. Es wäre besser für mich, es wäre besser für sie, wenn ich schon tot wäre: ich lebe zu lange und nicht wahr genug: längst ist meine Zeit schon gekommen.«


Wieder bietet ihm der Lakai einen Gang, süße Früchte, mit Milchschaum umrundet, in Eis gekühlt. Mit zorniger Handbewegung schiebt er die Silberschüssel zur Seite. »Ist das Essen nicht gut?« fragt ängstlich Sophia Andrejewna, »ist es zu schwer für dich?«


Aber Tolstoi antwortet nur bitter: »Das ist ja für mich das Schwere, daß es so gut ist.«


Die Söhne blicken verdrossen, die Frau befremdet, der Reporter angestrengt: man sieht, er will das Aphorisma behalten.


Endlich ist das Essen zu Ende, sie stehen auf und gehen in den Empfangsraum. Tolstoi debattiert mit dem jungen Revolutionär, der trotz aller Ehrfurcht ihm kühn und lebendig widerspricht. Tolstois Auge blitzt auf, er spricht wild, stoßhaft, beinahe schreiend; noch packt ihn jede Diskussion, wie früher die Jagd und das Tennisspiel, mit unbändiger Leidenschaft. Mit einem Mal ertappt er sich in seiner Wildheit, zwingt sich zur Demut, dämpft gewaltsam die Stimme: »Aber vielleicht irre ich mich, Gott hat seine Gedanken unter die Menschen verstreut, und niemand weiß, ob es die seinen oder die eigenen sind, die er ausspricht.« Und um abzulenken, muntert er die anderen auf: »Gehen wir ein wenig in den Park.«


Aber zuvor noch ein kleiner Halt. Unter der uralten Ulme, gegenüber der Schloßtreppe, an dem »Baum der Armen«, warten die Besucher aus dem Volk, die Bettler und Sektierer, die »Finsteren« auf Tolstoi. Zwanzig Meilen sind sie hergepilgert, Rat zu holen oder etwas Geld. Sonnverbrannt, müde, mit verstaubten Schuhen stehen sie da. Wie der »Herr«, der »Barin«, nun naht, beugen sich einige russisch bis zur Erde. Mit raschem, wehendem Schritt tritt Tolstoi auf sie zu. »Habt ihr Fragen?« »Ich wollte fragen, Erlaucht…« »Ich bin nicht erlaucht, niemand ist erlaucht als Gott«, fährt Tolstoi ihn an. Das Bäuerlein dreht erschrocken die Mütze, endlich haspelt es umständliche Fragen heraus, ob wirklich die Erde nun den Bauern gehören sollte, und wann er sein Stück Feld für sich bekommen werde? Tolstoi antwortet ungeduldig, alles Unklare erbittert ihn. Dann kommt ein Förster an die Reihe mit allerhand Gottesfragen. Ob er lesen könne, fragt ihn Tolstoi, und als er bejaht, läßt er die Schrift »Was sollen wir tun?« holen und verabschiedet ihn. Dann drängen Bettler heran, einer nach dem andern. Rasch fertigt Tolstoi sie mit einem Fünfkopekenstück ab, ungeduldig schon. Wie er sich umwendet, bemerkt er, daß der Journalist ihn während der Verteilung photographiert hat. Wieder verdüstert sich sein Gesicht: »So bilden sie mich ab, Tolstoi, den Gütigen, bei den Bauern, den Almosenspender, den edlen, hilfreichen Mann. Aber der mir ins Herz sehen könnte, der wüßte, ich war nie gut, ich versuchte bloß, das Gutsein zu lernen. Nichts als mein Ich hat mich wahrhaft beschäftigt. Ich war nie hilfreich, in meinem ganzen Leben habe ich nicht die Hälfte dessen an die Armen verschenkt, was ich früher in Moskau in einer einzigen Nacht bei den Karten verspielte. Nie ist es mir eingefallen, Dostojewski, von dem ich wußte, daß er hungerte, die zweihundert Rubel zu schicken, die ihn erlöst hätten für einen Monat oder vielleicht für immer. Und dennoch dulde ich, daß man mich feiert und rühmt als den edelsten Menschen, und weiß innen doch genau, daß ich erst im Anfang des Anfanges stehe.«


Es drängt ihn schon zu dem Spaziergang im Park, und so ungeduldig läuft das flinke alte Männchen mit dem flatternden Bart, daß die anderen kaum folgen können. Nein, jetzt nicht viel reden mehr: nur die Muskeln fühlen, die Geschmeidigkeit der Sehnen, ein wenig hinblicken auf das Tennisspiel der Töchter, die Unschuld des flinken körperlichen Spiels. Interessiert folgt er jeder Bewegung und lacht stolz bei jedem gelungenen Schlag, seine düstere Laune lockert sich auf, er plaudert und lacht, mit helleren beruhigteren Sinnen wandert er durch das weicher duftende Moos dahin. Aber dann wieder zurück in das Arbeitszimmer, ein wenig lesen, ein wenig ruhen: manchmal fühlt er sich schon recht müde, und die Beine werden ihm schwer. Wie er so allein liegt auf dem wachsledernen Sofa, die Augen geschlossen, und sich matt spürt und alt, denkt er im stillen: »Es ist doch gut so: wo ist die Zeit, die schreckliche, da ich mich noch vor dem Tode fürchtete wie vor einem Gespenst, mich vor ihm verstecken und verleugnen wollte. Jetzt habe ich keine Angst mehr, ja, ich fühle mich wohl, ihm so nahe zu sein.« Er lehnt sich zurück, die Gedanken schwärmen in der Stille. Manchmal zeichnet er mit dem Bleistift rasch ein Wort auf, dann bückt er lange und ernst vor sich hin. Und es ist schön, das Antlitz des alten Mannes, umwölkt von Sinnen und Traum, allein mit sich und mit seinen Gedanken.


Abends dann noch einmal hinab in den gesprächigen Kreis: ja, die Arbeit ist getan. Freund Goldenweiser, der Pianist, fragt, ob er etwas vorspielen dürfe. »Gern, gern!« Tolstoi lehnt am Klavier, die Hände über die Augen geschattet, damit niemand sehe, wie die Magie des verbundenen Klangs ihn ergreife. Er lauscht, die Lider geschlossen und tiefatmender Brust. Wunderbar, die Musik, die so laut verleugnete, wunderbar strömt sie ihm zu, alles Weiche auflockernd, sie macht nach all den schweren Gedanken die Seele wieder lind und gut. »Wie durfte ich sie schmähen, die Kunst«, denkt er still in sich hinein. »Wo ist Tröstung, wenn nicht bei ihr? Alles Denken verdüstert, alles Wissen verstört, und Gottes Gegenwart, wo anders fühlen wir sie deutlicher denn in des Künstlers Bild und Wort? Brüder seid ihr mir, Beethoven und Chopin, ich fühle eure Blicke jetzt ganz in mir ruhn, und der Menschheit Herz schlägt in mir auf: Verzeiht mir, ihr Brüder, daß ich euch schmähte.« Das Spiel endet mit einem hallenden Akkord, alle applaudieren, und Tolstoi nach einem kleinen Zögern gleichfalls. Alle Unrast in ihm ist genesen. Mit einem sanften Lachen tritt er in den versammelten Kreis und freut sich guten Gesprächs; endlich weht etwas wie Heiterkeit und Stille um ihn, der vielfältige Tag scheint vollkommen geendet.


Aber noch einmal, ehe er zu Bett geht, schreitet er hinein in sein Arbeitszimmer. Ehe der Tag endet, wird Tolstoi mit sich noch letztes Gericht halten, wird, wie immer, Rechenschaft von sich fordern für jede Stunde sowie für sein ganzes Leben. Aufgeschlagen liegt das Tagebuch, das Auge des Gewissens blickt ihn aus den leeren Blättern an. Tolstoi besinnt sich jeder Stunde des Tages und hält Gericht. Er gedenkt der Bauern, des selbstverschuldeten Elends, an dem er vorbeigeritten, ohne anders zu helfen als mit kleiner, erbärmlicher Münze. Er erinnert sich, ungeduldig gewesen zu sein mit den Bettlern, und der bösen Gedanken gegen seine Frau. All diese Schuld zeichnet er auf in sein Buch, das Buch der Anklage, und mit grimmigem Stift vermerkt er das Urteil »wieder träge gewesen, seelenlahm. Nicht genug Gutes getan! Noch immer habe ich nicht gelernt, das Schwere zu tun, die Menschen um mich zu lieben statt der Menschheit: hilf mir, Gott, hilf mir!«


Dann noch das Datum des nächsten Tages und das geheimnisvolle »W. i. l.«, Wenn ich lebe. Nun ist das Werk vollbracht, wieder ein Tag zu Ende gelebt. Gedrückter Schulter geht er hinüber ins Nachbarzimmer, der alte Mann, legt die Bluse, die klotzigen Stiefel ab und wirft den Leib nieder, den schweren Leib ins Bett und denkt, wie immer, zuerst an den Tod. Noch flügeln Gedanken, die farbigen Falter, unruhig über ihn hin, aber mählich verlieren sie sich wie Schmetterlinge im Walde immer tieferen Dunkels. Schon mattet der Schlummer ganz nah nieder…


Da plötzlich – er schreckt auf –, war das nicht ein Schritt? Ja, er hört einen Schritt nebenan, leise und schleicherisch, einen Schritt im Arbeitszimmer, und schon springt er auf, lautlos, halbnackt, und preßt die brennenden Augen an das Schlüsselloch. Ja, es ist Licht im Nachbarzimmer, jemand ist mit einer Lampe hineingetreten und wühlt in seinem Schreibtisch, blättert im geheimsten Tagebuch, um die Worte zu lesen, die Zwiesprache seines Gewissens: Sophia Andrejwna, seine Frau. Auch in seinem letzten Geheimnis belauert sie ihn, nicht mit Gott selbst lassen sie ihn allein; überall, überall in seinem Hause, in seinem Leben, in seiner Seele ist er umstellt von der Gier und der Neugier der Menschen. Seine Hände zittern vor Wut, schon greift er an die Klinke, die Türe plötzlich aufzureißen und loszufahren auf die eigene Frau, die ihn verraten. Aber im letzten Augenblick bezähmt er seinen Zorn: »Vielleicht ist auch dies mir als Prüfung auferlegt.« So schleppt er sich wieder zurück auf das Lager, stumm, ohne Atem, wie in einen ausgeronnenen Brunnen in sich selber hinablauschend. Und so liegt er noch lange wach, Leo Nikolajewitsch Tolstoi, der größte und mächtigste Mann seiner Zeit, verraten in seinem eigenen Hause, zerquält von Zweifeln und frierend vor Einsamkeit.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.