Zweites Kapitel – Der »Mitrailleur de Lyon«


1793

Im Buche der Französischen Revolution wird gerade eins der blutigsten Blätter, der Aufstand von Lyon, selten aufgeschlagen. Und doch hat sich in kaum einer Stadt, selbst in Paris nicht, der soziale Gegensatz derart schattenscharf abgezeichnet wie in dieser ersten Industriestadt des damals noch kleinbürgerlichen und agrarischen Frankreich, dieser Heimat der Seidenfabrikation. Dort formen die Arbeiter inmitten der noch bürgerlichen Revolution von 1792 zum erstenmal schon deutlich eine proletarische Masse, schroff abgeschieden von der royalistisch und kapitalistisch gesinnten Unternehmerschaft. Kein Wunder, daß gerade auf diesem heißen Boden der Konflikt die allerblutigsten und fanatischesten Formen annehmen wird, die Reaktion sowohl wie die Revolution.


Die Anhänger der jakobinischen Partei, die Scharen der Arbeiter und Arbeitslosen, gruppieren sich um einen jener sonderbaren Menschen, wie sie jeder Weltwandel plötzlich nach oben schwenkt, einen jener durchaus reinen, idealistisch gläubigen Menschen, die aber immer mehr Unheil anrichten mit ihrem Glauben und mehr Blutvergießen mit ihrem Idealismus als die brutalsten Realpolitiker und wildesten Schreckensmänner. Immer wird es gerade der reingläubige, der religiöse, der ekstatische Mensch, der Weltveränderer und Weltverbesserer sein, der in edelster Absicht Anstoß gibt zu Mord und Unheil, das er selber verabscheut. Dieser in Lyon hieß Chalier, ein entlaufener Priester und ehemaliger Kaufmann, für den die Revolution noch einmal das Christentum wurde, das richtige und wahre, und der ihr anhängt mit einer selbstaufopfernden und abergläubischen Liebe. Die Erhebung der Menschheit zur Vernunft und zur Gleichheit bedeutet diesem passionierten Leser Jean Jacques Rousseaus schon Erfüllung des Tausendjährigen Reiches; seine glühende und fanatische Menschenliebe sieht gerade im Weltbrand die Morgenröte einer neuen, unvergänglichen Humanität. Rührender Phantast: als die Bastille fällt, trägt er in seinen bloßen Händen einen Stein der Zwingburg die sechs Tage und sechs Nächte Weg zu Fuß von Paris nach Lyon und baut ihn dort um zu einem Altar. Er verehrt Marat, diesen blutheißen, dampfenden Pamphletisten, wie einen Gott, wie eine neue Pythia; er lernt seine Reden und Schriften auswendig und entflammt mit seinen mystischen und kindischen Reden wie kein anderer in Lyon die Arbeiterschaft. Instinktiv spürt das Volk in seinem Wesen brennende, mitleidige Menschenliebe und ebenso die Reaktionäre in Lyon, daß gerade ein derart reiner, vom Geist getriebener, von Menschenliebe beinahe tollwütig besessener Mensch noch gefährlicher sei als die lärmendsten jakobinischen Unruhstifter. Gegen ihn drängt sich alle Liebe, gegen ihn ballt sich aller Haß. Und als ein erster Aufruhr sich in der Stadt bemerkbar macht, werfen sie als den Rädelsführer diesen neurasthenischen und ein wenig lächerlichen Phantasten in den Kerker. Mit Mühe klaubt man dann mittels eines gefälschten Briefes eine Anklage gegen ihn zusammen und verurteilt ihn zur Warnung für die anderen Radikalen und als Herausforderung gegen den Pariser Konvent zum Tode.


Vergebens sendet der entrüstete Konvent Boten auf Boten nach Lyon, um Chalier zu retten. Er mahnt, er fordert, er droht dem unbotmäßigen Magistrat. Aber nun erst recht entschlossen, den Pariser Terroristen endlich einmal die Zähne zu zeigen, weist der Gemeinderat von Lyon selbstherrlich jeden Einspruch zurück. Ungern haben sie sich seinerzeit die Guillotine, das Schreckensinstrument, schicken lassen und unbenutzt in einen Speicher gestellt: nun wollen sie den Anwälten des Schreckenssystems eine Lektion erteilen, indem sie das angeblich humane Werkzeug der Revolution erstmalig an einem Revolutionär erproben. Und gerade, weil die Maschine noch nicht erprobt ist, wird die Hinrichtung Chaliers durch die Ungeschicklichkeit des Henkers zu einer grausamen und niederträchtigen Folterung. Dreimal saust das stumpfe Beil nieder, ohne den Nackenwirbel des Verurteilten zu durchschlagen. Mit Grauen sieht das Volk den gefesselten blutüberströmten Leib seines Führers sich noch immer lebend unter dieser schandbaren Folter krümmen, bis schließlich der Henker mit einem mitleidigen Säbelhieb das Haupt des Unglücklichen vom Rumpfe trennt.


Aber dieses gefolterte Haupt, dreimal vom Beil zerschmettert, wird bald für die Revolution ein Palladium der Rache und ein Medusenhaupt für seine Mörder sein.


Der Konvent schrickt auf bei der Nachricht dieses Verbrechens; wie, eine einzelne französische Stadt wagt offen der Nationalversammlung Trotz zu bieten? Eine solche freche Herausforderung muß sofort in Blut erstickt werden. Aber auch die Lyoner Regierung weiß, was sie nun zu erwarten hat. Offen geht sie von der Auflehnung gegen die Nationalversammlung zur Rebellion über; sie hebt Truppen aus, setzt die Verteidigungswerke instand gegen Mitbürger, gegen Franzosen, und bietet offen der republikanischen Armee Trotz. Nun müssen die Waffen entscheiden zwischen Lyon und Paris, zwischen Reaktion und Revolution.


Logisch genommen, scheint ein Bürgerkrieg in diesem Augenblick Selbstmord für die junge Republik. Denn niemals war ihre Situation gefährlicher, verzweifelter, aussichtsloser. Die Engländer haben Toulon eingenommen, die Flotte und das Arsenal geraubt, sie bedrohen Dünkirchen, indes gleichzeitig die Preußen und Österreicher am Rhein und in den Ardennen vorstoßen und die ganze Vendee in Flammen steht. Kampf und Aufruhr durchschüttelt die Republik von einer Grenze Frankreichs bis zur anderen. Aber diese Tage sind auch die wahrhaft heroischen des französischen Konvents. Aus einem unheimlichen, schicksalshaften Instinkt, Gefahr durch Herausforderung am besten zu bekämpfen, lehnen die Führer nach dem Tode Chaliers jeden Pakt mit seinen Henkern ab. »Potius mori quam foedari«, »lieber untergehen als paktieren«, lieber noch einen Krieg zu sieben Kriegen als einen Frieden, der auf Schwäche deutet. Und dieser unwiderstehliche Elan der Verzweiflung, diese illogische und berserkerische Leidenschaft hat ebenso wie die russische Revolution (gleichfalls im Westen, Osten, Norden und Süden von den Engländern und Söldnern der ganzen Welt, innen von den Legionen Wrangels, Denikins und Koltschaks gleichzeitig bedroht) im Augenblick der höchsten Gefahr die französische gerettet. Nichts hilft es, daß die erschreckte Bürgerschaft von Lyon sich nun offen den Royalisten in die Arme wirft und einem General des Königs ihre Truppen anvertraut, – aus den Bauernhöfen, aus den Vorstädten strömen proletarische Soldaten, und am 9. Oktober wird die aufrührerische zweite Hauptstadt Frankreichs von den republikanischen Truppen erstürmt. Dieser Tag ist der vielleicht stolzeste der Französischen Revolution. Als im Konvent der Vorsitzende sich feierlich von seinem Platz erhebt und die endgültige Kapitulation Lyons meldet, springen die Abgeordneten von ihren Sitzen auf, jauchzen und umarmen sich: für einen Augenblick scheint alle Zwietracht beendet. Die Republik ist gerettet, ein herrliches Beispiel dem ganzen Lande, der Welt gegeben von der unwiderstehlichen Gewalt, von der Zornkraft und Stoßkraft der republikanischen Volksarmee. Aber verhängnisvollerweise reißt das Stolzgefühl dieses Mutes die Sieger in einen Übermut, in ein tragisches Verlangen, diesen Triumph sofort in Terror zu verwandeln. Furchtbar wie der Elan zum Sieg soll nun die Rache gegen die Besiegten sein. »Es soll ein Beispiel gegeben werden, daß die Französische Republik, daß die junge Revolution am härtesten diejenigen straft, die sich gegen die Trikolore erhoben haben.« Und so schändet sich der Konvent, der Anwalt der Humanität vor der ganzen Welt, mit einem Dekret, für das Barbarossa mit seiner hunnischen Zerstörung von Mailand, für das die Kalifen die erste historische Folie gegeben haben. Am 12. Oktober entrollt der Präsident des Konvents jenes furchtbare Blatt, das nichts Minderes enthält als den Antrag auf Zerstörung der zweiten Hauptstadt Frankreichs. Dieses sehr wenig bekannte Dekret lautet wörtlich:


»1. Der Nationalkonvent ernennt auf Vorschlag des Wohlfahrtsausschusses eine außerordentliche Kommission von fünf Mitgliedern, um ohne Verzug die Gegenrevolution von Lyon militärisch zu bestrafen.


2. Alle Bewohner von Lyon sind zu entwaffnen und ihre Waffen den Verteidigern der Republik zu übergeben.


3. Ein Teil davon wird den Patrioten übergeben, die von den Reichen und Konterrevolutionären unterdrückt wurden


.4. Die Stadt Lyon wird zerstört. Alles, was von den vermögenden Leuten bewohnt war, ist zu vernichten; es dürfen nur übrig bleiben die Häuser der Armen, die Wohnungen der ermordeten oder proskribierten Patrioten, die industriellen Gebäude und die, die wohltätigen und erzieherischen Zwecken dienen.


5. Der Name Lyon wird aus dem Verzeichnis der Städte der Republik ausgestrichen. Von nun an wird die Vereinigung der übrig gebliebenen Häuser den Namen ›Ville Affranchie‹ tragen.


6. Es wird auf den Ruinen von Lyon eine Säule errichtet, die der Nachwelt die Verbrechen und die Bestrafung der royalistischen Stadt verkündigt, mit der Inschrift: ›Lyon führte Krieg gegen die Freiheit – Lyon ist nicht mehr.‹«


Niemand wagt gegen diesen wahnsinnigen Antrag, die zweitgrößte Stadt Frankreichs in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, Einspruch zu erheben. Der Mut im französischen Konvent ist längst dahin, seit die Guillotine über den Häuptern aller derer gefährlich blinkt, die das Wort Gnade oder Mitleid auch nur zu flüstern versuchen. Eingeschüchtert vom eigenen Schrecken, billigt einstimmig der Konvent die Vandalentat, und Couthon, der Freund Robespierres, wird mit der Ausführung betraut.


Couthon, der Vorgänger Fouchés, erkennt sofort das Wahnwitzige und Selbstmörderische, um einer Abschreckungsgeste willen die größte Industriestadt Frankreichs und gerade ihre Kunstdenkmäler mutwillig zu zerstören. Und vom ersten Augenblick ist er innerlich entschlossen, diesen Auftrag zu sabotieren. Aber dazu ist kluge Heuchelei notwendig. Darum verdeckt Couthon seine geheime Absicht, Lyon zu schonen, mit der hinhaltenden List, daß er zunächst das wahnwitzige Dekret der völligen Zerstörung überschwenglich lobt. »Bürgerkollegen«, ruft er aus, »die Lektüre eures Dekrets hat uns mit Bewunderung überwältigt. Ja, es tut not, daß diese Stadt zerstört werde und als großes Beispiel für alle andern diene, die wagen könnten, sich gegen das Vaterland zu erheben. Von allen den großen und kräftigen Maßregeln, die der Nationalkonvent bisher angeordnet, war uns bisher nur eine entgangen: nämlich diejenige der vollkommenen Zerstörung… Aber seid ruhig, Bürgerkollegen, und versichert dem Nationalkonvent, seine Grundsätze sind die unsern, und seine Dekrete werden buchstäblich ausgeführt werden.« Jedoch der so mit hymnischen Worten seinen Auftrag begrüßt, denkt in Wirklichkeit gar nicht daran, ihn auszuführen, sondern begnügt sich nur mit theatralischen Maßnahmen. An beiden Beinen gelähmt durch frühzeitige Paralyse, aber geistig von unbeugsamer Entschlossenheit, läßt er sich in einer Sänfte auf den Marktplatz von Lyon tragen, bezeichnet mit dem Schlag eines silbernen Hammers symbolisch die Häuser, die der Niederreißung verfallen sind, und kündigt Tribunale furchtbarer Rache an. Damit sind die hitzigsten Gemüter beschwichtigt. In Wirklichkeit werden unter dem Vorwand des Mangels an Arbeitern nur ein paar Frauen und Kinder hingeschickt, die pro forma ein Dutzend lässige Spatenschläge gegen die Häuser tun, und nur einige wenige Hinrichtungen werden vorgenommen.


Schon atmet die Stadt auf, von so unerwarteter Milde nach so fulminanten Ankündigungen wohltätig überrascht. Aber auch die Terroristen sind wachsam, sie erkennen nach und nach die milde Gesinnung Couthons, und so fordern sie den Konvent gewaltsam zur Gewaltsamkeit heraus. Der blutige, zerschmetterte Schädel Chaliers wird als Reliquie nach Paris gebracht, in feierlichem Pomp dem Konvent gezeigt und zur Aufreizung der Bevölkerung in Notre-Dame ausgestellt. Und immer ungeduldiger schleudern sie neue Anträge gegen den Kunktator Couthon: er sei zu lässig, zu träge, zu feige, kurzum nicht Mann genug, um solche exemplarische Rache zu üben. Ein wirklich rücksichtsloser, ein verläßlicher, ein wahrhafter Revolutionär sei vonnöten, der vor Blut nicht zurückschrecke und das Äußerste wage, ein Mann aus Eisen und Stahl. Schließlich gibt der Konvent ihrem Lärmen nach und sendet ihnen statt des allzu milden Couthon die entschlossensten seiner Tribunen, den vehementen Collot d’Herbois (von dem die Legende umgeht, er sei als Schauspieler in Lyon ausgepfiffen worden und deshalb der rechte Mann, um diese Bürger zu züchtigen) – und als zweiten den erzradikalsten aller Prokonsuln, den berüchtigten Jakobiner und Ultraterroristen, Joseph Fouché, als Henker in die unglückliche Stadt.


Der so über Nacht zum mörderischen Werk Aufgerufene, Joseph Fouché, ist er wirklich ein Henker, ein »Blutsäufer«, wie man damals die Vorkämpfer des Terrors nannte? Seinen Worten nach gewiß. Kaum ein Prokonsul hat in seiner Provinz tatkräftiger, energischer, revolutionärer, radikaler sich gebärdet als Joseph Fouché; er hat schonungslos requiriert, die Kirchen geplündert, die Vermögen ausgesackt und jeden Widerstand erdrosselt. Aber – sehr charakteristisch für ihn! – nur mit Worten, Befehlen und Einschüchterungen hat er Terror geübt, denn in all jenen Wochen seiner Herrschaft in Nevers, Clamecy fließt kein Tropfen Blut. Während in Paris die Guillotine klappert wie eine Nähmaschine, während Carrier in Nantes Verdächtige zu Hunderten in der Loire ersäuft, während das ganze Land widerhallt von Füsilladen, Morden und Menschenjagd, hat Fouché keine einzige, nicht eine einzige politische Hinrichtung in seinem Distrikt auf dem Gewissen. Er kennt – dies das Leitmotiv seiner Psychologie – die Feigheit der meisten Menschen, er weiß, daß eine wilde, kraftvolle Geste des Terrors meist den Terror selbst erspart. Und wie dann später im schönsten Blütenmai der Reaktion alle Provinzen sich als Ankläger gegen ihre einstigen Herren erheben, so können die aus seinem Distrikt nichts anderes vorbringen, als daß er sie immer bedroht habe mit dem Tode, aber niemand vermag ihn einer wirklichen Exekution anzuklagen. Man sieht also: Fouché, den sie zum Henker von Lyon bestimmt haben, liebt keineswegs das Blut. Dieser kalte, unsinnliche Mensch, dieser Rechner und Denkspieler, mehr Fuchs als Tiger, braucht nicht den Dunst des Blutes, um seine Nerven zu erregen. Er tobt (ohne innerlich mitzufiebern) mit Worten und Drohungen, aber niemals wird er aus Freude am Mord, aus dem Koller der Macht Hinrichtungen wirklich fordern. Aus Instinkt und Klugheit (nicht aus Humanität) achtet er das menschliche Leben, solange das seine nicht gefährdet ist; er wird immer erst dann das Leben oder Schicksal eines Menschen bedrohen, wenn sein eigenes oder sein Vorteil bedroht ist.


Das ist eins der Geheimnisse fast aller Revolutionen und das tragische Geschick ihrer Führer: sie lieben alle das Blut nicht und sind doch zwanghaft genötigt, es zu vergießen. Desmoulins fordert vom Schreibtisch aus schäumend das Tribunal für die Girondisten; aber als er dann im Gerichtssaal sitzt und das Wort Tod aussprechen hört über die Zweiundzwanzig, die er selbst vor den Richter geschleppt hat, da springt er auf, totenbleich, zitternd, und stürzt verzweifelt aus dem Saal: nein, er hat es nicht gewollt! Robespierre, dessen Unterschrift unter Tausenden von verhängnisvollen Dekreten steht, hat zwei Jahre früher in der beratenden Versammlung die Todesstrafe bekämpft und den Krieg als Verbrechen gebrandmarkt, Danton, obwohl der Schöpfer des Mordtribunals, das verzweifelte Wort sich aus bestürzter Seele geschrieen, »lieber guillotiniert werden als guillotinieren«. Selbst Marat, der in seiner Zeitung dreihunderttausend Köpfe öffentlich fordert, sucht jeden einzelnen zu retten, sobald er unter die Klinge soll. Sie alle, später als Blutbestien geschildert, als leidenschaftliche Mörder, die sich am Geruch der Kadaver berauschen, sie alle verabscheuen, genau wie Lenin und die Führer der russischen Revolution, im Innersten jede Hinrichtung; sie wollen alle ursprünglich nur ihre politischen Gegner mit der Drohung der Hinrichtung in Schach halten: aber die Drachensaat des Mordes entspringt zwanghaft der theoretischen Billigung des Mords. Die Schuld der französischen Revolutionäre ist also nicht, sich am Blute berauscht zu haben, sondern an blutigen Worten: sie haben die Torheit begangen, einzig, um das Volk zu begeistern und ihren eigenen Radikalismus sich selbst zu bescheinigen, einen bluttriefenden Jargon geschaffen und ununterbrochen von Verrätern und vom Schafott phantasiert zu haben. Aber dann, als das Volk, berauscht, besoffen, besessen von diesen wüsten, aufreizenden Worten, die ihnen als notwendig angekündigten »energischen Maßregeln« wirklich fordert, da fehlt den Führern der Mut, zu widerstreben: sie müssen guillotinieren, um ihr Gerede von der Guillotine nicht Lügen zu strafen. Ihre Handlungen müssen zwanghaft ihren tollwütigen Worten nachrennen, und ein grauenhafter Wettlauf beginnt, weil keiner wagt, hinter dem anderen in dieser Jagd um die Volksgunst zurückzubleiben. Nach dem unaufhaltsamen Gesetz der Schwere zieht eine Hinrichtung die andere nach sich: was als Spiel mit blutigen Worten begann, wird immer wilderes Sichübersteigern mit Menschenköpfen; nicht aus Lust, nicht einmal aus Leidenschaft und am wenigsten aus Entschlossenheit werden so Tausende geopfert, sondern aus einer Unentschlossenheit von Politikern, von Parteimenschen, die nicht den Mut finden, sich dem Volk zu widersetzen: im letzten aus Feigheit. Leider, die Weltgeschichte ist nicht nur, wie sie meistens dargestellt wird, eine Geschichte des menschlichen Mutes, sondern auch eine Geschichte der menschlichen Feigheit, die Politik nicht, wie man durchaus glauben machen will, Führung der öffentlichen Meinung, sondern sklavisches Sichbeugen der Führer vor eben derselben Instanz, die sie selber geschaffen und beeinflußt haben. So entstehen immer die Kriege: aus einem Spiel mit gefährlichen Worten, aus einer Überreizung nationaler Leidenschaften, so die politischen Verbrechen; kein Laster und keine Brutalität auf Erden hat so viel Blut verschuldet wie die menschliche Feigheit. Wenn darum Joseph Fouché in Lyon zum Massenhenker wird, so geschieht es nicht aus republikanischer Leidenschaft (er kennt keine Leidenschaft), sondern einzig aus Furcht, als Gemäßigter zu mißfallen. Aber nicht Gedanken entscheiden in der Geschichte, sondern die Taten, und ob er auch tausendmal wider das Wort sich gewehrt, sein Name bleibt doch gezeichnet als der des »Mitrailleur de Lyon«. Und auch der Herzogsmantel wird später die Blutspur auf seinen Händen nicht verhüllen können.


Am 7. November langt Collot d’Herbois, am 10. Joseph Fouché in Lyon an. Sie gehen sofort an die Arbeit. Aber vor die eigentliche Tragödie stellen der entlassene Komödiant und sein expriesterlicher Helfer noch ein kurzes Satyrspiel, das herausforderndste und frechste vielleicht der ganzen Französischen Revolution: eine Art schwarzer Messe am hellichten Tag. Die Totenfeier für den Märtyrer der Freiheit, Chalier, bildet den Vorwand für diese Orgie atheistischen Überschwangs. Als Vorspiel werden um acht Uhr morgens alle Kirchen ihrer letzten frommen Wahrzeichen beraubt, die Kruzifixe von den Altären gerissen, Decken und Meßgewänder weggerafft; dann sammelt sich ein ungeheurer Zug durch die ganze Stadt zum Platz des Terreaux. Vier aus Paris gekommene Jakobiner tragen auf einer mit dreifarbigen Teppichen bedeckten Sänfte die Büste Chaliers, über und über mit Blumen geschmückt, neben ihr eine Urne mit seiner Asche, sowie in einem kleinen Käfig eine Taube, die den Märtyrer im Gefängnis getröstet haben soll. Feierlich und ernst schreiten hinter der Tragbahre die drei Prokonsuln zu dem neuartigen Kirchendienst, der die Göttlichkeit des Märtyrers der Freiheit, Chalier, des »Dieu sauveur mort pour eux« dem Volk von Lyon pomphaft bezeugen soll. Aber diese an sich schon unangenehme pathetische Zeremonie erniedrigt noch eine besonders peinliche, eine stupide Geschmacksverirrung: eine lärmende Rotte schleppt im Triumph und mit indianischem Tanz die aus den Kirchen geraubten Meßgefäße, Kelche, Ziborien und Heiligenbilder heran; hinter ihnen trottet ein Esel, dem man eine gestohlene Bischofsmitra kunstvoll über die Ohren gestülpt hat. An den Schweif des armen Grautieres haben sie ein Kruzifix und die Bibel gebunden – so pendelt am hellichten Tag, zum Gaudium eines brüllenden Pöbels, das Evangelium an einem Eselsschwanz im Straßendreck.


Endlich gebieten kriegerische Fanfaren Halt. Auf dem großen Platz, wo aus Wiesengrün ein Altar aufgerichtet ist, werden die Büste Chaliers und die Urne feierlich hingestellt, und die drei Volksrepräsentanten verbeugen sich ehrfürchtig vor dem neuen Heiligen. Zuerst peroriert der gelernte Schauspieler Collot d’Herbois, dann spricht Fouché. Der im Konvent so beharrlich zu schweigen wußte, hat plötzlich seine Stimme wiedergefunden und himmelt in überschwenglichem Anruf die gipserne Büste an: »Chalier, Chalier, du bist nicht mehr! Verbrecher haben dich, den Märtyrer der Freiheit, hingeopfert, aber das Blut dieser Verbrecher soll das einzige Sühnopfer sein, das deine erzürnten Manen erfrischen soll. Chalier! Chalier! Wir schwören vor deinem Bilde, dein Martyrium zu rächen, und das Blut der Aristokraten soll dir als Weihrauch dienen.« Der dritte Volksbeauftragte ist weniger beredt als der zukünftige Aristokrat, als der kommende Herzog von Otranto. Er küßt nur demütig die Stirn der Büste und schmettert über den ganzen Platz ein »Tod den Aristokraten!«


Nach diesen feierlichen drei Anbetungen wird ein großer Scheiterhaufen entzündet. Ernst sieht der vor kurzem noch tonsurierte Joseph Fouché mit seinen beiden Kollegen zu, wie das Evangelium vom Eselsschweif abgeschnitten und ins Feuer geworfen wird, um dort inmitten der angefachten Lohe aus Kirchengewändern, Meßbüchern, Hostien und Holzheiligen in Rauch aufzugehn. Dann läßt man noch den grauen Vierfüßler aus einem heiligen Kelche trinken als Belohnung für seinen blasphemischen Dienst, und nach Beendigung dieser grellen Geschmacklosigkeiten tragen die vier Jakobiner die Büste Chaliers auf ihren Schultern in die Kirche zurück, wo sie feierlich auf den Altar an Stelle des zerschmetterten Christusbildes hingestellt wird.


Zum immerwährenden Gedächtnis dieses würdigen Festes wird in den nächsten Tagen eine eigene Gedenkmünze geschlagen. Aber sie ist heute unauffindbar geworden, wahrscheinlich weil der spätere Herzog von Otranto alle Exemplare aufkaufte und verschwinden ließ, genau wie die Bücher, welche diese krassen Heldentaten seiner ultrajakobinischen und atheistischen Zeit zu genau beschrieben. Er selbst hatte ein gutes Gedächtnis. Aber daß auch die andern sich erinnerten oder erinnert werden könnten an die schwarze Messe von Lyon, war doch für Son Excellence Monseigneur le sénateur ministre eines allerchristlichsten Königs später allzu unbequem und unangenehm.


So widerlich auch dieser erste Tag Joseph Fouchés in Lyon anhebt, immerhin, er bietet nur Theater und läppisches Maskenspiel: noch ist kein Blut geflossen. Aber schon am nächsten Morgen versperren sich die Konsuln unzugänglich in ein abgelegenes Haus, das mit bewaffneten Posten vor jedem Unberufenen geschützt wird: jeder Milde, jeder Bitte, jeder Nachsicht soll symbolisch die Tür verrammelt sein. Ein revolutionäres Tribunal wird gebildet, und welche furchtbare Bartholomäusnacht die Volkskönige Fouché und Collot planen, kündigt ihr Brief an den Konvent gefährlich an: »Wir verfolgen«, so schreiben die beiden, »unsere Mission mit der Energie charaktervoller Republikaner, und wir werden von der Höhe, auf die das Volk uns gestellt hat, nicht niedersteigen, um uns mit den erbärmlichen Interessen von ein paar mehr oder weniger schuldigen Leuten zu befassen. Wir haben von uns alle Leute entfernt, weil wir keine Zeit zu verlieren, keine Gunst zu gewähren haben. Wir sehen nur die Republik, die uns befiehlt, ein großes Beispiel, eine weithin sichtbare Lektion zu geben. Wir hören nur auf den Schrei des Volkes, das verlangt, daß das Blut der Patrioten auf einmal in einer raschen und fürchterlichen Art gerächt werde, damit die Menschheit es nicht nochmals strömen sehen müsse. In der Überzeugung, daß es in dieser niederträchtigen Stadt keine anderen Unschuldigen gibt als diejenigen, die von den Mördern des Volkes unterdrückt und in den Kerker geworfen worden waren, verhalten wir uns mißtrauisch gegen die Tränen der Reue. Nichts wird unsere Strenge entwaffnen können. Wir müssen es euch gestehen, Bürgerkollegen, wir betrachten die Nachsicht als eine gefährliche Schwäche, die nur geeignet ist, verbrecherische Hoffnungen gerade in dem Augenblick neu zu entzünden, wo man sie gänzlich auslöschen muß. Gewährt man einem Individuum Nachsicht, so gewährt man sie allen seiner Art und macht damit die Wirkung eurer Justiz unwirksam. Die Demolierungen arbeiten zu langsam, die republikanische Ungeduld verlangt raschere Mittel: die Explosion der Minen, die verzehrende Tätigkeit der Flammen allein können die Gewalt des Volkes ausdrücken. Sein Wille darf nicht angehalten werden wie derjenige der Tyrannen, er muß die Wirkung eines Gewitters haben.«


Dieses Gewitter, es bricht programmgemäß am 4. Dezember los, und sein Echo rollt bald schaurig durch ganz Frankreich. Frühmorgens werden sechzig junge Leute aus den Gefängnissen geführt, je zwei und zwei zusammengebunden. Aber man führt sie nicht zur Guillotine, die nach den Worten Fouchés »zu langsam« arbeitet, sondern hinaus auf die Ebene von Brotteaux, jenseits der Rhone. Zwei parallele Gräben, in Eile ausgehoben, lassen die Opfer schon ihr Schicksal erraten und die zehn Schritte von ihnen aufgestellten Kanonen die Methode der Massenschlächterei. Man rottet und bindet die Wehrlosen zusammen in einen schreienden, schauernden, heulenden, tobenden, vergebens sich wehrenden Klumpen menschlicher Verzweiflung. Ein Kommando – und aus dieser tödlichen Nähe schmettert von den atemnahen Mündungen gehacktes Blei in die von Angst geschüttelten Menschenmassen. Freilich dieser erste Salvenschuß erledigt nicht alle Opfer, einigen ist nur ein Arm oder Bein weggefetzt, andern sind bloß die Gedärme aufgerissen, ein paar sind sogar durch Zufall heil geblieben. Aber während das Blut schon in breitem, rieselndem Quell in die Gräben strömt, werfen sich jetzt auf ein zweites Kommando die Kavalleristen mit Säbel und Pistolen auf die noch aufgesparten Opfer, hämmern und schießen mitten in die zuckende, stöhnende, schreiende, und doch nicht fliehen könnende Menschenherde hinein, bis die letzte röchelnde Stimme erstickt ist. Zur Belohnung für die Schlächterei dürfen die Henker dann Kleider und Schuhe von den noch warmen sechzig Leichen abziehen, ehe man die Kadaver nackt und zerfetzt in den Laufgräben verscharrt.


Das ist die erste der berühmten Mitrailladen Joseph Fouchés, des späteren Ministers eines allerchristlichsten Königs, und stolz rühmt sich ihrer am nächsten Morgen eine flammende Proklamation: »Die Volksrepräsentanten werden fühllos bei der ihnen aufgetragenen Mission bleiben, das Volk hat in ihre Hände den Donner seiner Rache gelegt, und sie werden ihn nicht lassen, ehe nicht alle Feinde der Freiheit zerschmettert sind. Sie werden den Mut haben, über weite Gräberreihen von Verschwörern hinwegzuschreiten, um über Ruinen zum Glück der Nation und zur Erneuerung der Welt zu gelangen.« Noch am selben Tage wird dieser traurige »Mut« abermals durch die Kanonen von Brotteaux mörderisch bekräftigt und an einer noch stattlicheren Herde. Diesmal sind es zweihundertzehn Stück Schlachtvieh, die mit auf den Rücken gebundenen Händen hinausgeführt und in wenigen Minuten durch das gehackte Blei der Kartätschen und durch Salven der Infanterie umgelegt werden. Die Prozedur bleibt dieselbe, nur erleichtert man den Fleischerknechten diesmal das unbequeme Handwerk, indem man ihnen erläßt, nach so anstrengender Massakrierung auch noch Totengräber ihrer Opfer zu sein. Wozu noch Gräber für diese Schurken? Man zieht die blutigen Schuhe von den verkrallten Füßen, dann wirft man die nackten und oft noch zuckenden Kadaver einfach in das strömende Grab der Rhone.


Aber selbst diesem schauerlichen Horror, den das ganze Land und die Weltgeschichte angeekelt empfindet, legt Joseph Fouché noch den beschwichtigenden Mantel hymnischer Worte um. Daß die Rhone verpestet wird von diesen nackten Leichen, rühmt er als politische Tat, weil sie, hinabschwimmend bis nach Toulon, dort sinnliches Zeugnis der unerbittlichen fürchterlichen republikanischen Rache ablegen. »Es tut not«, schreibt er, »daß die blutigen Kadaver, die wir in die Rhone werfen, beide Ufer entlang bis an ihre Mündung, zum infamen Toulon schwimmen, damit sie vor den Augen der feigen und grausamen Engländer den Eindruck des Schreckens und das Bildnis der Volks-Allmacht verdeutlichen.« In Lyon freilich ist eine solche Verdeutlichung nicht mehr nötig, denn Hinrichtung folgt auf Hinrichtung, Hekatombe auf Hekatombe. Die Eroberung Toulons begrüßt er »mit Freudentränen« und außerdem damit, daß er zur Feier des Tages »zweihundert Rebellen vor die Mündung der Gewehre schickt«. Vergeblich bleibt jeder Ruf nach Gnade. Zwei Frauen, die zu leidenschaftlich um die Freigabe ihrer Männer vor dem Blutgericht gefleht hatten, werden gebunden neben der Guillotine aufgestellt, niemand auch nur in die Nähe des Hauses der Volksbeauftragten gelassen, um Milderungen zu erbitten. Aber je wilder die Gewehre knattern, um so lauter dröhnen die Worte der Prokonsuln: »Ja, wir wagen es zu behaupten, wir haben viel unreines Blut vergossen, aber einzig aus Menschlichkeit und Pflicht… Wir werden den Blitz, den ihr in unsere Hände gelegt habt, nicht lassen, bevor ihr es nicht durch euren Willen bekundet habt. Bis dahin werden wir fortfahren, ohne Unterbrechung unsere Feinde niederzuschlagen, wir werden sie in der vollkommensten, fürchterlichsten und schnellsten Weise ausrotten.«


Und sechzehnhundert Hinrichtungen in wenigen Wochen bezeugen, daß diesmal ausnahmsweise Joseph Fouché die Wahrheit gesprochen hat.


Über die Organisation dieser Schlächtereien und ihre selbstbegeisterten Berichte vergessen Joseph Fouché und sein Kollege nicht den traurigen anderen Auftrag des Konvents, den sie in Lyon zu erfüllen haben. Gleich am ersten Tage führen sie Klage nach Paris, die anbefohlene Demolierung der Stadt habe sich unter ihrem Vorgänger »zu langsam« vollzogen – »nun werden die Minen das Werk der Zerstörung beschleunigen, schon haben die Sappeure begonnen zu arbeiten, und innerhalb zweier Tage werden die Bauwerke von Bellecourt in die Luft fliegen.«


Diese berühmten Fassaden, unter Ludwig dem Vierzehnten begonnen, von einem Schüler Mansards erbaut, sind, weil die schönsten, als erste zum Untergang bestimmt. Mit Brutalität werden die Bewohner dieser Häuserreihen ausgetrieben, und Hunderte von Arbeitslosen, Männer und Frauen, schmettern in wenigen Wochen sinnloser Zerstörung die prachtvollen Kunstwerke zusammen. Die unglückselige Stadt hallt wider von Seufzern und Stöhnen, von Kanonenschüssen und stürzenden Mauerwerken; während das Komitee »de justice« die Menschen umlegt, das Komitee »de demolition« die Häuser, führt das Komitee »des substances« gleichzeitig in rücksichtsloser Weise die Requisition der Lebensmittel, Stoffe und Wertgegenstände durch. Jedes Haus wird vom Keller bis zum Dach durchstöbert nach versteckten Menschen und verborgenen Kostbarkeiten, überall waltet der Terror der beiden Männer, die, selbst unsichtbar und unzugänglich, von Posten geschützt, in einem Hause sich verborgen halten, Fouché und Collot.


Schon sind die schönsten Paläste niedergerissen, die Gefängnisse, obwohl immer aufs neue vollgepfropft, halb geleert, die Kaufläden ausgeräumt und die Felder von Brotteaux mit dem Blute von tausend Menschen getränkt, da endlich entschließen sich ein paar kühne Bürger (es kann ihnen den Kopf kosten!), nach Paris zu eilen und dem Konvent eine Bittschrift zu überreichen, er möge doch nicht die ganze Stadt dem Erdboden gleichmachen lassen. Selbstverständlich ist der Text dieser Bitte sehr vorsichtig, sogar kriecherisch gehalten, auch sie beginnen feige mit einer Verbeugung und rühmen das herostratische Dekret als eins, »das vom Genie des römischen Senats diktiert zu sein scheint«. Dann aber bitten sie um »Gnade für die aufrichtige Reue, für die verirrte Schwäche, Gnade – wir wagen es zu sagen – für die verkannten Unschuldigen«.


Aber rechtzeitig sind die Konsuln von der verdeckten Anklage verständigt worden, und mit der Eilpost saust Collot d’Herbois als der Beredtere nach Paris, um rechtzeitig den Schlag zu parieren. Am nächsten Tage hat er die Kühnheit, im Konvent und bei den Jakobinern die Massenhinrichtungen, statt sie zu entschuldigen, noch als eine Form der »Humanität« zu rühmen. »Wir wollten«, sagt er, »die Menschheit von dem furchtbaren Schauspiel zu vieler aufeinanderfolgender Hinrichtungen befreien, darum beschlossen die Kommissäre, an einem Tage alle Verurteilten und Verräter auf einmal zu vernichten; dieser Wunsch entsprang einer wirklichen Gefühlsregung (véritable sensibilité)«, und bei den Jakobinern begeistert er sich noch inbrünstiger für das neue »humanitäre« System. »Ja, wir haben zweihundert Verurteilte mit einer Salve niedergeschmettert, und man macht uns einen Vorwurf daraus. Weiß man denn nicht, daß auch dies noch ein Akt der Gefühlsmäßigung war! Wenn man zwanzig guillotiniert, so sterben die letzten zwanzigmal voraus, hier aber gingen zwanzig Verräter gemeinsam zugrunde.« Und tatsächlich, diese abgenutzten Phrasen, hastig aus dem blutigen Tintenfaß des revolutionären Jargons herausgeholt, machen Eindruck, der Konvent und die Jakobiner nehmen Collots Erklärungen zustimmend auf und geben damit den Prokonsuln einen Freibrief zu weiteren Exekutionen. Am gleichen Tage feiert Paris die Beisetzung Chaliers im Pantheon – eine Ehre, die bisher nur Jean Jacques Rousseau und Marat erwiesen worden war, – und seine Konkubine erhält wie die Marats eine Pension. Öffentlich ist damit der Märtyrer zum Nationalheiligen gemacht und jede Gewalttätigkeit Fouchés und Collots als berechtigte Rache gebilligt.


Immerhin: eine gewisse Unsicherheit hat sich doch der beiden bemächtigt, denn die gefährliche Situation im Konvent, das Schwanken zwischen Danton und Robespierre, zwischen Mäßigung und Terror, erfordert erhöhte Vorsicht. So beschließen die beiden, die Rollen zu teilen: Collot d’Herbois bleibt in Paris, um die Stimmung in den Komitees und dem Konvent zu überwachen, jeden möglichen Angriff im voraus mit seiner brutalen Rednervehemenz niederzudröhnen, die Fortsetzung der Massaker bleibt der »Energie« Fouchés zugeteilt. Dies ist wichtig, festzustellen, daß während jener Zeit Joseph Fouché unumschränkter Alleingebieter war, denn in geschickter Weise hat er später versucht, alle Gewalttätigkeiten auf seinen offenherzigeren Kollegen abzuschieben: aber die Tatsachen zeigen, daß auch in der Zeit, da er allein gebietet, die Sense nicht minder mörderisch sauste. Vierundfünfzig, sechzig, hundert Menschen am Tage werden hingeknattert, auch in der Abwesenheit Collots stürzen die Mauern nieder, werden Häuser gebrandschatzt und die Gefängnisse durch Exekutionen geleert, und immer noch überbrüllt Joseph Fouché seine eigenen Taten mit begeisterten Blutworten: »Die Urteile dieses Tribunals mögen dem Verbrecher Schreck einflößen, aber sie beruhigen und trösten das Volk, das ihnen Gehör schenkt und sie billigt. Zu Unrecht denkt man von uns, wir hätten den Schuldigen auch nur ein einziges Mal die Ehre einer Begnadigung erwiesen: wir haben nicht eine einzige gewährt!«


Aber plötzlich – was ist geschehen? – ändert Fouché seinen Ton. Mit seiner feinen Witterung spürt er von ferne, der Wind im Konvent muß plötzlich umgeschlagen haben, denn auf seine grellen Exekutionsfanfaren tönt seit einiger Zeit kein rechtes Echo zurück. Seine jakobinischen Freunde, seine atheistischen Gesinnungsgenossen Hébert, Chaumette, Ronsin, sind auf einmal schweigsam geworden – sehr schweigsam und für immer, denn unerwartet zugreifend hat sie die unbarmherzige Hand Robespierres an der Gurgel gepackt. Zwischen den Allzuwilden und Allzumilden immer geschickt hin- und herpendelnd, bald nach rechts, bald nach links sich die Ellbogen freimachend, hat sich dieser moralische Tiger plötzlich aus dem Dunkel auf die Ultraradikalen geworfen. Er hat veranlaßt, daß Carrier, der in Nantes genau so radikal ersäufte, wie Fouché in Lyon füsilierte, zur Berichterstattung vor die Versammlung gefordert wird; er hat durch seinen Seelenknecht Saint-Just in Straßburg den wilden Eulogius Schneider auf die Guillotine holen lassen; er hat atheistische Volksschauspiele, wie Fouché sie in der Provinz und in Lyon gefeiert, öffentlich als Dummheiten gebrandmarkt und in Paris abgestellt. Und scheu und gehorsam wie immer folgen die beunruhigten Abgeordneten seinem Wink.


Die alte Angst überkommt Fouché: nicht mehr bei der Majorität zu sein. Die Terroristen sind umgelegt – wozu also länger Terrorist sein? Lieber rasch hinüber zu den Gemäßigten, zu Danton und Desmoulins, die jetzt ein »Tribunal der Milde« fordern, nur rasch den Mantel umgehängt nach der neuen Richtung des Windes. Plötzlich, am 6. Februar, befiehlt er, die Mitrailladen einzustellen, und nur zögernd setzt die Guillotine (von der er in seinen Pamphleten behauptet hat, sie arbeite zu langsam) ihren Dienst fort, schäbige zwei, drei Köpfe höchstens am Tag, wahrhaftig eine Kleinigkeit, verglichen mit den früheren Nationalfesten auf der Ebene von Brotteaux. Dafür schaltet er mit einemmal seine ganze Energie gegen die Radikalen ein, gegen die Veranstalter seiner Feste und Exekutoren seiner Befehle, aus einem revolutionären Saulus wird plötzlich ein humaner Paulus.


Glatt wirft er sich auf die Gegenseite, bezeichnet die Freunde Chaliers als eine »Arena der Anarchisten und des Aufruhrs«, löst brüsk ein oder zwei Dutzend revolutionäre Komitees auf. Und nun geschieht etwas sehr Merkwürdiges: die verängstigte, zu Tode erschreckte Bevölkerung von Lyon sieht auf einmal in dem Helden der Mitrailladen, Fouché, ihren Retter. Und die Revolutionäre von Lyon wiederum schreiben einen wütenden Brief nach dem andern, ihn der Lauheit, des Verrates und der »Unterdrückung der Patrioten« zu beschuldigen. Diese kühnen Wendungen, diese frechen Hinüber am hellichten Tag ins andere Lager, diese Fluchten zum Sieger sind Fouchés Geheimnis im Kampf. Und sie allein haben ihm das Leben gerettet. Er hat nach beiden Seiten gespielt. Wird er nun in Paris der übergroßen Milde angeschuldigt, so kann er auf die tausend Gräber hindeuten und auf die zerschmetterten Fassaden von Lyon. Klagt man ihn wiederum als Schlächter an, so vermag er sich auf die Anklagen der Jakobiner zu berufen, die ihn wegen seines »Moderantismus«, seiner allzu großen Mäßigung beschuldigen. Er kann, je wie der Wind weht, aus der rechten Tasche einen Beweis für Unerbittlichkeit und aus der linken für Menschlichkeit hervorholen, er kann jetzt sowohl als der Henker wie als der Retter von Lyon auftreten. Und tatsächlich, mit diesem geschickten Taschenspielertrick ist es ihm ja auch später gelungen, die ganze Verantwortung für die Massaker seinem offenherzigeren und geradlinigeren Kollegen Collot d’Herbois um den Hals zu hängen. Aber nur die Nachwelt gelingt es ihm zu täuschen: unerbittlich wacht in Paris Robespierre, der Feind, der ihm nicht verzeihen kann, daß er seinen eigenen Mann, Couthon, aus Lyon verdrängt hat. Er kennt vom Konvent her diesen Doppelzüngigen, unbestechlich verfolgt er alle diese Wendungen und Schiebungen Fouchés, der sich jetzt eilig vor dem Gewitter ducken will. Und das Mißtrauen Robespierres hat eiserne Krallen: ihnen entkommt man nicht. Am zwölften Germinal erzwingt er im Wohlfahrtsausschuß das drohende Dekret an Fouché, sofort nach Paris zu kommen und sich wegen der Vorgänge in Lyon zu verantworten. Der selbst grausam drei Monate zu Gericht gesessen, muß nun selbst vor das Tribunal. Vor das Tribunal, weshalb? Weil er zweitausend Franzosen in drei Monaten massakrieren ließ? Als Kollege Carriers und der andern Massenhenker, möchte man vermuten. Aber jetzt erst erkennt man die politische Genialität dieser verblüffend frechen letzten Wendung Fouchés: nein, er hat sich zu verantworten, die radikale »Société populaire« unterdrückt, die jakobinischen Patrioten verfolgt zu haben. Der »Mitrailleur de Lyon«, der Exekutor von zweitausend Opfern ist angeklagt – unvergeßliche Farce der Geschichte! – des edelsten Vergehens, das die Menschheit kennt: der übergroßen Menschlichkeit.

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.