An den unbekannten Geliebten


Von den Briefen Marcelinens an »Olivier«, den unbekannten Geliebten, sind im ganzen nur zwei durch den Zufall der Autographenkataloge aufgefunden worden – kaum als Briefe eigentlich anzusprechen, vielmehr »Zettelgen«, wie Goethe die hitzig raschen Botschaften an und von Frau von Stein nannte. Die wesentlichen sind vernichtet (oder wenn tatsächlich Henri de Latouche der Verführer war, im Jahre 1871 bei der deutschen Invasion mit allen dessen Dokumenten und dem Nachlaß André Chéniers verbrannt). Die vorliegenden beiden bilden nebst den Gedichten das einzige, was wir verbürgt von jener entscheidenden Episode besitzen, unzulänglich, sie zu erhellen, und nur flackernde Blitze in dem geheimnisvollen Dunkel jener tragischen Verstrickung.


An Olivier


Jänner 1809 oder 1810.


Komm morgen nicht, Vielgeliebter, ich habe tausenderlei lästige Arbeit, Pflichtbesuche. Gestern erhielt ich den Besuch eines – reichlich gepuderten – Mannes von Geist, der sich, um Gnade zu erlangen, zuerst auf die Kniee niederließ. Ich habe gelacht und die Huldigung seiner Bonbons und seiner Almanachs entgegengenommen. Was sage ich, das kostbarste Buch der Welt, da sich der Name all dessen, was ich liebe, darin befindet! Diesen Namen, der über mein Schicksal entscheiden wird, habe ich geküßt… Adieu, mein Olivier.


Und meine drei Brüder, meine drei Freunde? Bringe sie mir doch bitte mit, daß kein Tag ohne diese Arbeit vergeht. Denke daran, daß Du Dich dabei mit meinem Glück befassest. Ich will es, dieses geliebte Holzbein, diesen armen zerlumpten Dichter und besonders diesen häßlichen, interessanten Barbier.


Wie gut Du daran getan hast, sie nach Spanien zu versetzen, ihnen ist niemals kalt. Komm, komm Du dort hin, kleiner Freund. Komm, uns in reinster Sonne zu wärmen. Indessen werde ich Dich Samstag am Kamin meiner Freundin sehen.


1809 oder 1810.


Besinne Dich Deines Versprechens, teurer Vielgeliebter; vergiß nicht, daß ich eine Seele einzig nur dazu besitze, um Dich zu lieben, Dir zu folgen und an all Deinen Handlungen teilzunehmen.


Bleiben wir niemals mehrere Tage, ohne einander zu sehen; zu sehr habe ich gelitten; morgen um vier Uhr erwarte ich Dich. Liebe mich, mein kleiner Freund, gib meinem Herzen Antwort, o ich flehe Dich an, lieb mich recht! Das ist, als ob ich Dir sagte: Schenk mir das Leben. Deine Liebe ist mehr noch, Olivier, mein Olivier, mein Olivier. Du weißt nicht, bis zu welchem Grade Du mich glücklich oder unglücklich machen kannst.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.