Entscheidung und Verklärung
Um an die Unsterblichkeit zu glauben, muß man hier ein unsterbliches Leben leben.
Tagebuch, 6. März 1896
1900. Als Zweiundsiebzigjähriger hat Leo Tolstoi die Schwelle des Jahrhunderts überschritten. Aufrecht im Geiste und doch schon legendarische Gestalt geht der heroische Greis seiner Vollendung entgegen. Milder als vordem leuchtet das Antlitz des alten Weltwanderers aus dem verschneiten Bart und wie durchscheinendes Pergament, überschrieben mit zahllosen Runzeln und Runen, die mählich gilbende Haut. Ein ergeben geduldiges Lächeln nistet jetzt gern um die beschwichtigte Lippe, seltener bäumt sich die buschige Braue im Zorn, nachsichtiger und abgeklärter mutet er an, der alte zornige Adam. »Wie gütig er geworden ist!« staunt der eigene Bruder, der ihn ein Leben lang immer nur als Aufbrausenden und Unbezähmbaren gekannt, und wirklich, die starke Leidenschaft beginnt abzuklingen, er hat sich müde gerungen und müde gequält: ein neuer Glanz von Güte übersonnt sein Antlitz im letzten Abendlicht. Ergreifend, nun das einstmals so düstere zu betrachten: es ist, als hätte die Natur achtzig Jahre lang nur deshalb so gewaltsam darin gewirkt, damit endlich in dieser letzten Form seine eigenste Schönheit offenbar werde, die große, wissende und verzeihende Hoheit des Greises. Und in dieser verklärten Gestalt nimmt die Menschheit Tolstois äußere Erscheinung in ihr Gedächtnis. So werden Geschlechter und Geschlechter noch ehrfürchtig sein ernstes und ruhendes Antlitz in der Seele bewahren.
Erst das Alter, das sonst das Bildnis heroischer Menschen mindert und zerstückt, gibt seinem verdüsterten Gesicht vollkommene Majestät. Härte ist Hoheit geworden, Leidenschaft zu Güte und allbrüderlichem Begreifen. Und wirklich, nur Frieden will der alte Kämpfer, »Frieden mit Gott und den Menschen«, Frieden auch mit seinem bittersten Feind, mit dem Tod. Vorbei ist, gnädig vergangen die grause, die panische, die tierische Angst vor dem Sterben, beruhigten Blicks, in guter Bereitschaft sieht der uralte Mann der nahen Vergängnis entgegen. »Ich denke daran, daß es möglich sei, daß ich morgen nicht mehr leben werde, jeden Tag suche ich mich diesem Gedanken vertrauter zu machen und gewöhne mich immer mehr an ihn.« Und wunderbar: seit dieser Angstkrampf von dem lange Verstörten gewichen ist, sammelt sich wieder der bildnerische Sinn. Wie Goethe, der Greis, gerade im letzten Abendlicht noch heimkehrt von wissenschaftlicher Zerstreuung zu seinem »Hauptgeschäft«, so wendet Tolstoi, der Prediger, der Moralist im unwahrscheinlichen Jahrzehnt zwischen dem siebzigsten und achtzigsten Jahre noch einmal sich der Kunst, der lange verleugneten, zu: noch einmal ersteht im neuen Jahrhundert der gewaltigste Dichter des vergangenen Jahrhunderts und ebenso herrlich wie einst. Den ungeheuren Bogen seines Daseins kühn überwölbend, besinnt der Greis ein Erlebnis seiner Kosakenjahre und entformt ihm das iliadische Gedicht »Hadschi Murat«, klirrend von Waffen und Krieg – eine Heldenlegende, einfach und groß erzählt wie in seinen vollkommensten Tagen. Die Tragödie vom »Lebenden Leichnam«, die meisterlichen Erzählungen »Nach dem Ball«, »Kornej Wasiljew« und viele kleine Legenden bezeugen glorreich die Rückkehr und Reinigung des Künstlers vom Unmut des Moralisten; nirgends ahnte man in diesen Spätwerken eines Greises zerfaltete, müdegeschriebene Hand: unbestechlich und unbeirrbar wägt der graue Blick des Uralten das ewig erschütternde Schicksal der Menschen. Der Richter des Daseins ist wieder Dichter geworden, und ehrfürchtig beugt sich in seinen wunderbaren Altersbekenntnissen der einst vermessene Lebenslehrer vor der Unerforschlichkeit des Göttlichen: die ungeduldige Neugier nach den letzten Lebensfragen mildert sich zu einem demütigen Lauschen in die immer näher rauschende Welle der Unendlichkeit. Er ist wahrhaft weise geworden, Leo Tolstoi, in den letzten Jahren seines Daseins, aber noch nicht müde; unablässig, ein urweltlicher Bauer, durchwerkt er, bis der Stift den erkaltenden Händen entsinkt, im Tagebuch den unerschöpflichen Acker der Gedanken.
Denn noch darf der Unermüdliche nicht ruhen, dem als Sinn vom Schicksal auferlegt ist, bis zum äußersten Augenblick um die Wahrheit zu ringen. Eine letzte, die heiligste Arbeit wartet noch der Vollendung, und sie gilt nicht mehr dem Leben, sondern seinem eigenen nahenden Tod; ihn würdig und vorbildlich zu gestalten, wird dieses gewaltigen Bildners letzte Lebensmühe sein, an sie wendet er großartig die gesammelte Kraft. An keinem seiner Kunstwerke hat Tolstoi so lange und leidenschaftlich geschaffen, wie an seinem eigenen Tod: als ein echter und ungenügsamer Künstler, will er gerade diese letzte und allermenschlichste seiner Taten rein und makellos der Menschheit übermitteln.
Dieses Ringen um einen reinen, einen lügenlosen, einen vollkommenen Tod wird die Entscheidungsschlacht im siebzigjährigen Kriege des Friedlosen um die Wahrhaftigkeit und gleichzeitig die opfervollste – denn sie geht gegen sein eigenes Blut. Eine letzte Tat ist noch zu vollbringen, der er sein Leben lang mit einer uns jetzt erst erklärbaren Scheu immer wieder ausgewichen: die endgültige und unwidersprechliche Loslösung von seinem Eigentum. Immer und immer, darin seinem Kutusow ähnlich, der die entscheidende Schlacht gern vermeiden will und in stetem strategischen Rückzug den furchtbaren Gegner zu besiegen hofft, war Tolstoi vor der endgültigen Verfügung über sein Vermögen zurückgeschreckt und vor seinem drängenden Gewissen in die »Weisheit des Nichthandelns« geflüchtet. Jeder Versuch, auf das Recht an seinen Werken auch über sein Leben hinaus zu verzichten, hatte den erbittertsten Widerstand der Familie gefunden, den mit einer brutalen Handlung gewaltsam zu überwinden er zu schwach und in Wahrheit zu menschlich war; so hatte er jahrelang sich beschränkt, persönlich kein Geld zu berühren und von seinen Einnahmen keinen Gebrauch zu machen. Aber – so klagt er sich selbst an – »diesem Ignorieren lag der Umstand zugrunde, daß ich prinzipiell alles Eigentum verneinte und aus falschem Schamgefühl vor den Menschen mich um mein Eigentum nicht kümmerte, damit man mich nicht der Inkonsequenz beschuldige«. Immer wieder, nach den verschiedensten fruchtlosen Versuchen, deren jeder eine Tragödie im engsten Kreise der Seinen zeitigt, schiebt er die klare und bindende Entscheidung über sein Vermächtnis von sich selbst weg und in einen unbestimmten Zeitpunkt hinaus. Aber 1908, im achtzigsten Jahre, da die Familie das Jubiläum zu einer mit reichlichem Kapital unternommenen Gesamtausgabe benutzt, ist es dem öffentlichen Feinde alles Eigentums nicht mehr möglich, tatenlos zu bleiben; im achtzigsten Jahre muß sich Leo Tolstoi mit offenem Visier dem Entscheidungskampf stellen. Und so wird Jasnaja Poljana, der Pilgerort Rußlands, hinter verschlossenen Türen der Schauplatz eines Kampfes zwischen Tolstoi und den Seinen, der um so grimmiger und gräßlicher ist, als er um ein Kleinliches geht, um Geld, und von dessen Grauenhaftigkeit selbst die grellen Schreie des Tagebuches nur unzulängliche Ahnung geben. »Wie schwer ist es doch, sich von diesem schmutzigen, sündigen Eigentum loszumachen«, stöhnt er auf in diesen Tagen (25. Juli 1908), denn an diesem Eigentum zerrt mit verkrallten Nägeln die halbe Familie. Szenen aus Kolportageromanen ärgster Art, erbrochene Läden, durchwühlte Schränke, belauschte Gespräche, Versuche der Entmündigung, wechseln mit tragischesten Augenblicken, mit Selbstmordversuchen der Frau und Fluchtdrohungen Tolstois: die »Hölle von Jasnaja Poljana«, wie er sie nennt, öffnet ihre Pforten. Aber gerade aus dieser äußersten Qual findet Tolstoi schließlich eine äußerste Entschlossenheit. Endlich, ein paar Monate vor seinem Tode, entschließt er sich um der Reinheit und Redlichkeit dieses Todes willen, keine Zweideutigkeiten und Unklarheiten mehr zu dulden und ein Testament der Nachwelt zu hinterlassen, das undeutbar sein geistiges Eigentum der ganzen Menschheit überweist. Noch tut eine letzte Lüge not, um diese letzte Wahrhaftigkeit zu vollbringen. Da er im Haus sich belauscht und überwacht fühlt, reitet der Zweiundachtzigjährige zu scheinbar gleichgültigem Spazierritt in den Nachbarwald von Grumont, und dort, auf einem Baumstumpf – dramatischester Augenblick unseres Jahrhunderts –, unterschreibt Tolstoi in Gegenwart dreier Zeugen und der ungeduldig schnaubenden Pferde endlich jenes Blatt, das seinem Willen gültige Kraft und Geltung über sein Leben hinaus bezeugt.
Nun ist die Fußfessel hinter ihn geworfen, und er glaubt die entscheidende Tat getan. Aber die schwerste, die wichtigste und notwendigste wartet noch seiner. Denn kein Geheimnis hält stand in diesem menschendurchflackerten Hause des redseligen Gewissens, bald ahnt es die Frau, bald weiß es die Familie, daß Tolstoi heimliche Verfügung getroffen. Sie spüren dem Testament nach in Kästen und Schränken, durchforschen das Tagebuch, um eine Fährte zu finden, die Gräfin droht mit Selbstmord, wenn der verhaßte Helfer Tscherkow nicht seine Besuche einstelle. Da erkennt Tolstoi: hier inmitten von Leidenschaft, Gewinngier und Haß und Unruhe kann er sein letztes Kunstwerk, den vollendeten Tod, nicht gestalten; und Angst überkommt den greisen Mann, die Familie könnte ihn »in geistiger Hinsicht um jene kostbaren Minuten bringen, die vielleicht die herrlichsten sind«. Und mit einmal bricht aus der untersten Tiefe seines Gefühls wieder jener Gedanke auf, daß er um der Vollendung willen, wie das Evangelium fordert, Weib und Kinder lassen müsse, Besitz und Gewinn um der Heiligung willen. Zweimal war er schon geflohen, 1884 zum erstenmal, aber auf halbem Wege gebrach ihm die Kraft. Damals zwang er sich, heimzukehren zu seiner Frau, die in den Wehen lag und noch in derselben Nacht ihm ein Kind gebar – dieselbe Tochter Alexandra, die ihm nun zur Seite steht, sein Vermächtnis beschützt und bereit ist, ihm Helferin zu werden für den letzten Weg. Dreizehn Jahre später, 1897, bricht er zum zweitenmal aus und hinterläßt seiner Frau jenen unsterblichen Brief, mit der Darlegung seines Gewissenszwanges: »Ich beschloß zu fliehen, erstens, weil mich dieses Leben mit den zunehmenden Jahren immer mehr bedrückt und ich mich immer heftiger nach Einsamkeit sehne, und zweitens, weil die Kinder nun herangewachsen sind und meine Gegenwart im Haus nicht mehr nötig ist… Die Hauptsache ist, daß – ähnlich wie die Inder in die Wälder entfliehen, wenn sie einmal das sechzigste Jahr erreicht haben – jeder religiöse Mensch im Alter den Wunsch fühlt, seine letzten Jahre Gott zu weihen und nicht dem Scherz und Spiel, dem Klatsch und dem Tennissport. So sehnt sich auch meine Seele nun, da ich in mein siebzigstes Jahr eingetreten bin, mit aller Macht nach Ruhe und Einsamkeit, um mit meinem Gewissen in Harmonie zu leben oder – wenn das nicht restlos gelingt – doch dem schreienden Mißverhältnis zwischen meinem Leben und meinem Glauben zu entfliehen.« Aber auch damals war er zurückgekehrt, aus überwogender Menschlichkeit. Noch war seine Kraft zu sich selbst nicht stark, der Ruf noch nicht mächtig genug. Aber nun, dreizehn Jahre nach jener zweiten, zweimal dreizehn Jahre nach jener ersten Flucht, hebt schmerzhafter als jemals das ungeheure Ziehen in die Ferne an, mächtig und magnetisch fühlt das eiserne Gewissen sich angerissen von der unerforschlichen Macht. Im Juli 1910 schreibt Tolstoi in das Tagebuch die Worte: »Ich kann nichts anderes außer Fliehen, und daran denke ich jetzt ernstlich, nun zeige dein Christentum. C’est le moment ou jamais. Hier bedarf doch keiner meiner Anwesenheit. Hilf mir, mein Gott, belehre mich, ich möchte nur eins, nicht meinen, nur Deinen Willen tun. Ich schreibe dies und frage mich: Ist es wirklich auch wahr? Spiele ich mich nicht nur so vor Dir auf? Hilf! Hilf! Hilf!« Aber immer noch zögert er, immer hält ihn die Angst um das Schicksal der andern zurück, immer erschrickt er selbst über seinen sündhaften Wunsch und horcht doch, schauernd über die eigene Seele gebeugt, ob nicht ein Anruf kommen wolle von innen, eine Botschaft von oben, die unwiderstehlich gebietet, wo der eigene Wille noch zögert und zagt. Gleichsam auf den Knien, im Gebet vor dem unerforschlichen Willen, dem er sich hingegeben und dessen Weisheit er vertraut, beichtet er im Tagebuch seine Angst und seine Unruhe. Wie ein Fieber ist dieses Warten im entzündeten Gewissen, wie ein einziges ungeheures Zittern dies Horchen im erschütterten Herzen. Und schon meint er sich ungehört vom Schicksal und dem Sinnlosen hingegeben.
Da, in der rechten und richtigsten Stunde, bricht eine Stimme in ihm auf, das uralte: »Stehe auf und erhebe dich, nimm Mantel und Pilgerstab!« der Legende. Und er rafft sich auf und schreitet seiner Vollendung entgegen.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.