Erstes Kapitel – Aufstieg


1759 – 1793

Am 31. Mai 1759 wird Joseph Fouché – noch lange nicht Herzog von Otranto! – in der Hafenstadt Nantes geboren. Seeleute, Kaufleute seine Eltern, Seeleute seine Ahnen; nichts darum selbstverständlicher, als daß der Erbsohn wieder Meerfahrer würde, Schiffskaufmann oder Kapitän. Aber früh zeigt sich schon: dieser schmächtig aufgeschossene, blutarme, nervöse, häßliche Junge entbehrt jeder Eignung zu so hartem und damals wirklich noch heldischem Handwerk. Zwei Meilen vom Ufer – und er wird schon seekrank, eine Viertelstunde Lauf oder Knabenspiel – und er ermüdet. Was also tun mit einem so zart geratenen Schößling, fragen sich die Eltern nicht ohne Sorge, denn das Frankreich um 1770 hat noch keinen rechten Raum für eine geistig bereits aufgewachte und ungeduldig vordrängende Bürgerschaft. Bei Gericht, bei der Verwaltung, in jeder Anstellung, jedem Amt bleiben alle fetten Pfründen dem Adel vorbehalten; für den Hofdienst benötigt man gräfliches Wappen oder gute Baronie, selbst in der Armee bringt es ein Bürgerlicher mit grauen Haaren kaum weiter als bis zum Korporal. Der dritte Stand ist überall noch ausgeschlossen in dem schlecht beratenen, korrupten Königreich; kein Wunder, daß er ein Vierteljahrhundert später mit Fäusten fordern wird, was man allzulange seiner demütig bittenden Hand versagte.


Bleibt nur die Kirche. Diese tausend Jahre alte, an Weltwissen den Dynastieen unendlich überlegene Großmacht denkt klüger, demokratischer und weitherziger. Sie findet immer Platz für jeden Begabten und nimmt auch den Niedrigsten in ihr unsichtbares Reich. Da der kleine Joseph sich schon auf der Schulbank der Oratorianer lernend auszeichnet, räumen sie dem Ausgebildeten gern das Katheder ein als Lehrer der Mathematik und Physik, als Schulaufseher und Präfekt. Mit zwanzig Jahren hat er in diesem Orden, der seit der Vertreibung der Jesuiten überall in Frankreich die katholische Erziehung leitet, Würde und Amt, ein ärmliches zwar, ohne viel Aussicht auf Aufstieg, aber eine Schule immerhin, in der er sich selber schult, in der er lehrend lernt. Er könnte höher gelangen, Pater werden, vielleicht einmal gar Bischof oder Eminenz, wenn er das Priestergelübde leistete. Aber typisch für Joseph Fouché: schon auf der ersten, der untersten Stufe seiner Karriere tritt ein charakteristischer Zug seines Wesens zutage, seine Abneigung, sich vollkommen, sich unwiderruflich zu binden an irgend jemand oder irgend etwas. Er trägt geistliche Kleidung und Tonsur, er teilt das mönchische Leben der andern geistlichen Väter, er unterscheidet sich während jener zehn Oratorianerjahre äußerlich und innerlich in nichts von einem Priester. Aber er nimmt nicht die höheren Weihen, er leistet kein Gelübde. Wie immer, in jeder Situation, hält er sich den Rückzug offen, die Möglichkeit der Wandlung und Veränderung. Auch an die Kirche gibt er sich nur zeitweilig und nicht ganz, ebensowenig wie später an die Revolution, das Direktorium, das Konsulat, das Kaisertum oder Königreich: nicht einmal Gott, geschweige denn einem Menschen verpflichtet sich Joseph Fouché, jemals zeitlebens treu zu sein.


Zehn Jahre lang, vom zwanzigsten bis zum dreißigsten Jahre, geht dieser blasse, verschlossene Halbpriester durch Klostergänge und stille Refektorien. Er unterrichtet in Niort, Saumur, Vendôme, Paris, aber er spürt kaum den Wechsel des Wohnorts, denn das Leben eines Seminarlehrers spielt sich gleich still, ärmlich und unscheinbar ab in einer Stadt wie der andern, immer hinter schweigsamen Mauern, immer vom Leben abgesondert. Zwanzig Schüler, dreißig Schüler, vierzig Schüler, denen man Latein beibringt, Mathematik und Physik, blasse, schwarzgewandete Knaben, die man zur Messe führt und im Schlafsaal überwacht, einsame Lektüre in wissenschaftlichen Büchern, ärmliche Mahlzeiten, schlechte Bezahlung, ein schwarzes, verschabtes Kleid, ein klösterliches, anspruchsloses Dasein. Wie eine Erstarrung scheinen sie, unwirklich und abseits von Zeit und Raum, unfruchtbar und ehrgeizlos, diese zehn stillen, verschatteten Jahre.


Aber doch, in diesen zehn Jahren der Klosterschule lernt Joseph Fouché viel, was dem späteren Diplomaten unendlich zugute kommt, vor allem die Technik des Schweigenkönnens, die magistrale Kunst des Selbstverbergens, die Meisterschaft der Seelenbeobachtung und Psychologie. Daß dieser Mann ein Leben lang jeden Nerv seines Gesichts auch in der Leidenschaft beherrscht, daß man nie eine heftige Wallung des Zorns, der Erbitterung, der Erregung in seinem unbeweglichen, gleichsam in Schweigen vermauerten Gesicht entdecken kann, daß er mit der gleichen tonlosen Stimme das Umgänglichste wie das Furchtbarste gelassen ausspricht und mit dem gleichen lautlosen Schritt ebenso durch die Gemächer des Kaisers wie durch eine tobende Volksversammlung zu schreiten weiß – diese unvergleichliche Disziplin der Selbstbeherrschung ist erlernt in den Jahren des Refektoriums, sein Wille längst gezähmt durch die Exerzitien Loyolas und seine Rede geschult an den Diskussionen jahrhundertealter Priesterkunst, ehe er das Podium der Weltbühne betritt. Kein Zufall vielleicht, daß alle die drei großen Diplomaten der Französischen Revolution, daß Talleyrand, Sieyès und Fouché aus der Schule der Kirche kamen, schon längst Meister der Menschenkunst, ehe sie noch die Tribüne betraten. Die uralte, gemeinsame, weit über sie hinausreichende Tradition prägt ihren sonst gegensätzlichen Charakteren in den entscheidenden Minuten eine gewisse Ähnlichkeit auf. Dazu kommt bei Fouché noch eine eiserne, gleichsam spartanische Selbstzucht, ein innerer Widerstand gegen Luxus und Prunk, ein Verbergenkönnen privaten Lebens und persönlichen Gefühls; nein, diese Jahre Fouchés im Schatten der Klostergänge waren nicht verloren, er hat unendlich viel gelernt, indes er Lehrer war.


Hinter Klostermauern, in strengster Abgeschiedenheit erzieht und entfaltet sich dieser eigentümlich biegsame und unruhige Geist zu psychologischer Meisterschaft. Jahrelang darf er nur unsichtbar in engstem geistlichen Kreise wirken, aber schon 1778 hat jener soziale Sturm in Frankreich begonnen, der selbst über die Klostermauern schlägt. In den Priesterzellen der Oratorianer wird ebenso diskutiert über Menschenrechte wie in den Freimaurerklubs, eine neue Art Neugier drängt diese jungen Priester den Bürgerlichen entgegen, Neugier auch den Lehrer der Physik und Mathematik zu den erstaunlichen Entdeckungen der Zeit, den Montgolfiers, den ersten Luftschiffen, den großartigen Erfindungen auf den Gebieten der Elektrizität und Medizin. Die geistlichen Herren suchen Fühlung mit den geistigen Kreisen, und die bietet in Arras ein ganz sonderbarer geselliger Zirkel, die »Rosati« genannt, eine Art »Schlaraffia«, in der sich die Intellektuellen der Stadt in heiterer Geselligkeit vereinigen. Recht unscheinbar geht es dort zu, kleine unansehnliche Bürger tragen Gedichtchen vor oder halten literarische Ansprachen, Militär mischt sich mit Zivil, und auch der Priesterlehrer Joseph Fouché wird gern gesehen, weil er von den neuen Errungenschaften der Physik viel zu erzählen weiß. Oft sitzt er dort im kameradschaftlichen Kreise und hört zu, wenn etwa ein Hauptmann vom Geniekorps, namens Lazare Carnot, mokante selbstgedichtete Verse vorliest oder der blasse, schmallippige Advokat Maximilian de Robespierre (er legt damals noch Gewicht auf seinen Adel) eine blümerante Tischrede zu Ehren der »Rosati« hält. Denn noch genießt die Provinz die letzten Atemzüge des philosophierenden Dix-huitième, gemütlich noch schreibt Herr von Robespierre statt Bluturteile zierliche Verslein, noch verfaßt der Schweizer Arzt Marat statt grimmiger kommunistischer Manifeste einen süßlich sentimentalen Roman, noch müht sich der kleine Leutnant Bonaparte irgendwo in der Provinz an einer Werther nachahmenden Novelle: die Gewitter stehen noch unsichtbar hinter dem Horizont. Aber Schicksalsspiel: gerade mit diesem blassen, nervösen, hemmungslos ehrgeizigen Advokaten de Robespierre freundet sich der tonsurierte Priesterlehrer besonders an; ihre Beziehungen sind sogar gerade auf bestem Wege, schwägerliche zu werden, denn Charlotte Robespierre, die Schwester Maximilians, will den Lehrer der Oratorianer von seiner Geistlichkeit heilen, schon munkelt man von ihrer Verlobung an allen Tischen. Warum diese Brautschaft schließlich auseinanderfällt, ist Geheimnis geblieben, aber vielleicht verbirgt sich hier die Wurzel jenes furchtbaren und welthistorischen Hasses zwischen diesen beiden Männern, den einst befreundeten, die später auf Tod und Leben kämpfen. Damals aber wissen sie noch nichts von Jakobinismus und nichts von Haß. Im Gegenteil sogar: wie Maximilian de Robespierre als Abgeordneter zu den Generalständen nach Versailles geschickt wird, um an der neuen Verfassung Frankreichs mitzuarbeiten, ist es der tonsurierte Joseph Fouché, der dem blutarmen Rechtsanwalt de Robespierre die Goldstücke borgt, damit er die Reise bezahlen und sich einen frischen Anzug schneidern lassen kann. Symbol auch dies, daß er, wie später so oft, einem andern die Steigbügel hält für die Karriere in die Weltgeschichte. Und daß gerade er es sein wird, der im entscheidenden Augenblicke den einstigen Freund verrät und rücklings zu Boden reißt.


Kurz nach der Abreise Robespierres zur Versammlung der Generalstände, die alle Grundfesten Frankreichs erschüttern wird, machen auch die Oratorianer zu Arras ihre kleine Revolution. Die Politik ist bis in die Refektorien gedrungen, und der kluge Witterer jedes Windes, Joseph Fouché, füllt damit seine Segel. Auf seinen Vorschlag wird eine Deputation in die Nationalversammlung geschickt, um die Sympathieen der Priester mit dem dritten Stand zu bekunden. Aber eine Stunde zu früh hat diesmal der sonst so Vorsichtige losgeschlagen. Seine Vorgesetzten schicken ihn strafweise, aber ohne Kraft zu einer wirklichen Strafe, in die Schwesteranstalt nach Nantes, an die gleiche Stelle, wo der Knabe die Anfangsgründe der Wissenschaft und Menschenkunst gelernt hat. Nun aber ist er erfahren und ausgereift, nun lockt es ihn nicht mehr, halbwüchsigen Jungen das Einmaleins, Geometrie und Physik zu lehren. Der Witterer des Windes hat gespürt, daß ein sozialer Sturm über dem Lande steht, daß Politik die Welt beherrscht: also hinein in die Politik! Mit einem Ruck wirft er die Soutane ab, läßt die Tonsur überwachsen und hält statt unreifen Knaben nun den wackern Bürgern von Nantes politische Vorträge. Ein Klub wird gegründet – immer beginnt ja die Karriere der Politiker auf einer solchen Probebühne der Beredsamkeit –, ein paar Wochen nur braucht es, und schon ist Fouché Präsident der »Amis de la Constitution« in Nantes. Er rühmt den Fortschritt, aber sehr vorsichtig, sehr liberalistisch, denn das politische Barometer der biedern Kaufmannstadt steht auf gemäßigt, man mag keinen Radikalismus in Nantes, wo man für seinen Kredit fürchtet und vor allem gute Geschäfte machen will. Man mag dort auch, weil man von den Kolonieen fette Pfründen bezieht, keine so phantastischen Projekte wie die Sklavenbefreiung: deshalb verfaßt Joseph Fouché sofort ein pathetisches Dokument an die Konvention gegen die Aufhebung des Sklavenhandels, das ihm zwar einen groben Rüffel von Brissot einträgt, sein Ansehen aber im engeren Bürgerkreise nicht mindert. Um seine politische Stellung im Bürgerklüngel (den zukünftigen Wählern!) rechtzeitig zu festigen, heiratet er eilig die Tochter eines vermögenden Kaufmanns, ein häßliches, aber wohlbegütertes Mädchen, denn er will rasch und ganz Bürger sein in einer Zeit, wo – er fühlt es schon – der dritte Stand bald der oberste, der herrschende sein wird. All das sind schon Vorbereitungen für das eigentliche Ziel. Kaum wird die Wahl für den Konvent ausgeschrieben, da präsentiert sich der ehemalige Priesterlehrer als Kandidat. Und was tut jeder Kandidat? Er verspricht zunächst seinen guten Wählern alles, was sie nur hören wollen. So schwört Fouché, den Handel zu schützen, das Eigentum zu verteidigen, die Gesetze zu respektieren; er wettert (denn der Wind bläst in Nantes mehr von rechts als von links) bei weitem wortreicher gegen die Unordnungmacher als gegen das alte Regime. Tatsächlich wird er Anno 1792 zum Deputierten des Konvents gewählt, und die dreifarbige Kokarde des Deputierten ersetzt nun für lange die verborgen und still getragene Tonsur.


Joseph Fouché ist zur Zeit seiner Wahl zweiunddreißig Jahre alt. Kein schöner Mann, durchaus nicht. Hagerer, fast gespenstig dürrer Leib, ein schmalknochiges Gesicht mit eckigen Linien, häßlich und unangenehm. Scharf die Nase, scharf und eng auch der immer verschlossene Mund, fischhaft kalt die Augen unter schweren, fast schläfrigen Lidern, die Pupillen katzengrau wie kugeliges Glas. Alles in diesem Gesicht, alles an diesem Manne ist gleichsam dünn mit Lebensstoff dosiert: er sieht aus wie ein Mensch bei Gaslicht, fahl und grünlich. Kein Glanz in den Augen, keine Sinnlichkeit in den Bewegungen, kein Stahl in der Stimme. Dünn und strähnig das Haar, rötlich und kaum sichtbar die Augenbrauen, graufahl die Wangen. Es ist, als wäre nicht genug Farbstoff da, dieses Gesicht ins Gesunde zu tönen: immer wirkt dieser zähe, unerhört arbeitskräftige Mensch wie ein Müder, wie ein Kranker, wie ein Rekonvaleszent. Jeder, der ihn sieht, hat den Eindruck: dieser Mensch hat kein heißes, rotes, rollendes Blut. Und in der Tat: auch seelisch gehört er zur Rasse der Kaltblütler. Er kennt keine groben, mitreißenden Leidenschaften, ist nicht zu Frauen getrieben und nicht zum Spiel, er trinkt keinen Wein, er freut sich nicht an der Verschwendung, er läßt seine Muskeln nicht spielen, er lebt nur in Zimmern zwischen Akten und Papieren. Nie gerät er in sichtbaren Zorn, nie bebt ein Nerv in seinem Gesicht. Nur zu einem kleinen Lächeln, bald höflich und bald höhnisch, kräuseln sich diese scharfen, blutleeren Lippen, nie erkennt man unter dieser lehmgrauen, scheinbar schlaffen Maske eine wirkliche Spannung, nie verrät unter den rotgeränderten schweren Lidern das Auge seine Absicht oder eine Bewegung seine Gedanken. Diese unerschütterliche Kaltblütigkeit ist auch Fouchés eigentliche Kraft. Die Nerven beherrschen ihn nicht, die Sinne verführen ihn nicht, alle seine Leidenschaft lädt und entspannt sich hinter der undurchdringlichen Wand seiner Stirn. Er läßt seine Kräfte spielen und lauert dabei wach auf die Fehler der andern; er läßt die Leidenschaft der andern sich verbrauchen und wartet geduldig, bis sie sich verbraucht haben oder in ihrer Unbeherrschtheit eine Blöße geben: dann erst stößt er unerbittlich zu. Furchtbar ist diese Überlegenheit seiner nervenlosen Geduld: wer so warten kann und so sich verbergen, der kann auch den Geübtesten täuschen. Ruhig wird Fouché dienen, er wird, ohne mit der Wimper zu zucken, die gröbsten Beleidigungen, die schmachvollsten Erniedrigungen kühl lächelnd einstecken, keine Drohung, keine Wut wird diesen Fischblütigen erschüttern. Robespierre und Napoleon, beide zerschellen sie an dieser steinernen Ruhe wie Wasser am Fels: drei Generationen, ein ganzes Geschlecht stürmt und verebbt in Leidenschaft, indes er kalt und stolz beharrt, der einzige Leidenschaftslose. Diese Kälte also des Blutes bedeutet Fouchés eigentliches Genie. Sein Körper hemmt ihn nicht und reißt ihn nicht mit, er ist gleichsam nicht dabei in all diesen verwegenen Geistspielen. Sein Blut, seine Sinne, seine Seele, all diese verwirrenden Gefühlselemente eines wirklichen Menschen tun nie wirklich mit bei diesem heimlichen Hasardeur, dessen ganze Leidenschaft hinaufgeschoben ist ins Gehirn. Denn dieser trockene Schreibstubenmensch liebt lasterhaft das Abenteuer, und seine Passion ist die Intrige. Aber nur vom Geist aus kann er sie erschöpfen und genießen, und nichts verbirgt seine unheimliche Freude an der Wirrnis, an der Zettelei genialer und besser als der nüchterne Habitus des pflichttreuen, biederen Beamten, als den er sich sein Leben lang maskiert. Von einem Zimmer aus die Fäden zu spinnen, hinter Akten und Registern verschanzt, mörderisch zuzustoßen, unerwartet und unbemerkt, das ist seine Taktik. Man muß tief in die Geschichte blicken, um im Feuerschein der Revolution, im legendarischen Licht Napoleons überhaupt seine Gegenwart zu bemerken, die anscheinend bescheidene und subalterne, in Wahrheit aber allgeschäftige und zeitgestaltende. Ein Leben lang geht er im Schatten, aber über drei Generationen hinweg, und Patroklus ist längst gefallen, Hektor und Achill, indes Odysseus lebt, der Listenreiche. Sein Talent überspielt das Genie, seine Kaltblütigkeit überdauert alle Leidenschaft.


Am Morgen des 21. September hält der neugewählte Konvent seinen Einzug in den Saal. Nicht mehr so feierlich, so pompös ist die Begrüßung wie bei der ersten Gesetzgebenden Versammlung vor drei Jahren. Damals stand noch in der Mitte ein kostbarer Damastfauteuil, mit weißen Lilien bestickt, der Platz des Königs. Und als er eintrat, jubelte, respektvoll erhoben, die ganze Versammlung dem Gesalbten zu. Jetzt aber sind seine Zwingburgen, die Bastille und die Tuilerien lahmgelegt, es gibt keinen König mehr in Frankreich; nur ein dicker Herr, Ludwig Capet genannt von seinen groben Gefängniswärtern und Richtern, langweilt sich als machtloser Bürger im Temple und erwartet sein Urteil. Statt seiner herrschen jetzt die Siebenhundertfünfzig im Land, und sie haben sich niedergelassen in seinem eigenen Hause. Hinter dem Präsidententisch erhebt sich in Riesenlettern die neue Mosestafel der Gesetze, der Wortlaut der Konstitution, und die Saalwände schmückt – gefährliches Symbol! – das Bündel der Liktoren und das mörderische Beil.


Auf den Galerieen sammelt sich das Volk und betrachtet neugierig seine Repräsentanten. Siebenhundertfünfzig Konventsmitglieder ziehen langsamen Schrittes ein in das königliche Haus, seltsame Mischung aller Stände und Berufe: stellenlose Advokaten neben illustren Philosophen, entlaufene Priester neben verdienten Militärs, gescheiterte Abenteurer neben berühmten Mathematikern und galanten Dichtern; wie in einem gewaltsam geschüttelten Glas ist in Frankreich durch die Revolution das Unterste zuoberst gekommen. Nun ist es Zeit, das Chaos zu klären.


Schon die Sitzordnung deutet einen ersten Versuch zur Ordnung an. In dem amphitheatralischen Saal, der so eng ist, daß Stirn an Stirn, Atem an Atem feindselige Rede widereinander fährt, sitzen unten in der Tiefe die Ruhigen, die Geklärten, die Vorsichtigen, der »Marais«, der Sumpf, wie man die bei allen Entscheidungen Leidenschaftslosen höhnisch nennt. Die Stürmer, die Ungeduldigen, die Radikalen nehmen oben auf den höchsten Bänken Platz, am »Berge«, der mit seinen letzten Sitzreihen die Galerieen schon berührt, gleichsam symbolisch damit andeutend, daß sie die Masse, daß sie das Volk, das Proletariat im Rücken haben.


Diese beiden Mächte halten sich die Wage. Zwischen ihnen schwankt in Ebbe und Flut die Revolution. Für die Bürgerlichen, für die Gemäßigten ist die Republik bereits vollendet mit der eroberten Verfassung, mit der Erledigung des Königs und des Adels, mit dem Übergang der Rechte an den dritten Stand: sie möchten nun die Strömung, die von unten aufgewühlte, am liebsten wieder eindämmen und zurückhalten, nur noch das Gesicherte verteidigen. Condorcet, Roland, die Girondisten sind ihre Führer, Vertreter der Geistigkeit und des Mittelstandes. Jene vom Berge aber wollen die gewaltige revolutionäre Woge noch weitertreiben, bis sie alles mit sich reißt, was an Bestehendem, an Rückständigkeiten noch übrigblieb; sie wollen, Marat, Danton, Robespierre als Führer des Proletariats, »la revolution integrale«, die restlose, die radikale Revolution bis zum Atheismus und Kommunismus. Sie wollen nach dem König noch die andern alten Mächte des Staates zu Boden werfen, das Geld und Gott. Unruhig schwankt zwischen beiden Parteien die Wage. Siegen die Girondisten, die Gemäßigten, so wird die Revolution allmählich versanden in eine erst liberale, dann konservative Reaktion. Siegen die Radikalen, so treiben sie in alle Tiefen und Wirbelstürme der Anarchie. So täuscht der feierliche Einklang der ersten Stunde keinen der Anwesenden in dem schicksalhaften Saal, jeder weiß, daß hier bald ein Kampf beginnen wird um Leben und Tod, um Geist und Gewalt. Und die Stelle, an der ein Abgeordneter Platz nimmt, ob unten in der Ebene oder oben am Berge, sagt schon im voraus seine Entscheidung.


Mit den Siebenhundertfünfzig, die den Saal des entthronten Königs feierlich beschreiten, tritt auch, die dreifarbige Binde des Volksbeauftragten quer über der Brust, Joseph Fouché, der Deputierte von Nantes, schweigend ein. Schon ist die Tonsur überwachsen, längst das Kleid des Priesters abgetan: er trägt, wie sie alle, schmucklose Bürgertracht.


Wo wird er Platz nehmen, Joseph Fouché? Bei den Radikalen am Berge oder bei den Gemäßigten in der Tiefe? Joseph Fouché zögert nicht lange. Er kennt nur eine Partei, der er treu war und treu bleibt bis ans Ende: die stärkere, die Majorität. So wägt und zählt er auch diesmal innerlich die Stimmen und sieht: zur Stunde steht die Macht noch bei den Girondisten, bei den Gemäßigten. Also setzt er sich hin auf ihre Bänke, zu Condorcet, zu Roland, zu Servan, zu den Männern, die die Ministerien in der Hand halten, die alle Ernennungen beeinflussen und die Pfründen verteilen. Dort in ihrer Mitte fühlt er sich sicher, dort setzt er sich hin. Aber wie er die Augen zufällig nach oben hebt, wo die Gegner, die Radikalen, ihre Stellungen bezogen haben, begegnet er einem strengen, abweisenden Blick. Sein Freund, Maximilian Robespierre, der Advokat von Arras, hat dort seine Kämpfer um sich versammelt, und durch das gehobene Lorgnon sieht der Unbarmherzige, der, eitel auf seinen eigenen Starrsinn, keinem andern Schwanken oder Schwäche verzeiht, kalt und höhnisch auf den Opportunisten herab. In diesem Augenblick ist das Letzte ihrer Freundschaft zu Ende. Von nun ab spürt, bei jeder Geste und jeder Handlung, Fouché im Rücken diesen unbarmherzig prüfenden, streng beobachtenden Blick des ewigen Anklägers, des unerbittlichen Puritaners und weiß: er muß vorsichtig sein.


Vorsichtig: Kaum einer ist es mehr als er. In den Sitzungsberichten der ersten Monate vermißt man vollkommen den Namen Joseph Fouchés. Indes alle ungestüm und eitel zur Rednertribüne sich drängen, Vorschläge machen, Tiraden halten, einander anklagen und befeinden, betritt der Deputierte von Nantes niemals das erhobene Pult. Schwäche der Stimme, so entschuldigt er sich bei seinen Freunden und Wählern, behindern ihn an der öffentlichen Rede. Und da alle die andern gierig und ungeduldig sich das Wort vom Munde reißen, fällt das Schweigen dieses scheinbar Bescheidenen nur sympathisch auf.


Aber in Wahrheit ist seine Bescheidenheit Berechnung. Der Exphysiker kalkuliert erst das Parallelogramm der Kräfte, er beobachtet, er zögert mit seiner Stellungnahme, weil er die Wage noch ständig schwanken sieht. Vorsichtig spart er sein entscheidendes Votum erst für den Augenblick, da sie sich endgültig auf die eine oder andere Seite zu senken beginnt. Nur nicht zu früh sich verbrauchen, nur nicht vorzeitig sich festlegen, nur sich nicht binden für immer! Denn noch ist es nicht entschieden, ob die Revolution fortschreiten wird oder zurückebben: als rechter Seemannssohn wartet er, um auf den Rücken der Welle zu springen, erst auf den rechten Wind und hält sein Fahrzeug im Hafen.


Und dann: schon von Arras her, noch hinter Klostermauern hat er beobachtet, wie rasch in einer Revolution die Popularität sich verbraucht, wie rasch der Volksruf vom »Hosianna« in das »Crucifige« überschlägt. Alle, oder fast alle, die während der Epoche der Generalstände und der Gesetzgebenden Versammlung in den Vordergrund getreten waren, sind heute vergessen oder verhaßt. Mirabeaus Leichnam, gestern noch im Pantheon, ist heute schmählich daraus entfernt worden; Lafayette, vor wenigen Wochen noch im Triumph als Vater des Vaterlandes gefeiert, heute schon Verräter; Custine, Petion, vor wenigen Wochen noch umjubelt, schleichen sich bereits ängstlich in den Schatten der Öffentlichkeit hinein. Nein, nur nicht zu früh ans Licht, nur nicht zu rasch sich festlegen, erst die andern sich abnutzen, sich verbrauchen lassen! Eine Revolution, er weiß es, der Früherfahrene, gehört niemals dem Ersten, der sie beginnt, sondern immer dem Letzten, der sie endet und wie eine Beute an sich reißt.


So duckt sich der Kluge absichtsvoll ins Dunkel. Er nähert sich den Mächtigen, aber er vermeidet jede öffentliche, jede sichtbare Macht. Statt auf der Tribüne, in den Zeitungen zu lärmen, läßt er sich lieber in die Ausschüsse und Kommissionen wählen, wo man Einsicht in die Verhältnisse, Einfluß auf die Geschehnisse im Schatten gewinnt, ohne kontrolliert und gehaßt zu werden. Und tatsächlich, seine zähe, seine rapide Arbeitskraft macht ihn beliebt, seine Unsichtbarkeit schützt ihn vor jedem Neid. Aus seinem Arbeitszimmer kann er unbehelligt abwartend zusehen, wie die Tiger vom Berge und die Panther der Gironde sich gegenseitig zerfleischen, wie die großen Leidenschaftlichen, wie die überragenden Gestalten eines Vergniaud, Condorcet, Desmoulins, Danton, Marat und Robespierre einander tödlich verwunden. Er sieht zu und wartet, denn er weiß: erst wenn die Leidenschaftlichen sich gegenseitig vernichtet haben, beginnt die Zeit für die Abwartenden und für die Klugen. Immer erst, wenn eine Schlacht entschieden ist, wird sich Fouche endgültig entscheiden.


Dieses Im-Dunkel-Stehen ist Joseph Fouches Haltung ein Leben lang: Niemals sichtbarer Träger der Macht zu sein und doch sie gänzlich zu halten, alle Fäden zu ziehen und niemals als verantwortlich zu gelten. Immer sich hinter einen Ersten stellen, sich hinter ihm zu verschanzen, ihn vorwärts zu treiben und, sobald er zu weit sich vorgewagt, im entscheidenden Augenblick ihn glatt zu verleugnen, das bleibt seine liebste Rolle. Er spielt sie, der vollendetste Intrigant der politischen Bühne, in zwanzig Verkleidungen, in zahllosen Episoden, unter Republikanern, Königen und Kaisern mit gleicher Virtuosität.


Manchmal tritt die Gelegenheit und damit die Versuchung an ihn heran, selbst die Hauptrolle, die Titelrolle im Weltspiel zu übernehmen. Aber er ist zu klug, sie ernstlich zu begehren. Er weiß um sein häßliches, abstoßendes Gesicht, das sich durchaus nicht eignen will für Medaillen und Embleme, für Prunk und Popularität, und dem kein Lorbeerkranz um die Stirne etwas Heldisches zu geben vermöchte. Er weiß um seine dünne gebrechliche Stimme, die gut flüstern, einblasen und verdächtigen, niemals aber eine Masse in feuriger Beredsamkeit mitreißen kann. Er weiß sich am stärksten am Schreibtisch, im verschlossenen Zimmer, im Schatten. Dort kann er gut spähen und forschen, beobachten und bereden, Fäden ziehen und sie wieder verwirren und selber undurchdringlich und unfaßbar bleiben.


Das ist das letzte Machtgeheimnis Joseph Fouchés, daß er zwar immer die Macht will, ja sogar das Höchste an Macht, daß ihm aber, im Gegensatz zu den meisten, das Bewußtsein der Macht selbst genügt: er braucht nicht ihre Abzeichen und ihr Gewand. Fouché ist ehrgeizig im höchsten, im allerhöchsten Maße, aber nicht ruhmsüchtig; er ist ambitioniert, ohne eitel zu sein. Als echter und rechter Geistspieler liebt er nur die Spannungswerte des Herrschertums, nicht seine Insignien. Den Liktorenstab, das Königszepter, die Kaiserkrone mag beruhigt ein anderer tragen, ob stark oder Strohmann, das ist ihm gleichgültig, er gönnt ihm gern den Glanz und das zweifelhafte Glück der Volksbeliebtheit. Ihm genügt es, in die Dinge Einblick zu haben, auf die Menschen Einfluß, den scheinbaren Führer der Welt wirklich zu führen und, ohne seine Person einzusetzen, das aufregendste aller Spiele zu spielen, das ungeheure politische Spiel. Während derart die andern sich binden an ihre Überzeugungen, an ihre öffentlichen Worte und Gesten, bleibt er, der Lichtscheue und Verborgene, innerlich frei und wird so der beharrende Pol in der Erscheinungen Flucht. Die Girondisten stürzen, Fouché bleibt, die Jakobiner werden verjagt, Fouché bleibt, das Direktorium, das Konsulat, das Kaiserreich, das Königtum und wieder das Kaiserreich schwinden und gehen zugrunde: immer aber bleibt er zurück, der eine, Fouché, dank seiner raffinierten Zurückhaltung und dank seinem verwegenen Mut zur restlosen Charakterlosigkeit, zur unentwegten Überzeugungslosigkeit.


Aber ein Tag kommt im Weltengang der Revolution, ein einziger, der kein Schwanken duldet, ein Tag, da jeder mit ja oder nein, mit grad oder ungrad sein Votum abgeben muß, der 16. Januar 1793. Der Uhrzeiger der Revolution steht auf Mittag, der halbe Weg ist vollbracht, dem Königtum Zoll um Zoll seiner Macht entwunden. Aber noch lebt der König Ludwig XVI., zwar Gefangener im Temple, aber er lebt. Weder ist es gelungen (wie die Gemäßigten hofften), ihn flüchten zu lassen, noch ist es gelungen (wie die Radikalen heimlich wünschten), ihn bei jenem Palaststurm durch die Volkswut umkommen zu lassen. Man hat ihn erniedrigt, ihm die Freiheit genommen, seinen Namen und Rang; aber noch durch seinen bloßen Atem, durch sein ererbtes Blut ist ein König, ein Enkel Ludwigs des Vierzehnten, auch wenn man ihn jetzt nur noch verächtlich Louis Capet nennt, noch immer Gefahr für eine junge Republik. So stellt nach der Verurteilung der Konvent am 15. Januar die Frage nach der Bestrafung, die Frage: Leben oder Tod. Vergebens haben die Unentschiedenen, die Feigen, die Vorsichtigen, haben die Leute vom Schlage Joseph Fouchés gehofft, sie könnten einer öffentlichen und bindenden Stellungnahme durch geheime Stimmabgabe entweichen: aber unbarmherzig besteht Robespierre darauf, daß jeder Repräsentant der französischen Nation sein Ja oder Nein, sein Leben oder Tod inmitten der Versammlung ausspreche, damit von jedem das Volk und die Nachwelt wisse, wohin er gehört, ob zur Rechten oder zur Linken, ob zur Ebbe oder zur Flut der Revolution. Fouchés Einstellung ist noch am 15. Januar völlig klar. Die Zugehörigkeit zu den Girondisten, der Wunsch seiner durchaus gemäßigten Wähler verpflichtet ihn, für den König Gnade zu fordern. Er fragt seine Freunde, Condorcetvor allem, und sieht, daß sie einhellig geneigt sind, einer so unwiderruflichen Maßregel, wie der Hinrichtung des Königs, auszuweichen. Und da die Majorität grundsätzlich gegen das Todesurteil steht, tritt Fouché selbstverständlich auf ihre Seite: noch am Abend zuvor, am 15. Januar, liest er einem Freunde die Rede vor, die er bei diesem Anlaß halten und mit der er seinen Wunsch nach Gnade begründen will. Wenn man sich auf die Bänke der Gemäßigten gesetzt hat, ist man zu Mäßigung verpflichtet, und da die Majorität sich gegen jeden Radikalismus wehrt, verabscheut ihn auch der von Überzeugungen nicht belastete Joseph Fouché.


Aber zwischen jenem Abend des 15. Januar und dem Morgen des 16. liegt eine unruhige und bewegte Nacht. Die Radikalen sind nicht müßig gewesen, sie haben die mächtige Maschine der Volksrevolte, die sie so vorzüglich zu meistern wissen, in Bewegung gesetzt. In den Vorstädten donnert die Lärmkanone, die Sektionen trommeln breite Massen herbei, alle die ungeordneten Bataillone des Aufruhrs, die immer von den unsichtbar bleibenden Terroristen herangeholt werden, um politische Entscheidungen gewaltsam zu erzwingen, und die ein Fingerdruck des Braumeisters Santerre innerhalb weniger Stunden in Bewegung setzt. Man kennt sie, diese Bataillone der Vorstadtagitatoren, der Fischweiber und Abenteurer, von der glorreichen Erstürmung der Bastille her, man kennt sie von der erbärmlichen Stunde der Septembermorde. Immer wenn es gilt, den Damm des Gesetzes zu durchbrechen, wird diese riesige Volkswoge gewaltsam aufgewühlt, und immer reißt sie alles unwiderstehlich mit sich fort, zuletzt diejenigen, die sie aus ihrer eigenen Tiefe hervorgeholt. Gedrängte Massen umlagern mittags schon die Reitschule und die Tuilerien, Männer in Hemdärmeln, nackt die Brust, drohend die Piken zur Hand, höhnende, schreiende Weiber mit brennendroten Carmagnolen, Bürgergardisten und Straßenvolk. Zwischen ihnen vervielfältigen sich die Anstifter des Aufruhrs: Fourier, der Amerikaner, Guzmann, der Spanier, Theroigne de Mericour, diese hysterische Karikatur einer Jeanne d’Arc. Kommen Abgeordnete vorbei, die verdächtig sind, für Milde zu stimmen, so schüttet sich wie aus Schmutzkübeln eine Flut Schimpfwörter über sie hin, Fäuste werden gehoben, Drohungen geschleudert gegen die Volksvertreter: mit allen Mitteln des Terrors und der brutalen Gewalt arbeiten die Einschüchterer, um den Kopf des Königs unter das Beil zu bekommen. Und diese Einschüchterung wirkt auf alle schwachen Seelen. Scheu sitzen die Girondisten im Flackerlicht der Kerzen an diesem grauen, frühen Winterabend beisammen. Die gestern noch entschlossen waren, gegen den Tod des Königs zu stimmen, um den Krieg bis aufs Messer mit ganz Europa zu vermeiden, sie sind größtenteils unter dem ungeheuren Druck des Volksaufruhrs unruhig und uneinig geworden. Endlich, es ist schon spät abends, erfolgt der Namensaufruf, und einer der ersten trifft ironischerweise gerade den Führer der Girondisten, Vergniaud, den sonst so südländischen Redner, dessen Stimme immer wie ein Hammer auf das schwingende Holz der Wände schmettert. Jetzt aber fürchtet er, als Führer der Republik nicht mehr genug republikanisch zu erscheinen, wenn er dem König das Leben läßt. So tritt er, der sonst Wilde und Stürmische, langsam, schwer, das große Haupt beschämt niedergesenkt, auf die Tribüne und sagt leise »La mort«, der Tod.


Das Wort tönt wie eine Stimmgabel durch den Saal. Der erste der Girondisten hat versagt. Die meisten andern bleiben fest, dreihundert unter siebenhundert Stimmen sind für Gnade, obwohl sie wissen, daß jetzt eine politische Mäßigung tausendmal mehr Kühnheit erfordert als scheinbare Entschlossenheit. Lange schwankt die Wage: ein paar Stimmen können entscheiden. Endlich wird der Deputierte Joseph Fouché de Nantes vorgerufen, derselbe, der noch gestern zuverlässig den Freunden versicherte, er werde mit hinreißender Rede das Leben des Königs verteidigen, der vor zehn Stunden noch den Entschlossensten aller Entschlossenen gespielt. Aber inzwischen hat der ehemalige Mathematiklehrer, der gute Rechner Fouché die Stimmen gezählt und gesehen, daß er damit zur falschen Partei käme, zur einzigen, zu der er sich nie bekennen wird: zur Minorität. So steigt er mit seinen lautlosen Schritten hastig die Tribüne empor, und von seinen blassen Lippen flüchten leise die beiden Worte »La mort«, der Tod.


Der Herzog von Otranto wird später hunderttausend Worte sprechen und schreiben, um diese beiden Worte, die ihn, Joseph Fouché, zum »Régicide«, zum Königsmörder stempeln, als Irrtum zu entschuldigen. Aber diese beiden Worte sind öffentlich gesagt und vermerkt im »Moniteur«, sie sind nicht auszustreichen aus der Geschichte und denkwürdig auch in der persönlichen Geschichte seines Lebens. Denn sie sind Joseph Fouchés erster öffentlicher Umfall. Er ist Condorcet und Daunou, seinen Freunden, heimtückisch in den Rücken gefallen, er hat sie genarrt und betrogen. Aber sie brauchen sich dessen vor der Geschichte nicht zu schämen, denn noch andere, noch Stärkere, Robespierre und Carnot, Lafayette, Barras und Napoleon, die Mächtigsten ihrer Zeit, werden dieses Schicksal teilen und gleichfalls in der Stunde der Ungunst von ihm überspielt werden.


In dieser Minute aber enthüllt sich zum erstenmal in Joseph Fouchés Charakter auch noch ein anderer und sehr ausgeprägter Wesenszug: seine Frechstirnigkeit. Wenn er verräterisch eine Partei verläßt, so geschieht dies niemals langsam und vorsichtig, er schlängelt sich nicht drückerisch heimlich aus Reih und Glied. Sondern am hellichten Tag, kalt lächelnd, mit einer verblüffenden und niederschmetternden Selbstverständlichkeit geht er geradeswegs zum bisherigen Gegner über und übernimmt all dessen Worte und Argumente. Was die einstigen Parteifreunde von ihm meinen und reden, was die Menge, die Öffentlichkeit denkt, läßt ihn vollständig kalt. Wichtig bleibt ihm nur eins, immer beim Sieger, niemals bei den Besiegten zu sein. In der Blitzartigkeit dieser Umkehr, im maßlosen Zynismus seiner Charakterumstellung bewährt er ein Maß Frechheit, das unwillkürlich betäubt und zur Bewunderung zwingt. Ihm genügen vierundzwanzig Stunden, oft nur eine Stunde, oft nur eine Minute, um blank die Fahne seiner Überzeugung wegzuwerfen und eine andere rauschend zu entrollen. Er geht nicht mit einer Idee, sondern geht mit der Zeit, und je rascher sie rennt, desto geschwinder wird er ihr nachlaufen. Er weiß, seine Wähler zu Nantes werden empört sein, wenn sie morgen im »Moniteur« sein Votum lesen. So gilt es, sie zu überrennen, statt zu überzeugen. Und mit jener blitzhaften Kühnheit, mit jener Frechstirnigkeit, die in solchen Sekunden ihm beinahe einen Schein von Größe gibt, wartet er diese Empörung gar nicht ab, sondern kommt dem Angriff durch eine Attacke zuvor. Einen Tag schon nach der Abstimmung läßt Fouché ein Manifest drucken, in dem er donnernd als innerste Überzeugung proklamiert, was in Wahrheit ihm die Furcht vor parlamentarischer Mißgunst eingegeben: er will seinen Wählern nicht Zeit lassen, zu denken und nachzurechnen, sondern mit rasch zustoßender Brutalität sie terrorisieren und einschüchtern.


Marat und die hitzigsten Jakobiner können nicht blutrünstiger schreiben, als dieser gestern noch Gemäßigte an seine bravbürgerlichen Wähler: »Die Verbrechen des Tyrannen sind sichtbar geworden und haben alle Herzen mit Empörung erfüllt. Wenn sein Kopf nicht sofort unter dem Schwerte fällt, dürfen alle Räuber und Mörder erhobenen Hauptes dahingehen, und das furchtbarste Chaos würde uns bedrohen. Die Zeit ist für uns und gegen alle Könige der Erde.« So proklamiert derselbe die Hinrichtung als unumgängliche Notwendigkeit, der am Tag zuvor noch ein wahrscheinlich ebenso überzeugtes Manifest gegen die Hinrichtung in der Rocktasche bereit hielt.


Und tatsächlich, der kluge Rechner hat richtig kalkuliert. Selber Opportunist, kennt er die unwiderstehliche Fallkraft der Feigheit; er weiß, daß in allen politischen Massenaugenblicken Kühnheit der entscheidende Nenner aller Berechnung ist. Er behält recht: die braven konservativen Bürger ducken sich ängstlich vor diesem frechen, unvermuteten Manifest; verwirrt und verlegen beeilen sie sich, ihre Zustimmung zu einer Entscheidung zu geben, der sie innerlich auch nicht im entferntesten zustimmen. Keiner wagt zu widersprechen. Und seit jenem Tage hat Joseph Fouché den harten und kalten Hebel in der Hand, mit dem er die schwersten Krisen bewältigt: die Verachtung der Menschen.


Von diesem Tage an, vom 16. Januar, wählt (bis auf weiteres) das Charakterchamäleon Joseph Fouché die rote Farbe, der Gemäßigte wird über Nacht Erzradikaler und Ultraterrorist. Mit einem Sprung ist er hinüber zu seinen Gegnern, und innerhalb der einstigen Gegner reiht er sich sofort auf den äußersten, den linksten, den radikalsten Flügel. Mit einer unheimlichen Geschwindigkeit redet sich dieser kalte Geist, dieser nüchterne Schreibstubenmensch, um nur ja hinter den andern nicht zurückzubleiben, in den blutrünstigen Jargon der Terroristen hinein. Er stellt scharfe Anträge gegen die Emigrierten, gegen die Priester; er hetzt, er donnert, er tobt, er massakriert mit Worten und Gesten. Eigentlich könnte er jetzt wieder Freundschaft schließen mit Robespierre und sich an dessen Seite setzen. Aber dieser unbestechliche, dieser protestantisch harte Gewissensmensch liebt die Renegaten nicht; doppelt mißtrauisch wendet er sich von dem Überläufer ab, dessen lärmender Radikalismus ihm noch verdächtiger erscheint als seine frühere Lauheit.


Fouché spürt mit seinem geschärften atmosphärischen Sinn die Gefahr solcher Überwachung, er sieht kritische Tage heranziehen. Noch hängt ein Gewitter über der Versammlung, schon zeichnen sich die tragischen Kämpfe zwischen den Führern der Revolution, zwischen Danton und Robespierre, zwischen Hébert und Desmoulins am politischen Horizonte ab; man müßte sich innerhalb des Radikalismus abermals entscheiden, und Fouché liebt nicht, sich festzulegen, ehe das Bekenntnis gefahrlos und einträglich wird. Er weiß, daß es Situationen in schicksalshaften Zeiten gibt, die ein Diplomat am klügsten bemeistert, indem er ihnen ausweicht. So zieht er es vor, die politische Arena des Konvents während des Kampfes zu verlassen und sie erst wieder zu betreten, wenn das Ringen entschieden ist. Für solchen Rückzug gibt es jetzt glücklicherweise einen ehrenvollen Vorwand, denn der Konvent wählt zweihundert Delegierte aus seiner Mitte, damit sie in den Landbezirken die Ordnung aufrecht erhalten. Fouché, der sich in der vulkanischen Atmosphäre des Sitzungssaales nicht wohl fühlt, bemüht sich sofort darum, weggeschickt zu werden, und er wird gewählt. Eine Atempause ist ihm gegönnt. Mögen sie inzwischen miteinander kämpfen und einer den anderen erledigen, mögen sie Raum schaffen, die Leidenschaftlichen, für den Ehrgeizigen! Nur jetzt nicht dabei sein, nicht Partei ergreifen zwischen den Parteien! Ein paar Monate, ein paar Wochen sind viel für jene Zeit, da die Weltuhr rasend rennt. Wird er wiederkehren, so ist die Entscheidung schon gefallen, und er kann dann geruhig und gefahrlos an die Seite des Siegers treten, zu seiner ewigen Partei: zur Majorität.


Die Geschichte der Provinz wird im allgemeinen wenig beachtet in der Französischen Revolution. Alle Darstellungen starren gleichsam auf das Zifferblatt von Paris, wo einzig der Gang der Stunde sichtbar wird. Aber das Pendelgewicht, das ihren Gang regelt, ruht im Lande und bei den Armeen. Paris ist nur das Wort, die Initiative, der Antrieb, – das riesige Land aber die Tat und die entscheidend fortwirkende Kraft. Rechtzeitig hat der Konvent erkannt, daß das Tempo der Revolution in der Stadt und jenes auf dem Lande nicht recht zusammenstimmen: die Menschen im Dorfe, in den Weilern und Gebirgen denken nicht so schnell wie die der Hauptstadt, sie saugen viel langsamer und vorsichtiger die Ideen in sich auf und verarbeiten sie in ihrem eigenen Sinn. Was im Konvent in einer Stunde Gesetz wird, sickert nur langsam und tropfenweise hinein in das flache Land, meist schon verfälscht und verwässert von den royalistischen Provinzbeamten und der Geistlichkeit, den Menschen der alten Ordnung. Immer sind darum die Landbezirke um eine Weltstunde hinter Paris zurück. Herrschen im Konvent die Girondisten, so wählt das Land noch königstreu; triumphieren die Jakobiner, so nähert sich das Land erst geistig der Gironde. Vergebens dagegen alle pathetischen Dekrete, denn nur langsam und zaghaft bricht damals das gedruckte Wort sich Bahn bis in die Auvergne und die Vendee.


So beschließt der Konvent, das lebende Wort in tätiger Gestalt in die Provinz zu schicken, um den Rhythmus der Revolution in ganz Frankreich zu beleben, dem zögernden und beinahe gegenrevolutionären Tempo der Landbezirke Schach zu bieten. Er wählt aus seiner eigenen Mitte zweihundert Abgeordnete, die seinen Willen vertreten sollen, und gibt ihnen fast unbeschränkte Gewalt. Wer die dreifarbige Schärpe und den roten Federhut trägt, hat diktatorische Rechte. Er kann Steuern einheben, Urteile fällen, Rekruten fordern, Generale absetzen: keine Behörde darf sich ihm widersetzen, der in seiner geheiligten Person symbolisch den Willen des ganzen Nationalkonvents darstellt. Seine Macht ist unbegrenzt wie einst die der Prokonsuln Roms, die in alle unterjochten Länder den Willen des Senats brachten; jeder ein Diktator, ein selbstherrlicher Gebieter, gegen dessen Entscheidung kein Appell gilt und keine Beschwerde.


Ungeheuer ist die Macht dieser erlesenen Gesandten, aber ungeheuer auch ihre Verantwortung. Innerhalb ihres zugeteilten Reiches scheinen sie jeder ein König, ein Kaiser, ein unbeschränkter Autokrat. Aber hinter eines jeden Nacken glitzert die Guillotine, denn der Wohlfahrtsausschuß überwacht jede Beschwerde und fordert von jedem über seine Geldgebarung unbarmherzig genaue Rechenschaft. Wer nicht hart genug sich gezeigt, gegen den wird man hart sein; wer wiederum zu tollwütig sich gebärdet, hat gleichfalls Rache zu erwarten. Geht die Richtung dem Terror zu, so waren terroristische Maßnahmen die richtigen; neigt sich die Wage zur Milde, so sind sie ein Fehler gewesen. Scheinbar Herren eines ganzen Landes, sind sie doch alle Knechte des Wohlfahrtsausschusses, Untertan der Strömung der Stunde: darum schielen und horchen sie auch so unablässig zurück nach Paris, um, während sie über Tod und Leben schalten, ihres eigenen gewiß zu sein. Es ist kein leichtes Amt, das sie übernehmen. Genau wie die Generale der Revolution vor dem Feind, weiß ein jeder von ihnen, daß nur eins sie vor der blanken Klinge rettet und entschuldigt: der Erfolg.


Die Stunde, da Fouché als Prokonsul abgesandt wird, gehört den Radikalen. So gebärdet sich Fouché in seinem Departement der Loire inférieure, in Nantes und Nevers und Moulins, wütend radikal. Er wettert gegen die Gemäßigten, er überschüttet das Land mit einem Schnellfeuer von Kundmachungen, er bedroht die Reichen, die Zaghaften, die Halbschlächtigen in der grimmigsten Weise, er holt ganze Regimenter Freiwilliger mit moralischem und wirklichem Zwang aus den Dörfern heraus und schickt sie gegen den Feind. An Organisationskraft, an geschwinder Erfassung der Situation ist er jedem anderen seiner Gefährten zumindest gleich, an Verwegenheit des Wortes ihnen allen überlegen. Denn – dies eine muß festgehalten werden – Joseph Fouché bleibt nicht wie die berühmten Vorkämpfer der Revolution, Robespierre und Danton, vorsichtig in der Frage der Kirche und des Privateigentums, das jene respektvoll noch als »unverletzlich« erklärten, sondern stellt entschlossen ein radikalsozialistisches und bolschewistisches Programm auf. Das erste klare kommunistische Manifest der Neuzeit ist in Wahrheit nicht jenes berühmte von Karl Marx, nicht der »Hessische Landbote« von Georg Büchner, sondern jene sehr unbekannte von der sozialistischen Geschichtsschreibung geflissentlich übersehene »Instruction« in Lyon, die zwar von Collot d’Herbois und Fouché gemeinsam gezeichnet, aber zweifellos von Fouché allein verfaßt ist. Dieses energische, der Zeit in seinen Forderungen um hundert Jahre vorausbegehrende Dokument – eins der erstaunlichsten der Revolution – ist wohl wert, aus dem Dunkel herausgeholt zu werden; mag seine historische Geltung auch an Wert verlieren, dadurch, daß der spätere Herzog von Otranto dann verzweifelt verleugnete, was er einstmals als bloßer Bürger Joseph Fouché gefordert hat – immerhin, rein zeitgemäß betrachtet, stempelt ihn dies sein damaliges Glaubensbekenntnis zum ersten klaren Sozialisten und Kommunisten der Revolution. Nicht Marat, nicht Chaumette haben die kühnsten Forderungen der Französischen Revolution formuliert, sondern Joseph Fouché, und heller und greller als jede Beschreibung erleuchtet der Originaltext sein sonst immer ins Zwielicht flüchtendes Charakterbild.


Diese »Instruction« beginnt kühn mit einer Unfehlbarkeitserklärung aller Verwegenheiten: »Alles ist denen verstattet, die im Sinne der Revolution handeln. Für den Republikaner gibt es keine Gefahr, als hinter den Gesetzen der Republik zurückzubleiben. Wer sie überschreitet, wer auch scheinbar über das Ziel hinausschießt, ist oft noch immer nicht am richtigen Ende angelangt. Solange es noch einen einzigen Unglücklichen auf Erden gibt, muß die Freiheit noch weiter und weiter fortschreiten.«


Nach diesem energischen, gewissermaßen schon maximalistischen Vorklang definiert Fouché den revolutionären Geist folgendermaßen: »Die Revolution ist für das Volk gemacht: aber man verstehe darunter nicht jene durch ihren Reichtum privilegierte Klasse, welche alle Genüsse des Lebens und alle Güter der Gesellschaft an sich gerissen hat. Das Volk ist einzig die Gesamtheit der französischen Bürger und vor allem jene unendliche Klasse der Armen, die die Grenzen unseres Vaterlandes verteidigen und die Gesellschaft durch ihre Arbeit ernähren. Die Revolution wäre ein politisches und moralisches Unwesen, wollte sie sich nur um das Wohlergehen von ein paar hundert Individuen bekümmern und das Elend von vierundzwanzig Millionen fortdauern lassen. Sie wäre darum eine beleidigende Täuschung der Menschheit, wollte man immer im Namen der Gleichheit reden, während noch solche ungeheure Unterschiede im Wohlergehen den Menschen vom Menschen trennen.« Nach diesen einleitenden Worten führt Fouché seine Lieblingstheorie aus, daß der Reiche, der »mauvais riche«, niemals ein rechter Revolutionär, niemals ein rechter und aufrichtiger Republikaner sein könne, daß also jede bloß bürgerliche Revolution, die alle Vermögensunterschiede weiter bestehen ließe, unvermeidlich wieder zu einer neuen Tyrannei ausarten müsse, »denn die Reichen würden immer sich als eine andere Art Menschen betrachten«. Darum fordert Fouché von dem Volk die äußerste Energie und die vollkommene, die »integrale« Revolution. »Täuscht euch nicht: um wahrhaft Republikaner zu sein, muß jeder Bürger in sich selbst eine Revolution durchmachen, ähnlich wie jene, die das Antlitz Frankreichs geändert hat. Es darf nichts Gemeinsames zurückbleiben zwischen den Untertanen der Tyrannen und den Bewohnern eines freien Landes. Alle ihre Handlungen, ihre Gefühle, ihre Gewohnheiten müssen darum vollkommen neuartig sein. Ihr seid unterdrückt, darum sollt ihr eure Unterdrücker zerschmettern, ihr seid Sklaven des kirchlichen Aberglaubens gewesen, nun dürft ihr keinen anderen Kult mehr haben als den der Freiheit… Jedermann, dem dieser Enthusiasmus fremd bleibt, der andere Freuden und andere Sorgen kennt als das Glück des Volkes, der seine Seele den kalten Interessen öffnet, der rechnet, was ihm seine Ehre, seine Stellung, sein Talent einbringen, und sich so für einen Augenblick von der allgemeinen Nützlichkeit ablöst, jeder, dessen Blut nicht kocht beim Namen der Unterdrückung und des Überflusses, jeder, der Mitleidstränen hat für einen Feind des Volkes und nicht seine ganze Empfindungskraft für die Märtyrer der Freiheit allein zurückbehält, jeder von diesen lügt, falls er sich Republikaner zu nennen wagt. Sie mögen unser Land verlassen, sonst werden sie erkannt werden, und ihr unreines Blut wird den Boden der Freiheit tränken. Die Republik will in ihrem Kreis nur freie Menschen, sie ist entschlossen, alle anderen auszurotten, und sie erkennt nur jene als ihre Kinder, die für sie leben, kämpfen und sterben wollen.« In dem dritten Absatz dieser »Instruction« wird das revolutionäre Bekenntnis dann nackt und unverhohlen zum kommunistischen Manifest (dem ersten deutlichen von 1793): »Jeder Mann, der mehr als das Nötige besitzt, muß zu dieser außerordentlichen Hilfeleistung herangezogen werden, und diese Taxe muß im Verhältnis stehen zu den großen Anforderungen des Vaterlandes: so müßt ihr zunächst in einer großzügigen und wirklich revolutionären Weise feststellen, wieviel jeder einzelne für die öffentliche Sache zu erlegen hat. Es handelt sich da nicht um eine mathematische Feststellung und auch nicht um die ängstliche zögernde Methode, die man sonst bei der Ausschreibung der öffentlichen Besteuerung anwendet: diese besondere Maßnahme muß den Charakter der Umstände tragen. Handelt also großzügig und kühn, nehmt jedem Bürger alles weg, was er nicht nötig braucht, denn alles Überflüssige (le superflu) ist eine offenkundige Verletzung der Volksrechte. Denn was ein einzelner über seine Bedürfnisse hat, kann er nicht anders brauchen, als indem er es mißbraucht. So laßt ihm nichts als das unbedingt Nötige, der ganze Rest gehört während des Krieges der Republik und ihren Armeen.«


Ausdrücklich betont Fouché in diesem Manifest, daß man sich nicht mit dem Geld allein begnügen müsse. »Alle Gegenstände«, fährt er fort, »deren sie im Überfluß haben und die den Verteidigern des Vaterlandes nützlich sein können, verlangt jetzt das Vaterland. So gibt es Leute, die unglaublichen Überfluß an Leinen und Hemden, an Tüchern und Stiefeln haben. Alle diese Objekte müssen Gegenstand der revolutionären Aufbringungen sein.« Ebenso fordert er glatt die Auslieferung alles Goldes und Silbers, »métaux vils et corrupteurs«, die der wahre Republikaner verachtet, an den nationalen Schatz, damit sie dort »das Bildnis der Republik aufgeprägt erhalten und, durch das Feuer gereinigt, nur der Allgemeinheit nützlich dienen. – Wir brauchen nur Stahl und Eisen, und die Republik wird triumphieren.« Die ganze Aufforderung schließt dann mit einem furchtbaren Appell zur Rücksichtslosigkeit. »Wir werden mit aller Strenge die Autorität verwalten, die uns übertragen ist, wir werden als böswillige Absicht bestrafen alles, was unter anderen Umständen vielleicht Lässigkeit, Schwäche und Langsamkeit genannt wird. Aber die Zeit der halben Maßnahmen und der Rücksichten ist vorbei. Helft uns kräftige Schläge tun, oder sie werden auf euch selber fallen. Die Freiheit oder der Tod! – Ihr habt die Wahl.«


Dieses theoretische Schriftstück läßt schon die Praxis Joseph Fouchés als Prokonsul ahnen. In dem Departement der Loire inférieure, in Nantes, Nevers und Moulins, wagt er den Kampf gegen die stärksten Mächte Frankreichs, vor denen selbst Robespierre und Danton vorsichtig zurückgeschreckt waren: gegen das Privateigentum und gegen die Kirche. Er handelt rasch und entschieden in diesem Sinn der »Égalisation des fortunes« durch die Erfindung der sogenannten »philanthropischen Komitees«, denen die Vermögenden angeblich nach freiem Gutdünken Geschenke zuzuweisen haben. Aber um nicht undeutlich zu scheinen, fügt er schon von vornherein die sanfte Mahnung bei, daß, »wenn der Reiche von seinem Rechte, das Regime der Freiheit liebenswert zu machen«, keinen Gebrauch mache, »die Republik ein Recht hätte, sich seines Vermögens zu bemächtigen«. Er duldet keinen Überfluß und schränkt diesen Begriff des »superflu« energisch ein. »Der Republikaner braucht nichts als Eisen, Brot und vierzig Écus Einkommen.« Fouché holt die Pferde aus den Ställen, das Mehl aus den Säcken, er macht die Pächter persönlich mit dem Leben verantwortlich, daß sie in ihrer Vorschreibung nicht zurückbleiben, er anbefiehlt das Kriegsbrot des Weltkriegs, das Einheitsbrot, und verbietet jedes weiße Luxusgebäck. Jede Woche stellt er derart fünftausend Rekruten auf die Beine, ausgerüstet mit Pferden, Schuhen, Kleidung und Flinten, gewaltsam bringt er die Fabriken in Gang, und alles gehorcht seiner eisernen Energie. Geld fließt ein, Steuern und Abgaben und Spenden, Lieferungen und Leistungen, und stolz schreibt er an den Konvent nach zwei Monaten Tätigkeit »on rougit ici d’être riche«. »Man schämt sich, hier noch für reich zu gelten.« Aber wahrhaft hätte er sagen sollen: »Man zittert hier, reich zu sein.«


Gleichzeitig wie als Radikaler und Kommunist offenbart sich Joseph Fouché, der spätere millionenreiche Herzog von Otranto, der sich fromm unter der Patronanz eines Königs in der Kirche zum zweitenmal trauen lassen wird, damals noch als der wildwütigste, als der leidenschaftlichste Kämpfer gegen das Christentum. »Dieser heuchlerische Kult muß durch den Glauben an die Republik und die Moral ersetzt werden«, donnert er in seinem Brandbrief, und schon fallen wie brennende Blitze die ersten Maßnahmen in die Kirchen und Kathedralen. Gesetz auf Gesetz, Dekret auf Dekret: »Kein Priester darf sein geistliches Kleid tragen außerhalb der religiösen Stätte«, jedes Vorrecht wird ihm genommen, denn – »es ist Zeit«, – argumentiert er, »daß diese hochmütige Klasse wieder zur Reinheit des Urchristentums zurückgeführt werde und in die bürgerliche Klasse zurücktrete.« Bald genügt es Joseph Fouché nicht mehr, nur Oberster der Militärmacht, höchster Beamter der Justiz, unbeschränkter Diktator der Verwaltung zu sein, er reißt auch alle kirchlichen Befugnisse an sich. Er hebt das Zölibat auf, gebietet den Priestern, innerhalb eines Monates zu heiraten oder ein Kind zu adoptieren, er schließt Ehen und scheidet sie auf offenem Markte, er steigt auf die Kanzel (von der sorgfältig alle Kreuze und religiösen Bildnisse entfernt wurden) und hält atheistische Predigten, in denen er die Unsterblichkeit und das Dasein Gottes leugnet. Die christlichen Begräbniszeremonieen werden abgeschafft und als einzige Tröstung auf die Kirchhöfe die Inschrift gemeißelt: »Der Tod ist ein ewiger Schlaf.« In Nevers führt der neue Papst bei seiner Tochter, die er nach dem Departement »Nièvre« nennt, als erster im Land die bürgerliche Taufe ein. Nationalgarde muß ausrücken mit Trommel und Musik, und auf offenem Markte gibt er dem Kinde ohne kirchlichen Beistand Taufe und Namen. In Moulins reitet er an der Spitze eines Zuges durch die ganze Stadt, einen Hammer in der Faust, und zerschlägt die Kreuze, Kruzifixe und Heiligenbilder, die »schändlichen« Wahrzeichen des Fanatismus. Die geraubten Priestermitren und Altardecken werden zu einem Brandstoß aufgeschichtet, und während die Flammen grell emporschlagen, umtanzt der Pöbel jubelnd dieses atheistische Autodafé. Aber bloß gegen tote Dinge, gegen wehrlose Steinfiguren und zerbrechliche Kreuze zu wüten, wäre für Fouché nur ein halber Triumph. Der wirkliche gelingt ihm erst, als unter seiner Beredsamkeit der Erzbischof François Laurent sich die Kutte abreißt und die rote Mütze aufsetzt, als dreißig Priester ihm begeistert nachfolgen, ein Erfolg, der wie eine Brandwelle das ganze Land Frankreich durchläuft. Und stolz kann er sich gegen seinen schwächlicheren Atheistenkollegen rühmen, er habe den Fanatismus zerschmettert, das Christentum in dem ihm unterstellten Gebiet so ausgerottet wie den Reichtum.


Taten eines Wütigen, tolle Leidenschaft eines fanatischen Phantasten würde man meinen! Aber Joseph Fouché bleibt in Wahrheit auch hinter einer vorgetäuschten Leidenschaft immer Rechner, immer Realist. Er weiß, daß er dem Konvent Rechenschaft schuldet, weiß auch, daß die patriotischen Phrasen und Briefe gleichzeitig mit den Assignaten längst im Kurse gesunken sind und man, um Bewunderung zu erregen, metallische Worte finden muß. So sendet er, während die ausgehobenen Regimenter an die Grenze marschieren, den ganzen Ertrag seines Kirchenraubes nach Paris. Kisten über Kisten werden in den Konvent geschleppt, gefüllt mit goldenen Monstranzen, zerbrochenen und geschmolzenen Silberleuchtern, vollgewichtigen Kruzifixen und herausgebrochenen Juwelen. Er weiß, die Republik braucht vor allem bare Münze, und als erster, als einziger sendet er aus der Provinz solche beredsame Beute zu den Deputierten, die zunächst staunen über diese neuartige Energie, sie dann aber mit donnerndem Applaus bejubeln. Von dieser Stunde an nennt und kennt man im Konvent den Namen Fouchés als den eines eisernen Mannes, als des unerschrockensten, gewaltkräftigsten Republikaners der Republik.


Als Joseph Fouché von seinen Missionen in den Konvent zurückkehrt, ist er nicht mehr der unbekannte kleine Abgeordnete von 1792. Einem Mann, der zehntausend Rekruten auf die Beine gestellt, der hunderttausend Goldmark, zwölfhundert Pfund bares Geld, tausend Barren Silber aus den Provinzen gepreßt, ohne ein einziges Mal zum »Rasoir national«, zur Guillotine, zu greifen, kann der Konvent Bewunderung, »pour sa vigilance«, für »seinen Eifer«, wahrhaftig nicht versagen. Der Ultrajakobiner Chaumette veröffentlicht einen Hymnus auf seine Taten. »Der Bürger Fouché«, schreibt er, »hat die Wunder vollbracht, von denen ich erzählt habe. Er hat das Alter geehrt, die Schwachen unterstützt, das Unglück geachtet, den Fanatismus zerstört, den Föderalismus vernichtet. Er hat die Herstellung des Eisens wieder in Schwung gebracht, die Verdächtigen arretiert, jedes Verbrechen exemplarisch bestraft, die Ausbeuter verfolgt und eingesperrt.« Ein Jahr, nachdem er sich vorsichtig und zögernd auf die Bänke der Gemäßigten gesetzt, gilt Fouché schon als der Radikalste der Radikalen, und wie jetzt der Aufstand in Lyon einen besonders energischen Mann ohne Rücksichten und Skrupel erfordert, wer könnte da geeigneter erscheinen, das furchtbarste Edikt durchzuführen, das jemals diese oder eine andere Revolution ersonnen? »Die Dienste, die Du bisher der Revolution erwiesen hast«, dekretiert in seinem pompösesten Jargon der Konvent, »bieten Bürgschaft für jene, die Du noch leisten wirst. Dir ist es vorbehalten, in der Ville Affranchie (Lyon) die verlöschende Fackel des Bürgergeistes wieder zu entflammen. Vollende die Revolution, beendige den Krieg der Aristokraten, und mögen die Ruinen, die jene gestürzte Macht aufrichten will, auf sie fallen und sie zerschmettern!«


Und in dieser Gestalt des Rächers und Zerstörers, als der »Mitrailleur de Lyon«, tritt nun Joseph Fouché, der zukünftige Multimillionär, der spätere Herzog von Otranto, zum erstenmal in die Weltgeschichte.

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.