Der Freund erscheint


Der Name und die Gestalt Hans Axel von Fersens waren lange von Geheimnis umhüllt gewesen. Er ist nicht erwähnt in jener öffentlich gedruckten Liebhaberliste, nicht in den Briefen der Gesandten, in den Berichten der Zeitgenossen, Fersen gehört nicht zu den bekannten Gästen des Salons der Polignac; überall, wo Helligkeit und Lichtschein ist, fehlt seine hohe, ernste Gestalt. Dank dieser klugen und berechneten Zurückhaltung entgeht er dem böswilligen Gerede des Hofklüngels, aber auch die Geschichte übersieht ihn lange, und vielleicht wäre das tiefste Lebensgeheimnis der Königin Maria Antoinette für immer im Dunkel geblieben; da verbreitet sich im zweiten Teil des vorigen Jahrhunderts mit einem Mal ein romantisches Gerücht. Auf einem schwedischen Schlosse, unnahbar und versiegelt, lägen ganze Stöße intimer Briefe Marie Antoinettes aufbewahrt. Niemand schenkt zuerst diesem unwahrscheinlichen Gerede Glauben, bis dann plötzlich eine Ausgabe jener Geheimkorrespondenz erscheint, die – trotz grausamster Kastrierung aller intimer Einzelheiten – mit einem Schlag diesen unbekannten nordischen Adeligen an die erste, die bevorzugte Stelle unter allen Freunden Marie Antoinettes rückt. Diese Veröffentlichung verschiebt von Grund auf das ganze Charakterbild der bisher als leichtfertig geltenden Frau; ein Seelendrama wird offenbar, großartig und gefahrvoll, ein Idyll halb im Schatten des Königshofs, halb schon in dem der Guillotine, einer jener erschütternden Romane, wie sie derart unwahrscheinlich nur die Geschichte selbst zu erdichten wagt: zwei Menschen in brennender Liebe einander ergeben, durch Pflicht und Vorsicht gezwungen, ihr Geheimnis aufs ängstlichste zu verbergen, immer wieder auseinandergerissen und immer wieder zueinanderstrebend aus ihren gestirnweiten Welten, die eine Königin von Frankreich, der andere ein kleiner fremder Junker aus Nordland. Und hinter diesem Zweimenschenschicksal eine stürzende Welt, apokalyptische Zeit – ein flammendes Blatt Geschichte, und um so erregender, weil man sich aus halbverwischten und verstümmelten Chiffren und Zeichen nur allmählich die ganze Wahrheit der Geschehnisse enträtseln kann.


Dieses große historische Liebesdrama beginnt gar nicht pompös, sondern ganz und gar im Rokokostil der Zeit; sein Vorspiel wirkt wie abgeschrieben aus dem Faublas. Ein junger Schwede, Sohn eines Senators, Erbe hochadeligen Namens, wird fünfzehnjährig in Begleitung eines Hauslehrers für drei Jahre auf Reisen geschickt – noch heute nicht die schlechteste Erziehungsmethode, um weltmännisch zu werden. Hans Axel studiert in Deutschland die hohe Schule und das Kriegshandwerk, in Italien Medizin und Musik, in Genf macht er den damals unerläßlichen Besuch bei der Pythia aller Weisheit, bei Herrn Voltaire, der ihn, den vertrockneten federleichten Leib in gestickten Schlafrock gewickelt, gütig empfängt. Damit hat Fersen das geistige Bakkalaureat erobert. Jetzt fehlt dem Achtzehnjährigen nur noch der letzte Schliff: Paris, der feine Konversationston, die Kunst der guten Manieren, dann ist der typische Bildungsgang eines jungen Adeligen aus dem Dix-huitième vollendet. Nun kann der perfekte Kavalier Gesandter werden, Minister oder General, die obere Welt steht ihm offen.


Zu Adel, persönlichem Anstand, einer gemessenen sachlichen Klugheit, zu einem großen Vermögen und dem Nimbus des Ausländers bringt der junge Hans Axel von Fersen noch einen besonderen Kreditbrief mit: er ist ein bildschöner Mann. Aufrecht, breitschultrig, stark gemuskelt wirkt er, wie meist die Skandinavier, männlich, ohne darum gleich plump-massiv zu sein; mit uneingeschränkter Sympathie betrachtet man auf den Bildern sein offenes regelmäßiges Gesicht mit den klaren festen Augen, über die sich, rund wie Türkensäbel, zwei auffallend schwarze Augenbrauen wölben. Eine freie Stirn, ein warmer sinnlicher Mund, der, wie wunderbar bewiesen, tadellos zu schweigen versteht: man kann nach den Bildern begreifen, daß eine wirkliche Frau solch einen Mann liebt, und mehr noch, daß sie sich menschlich auf ihn verläßt. Als Causeur, als homme d’esprit, als besonders amüsanten Gesellschafter rühmen allerdings Fersen die wenigsten, aber mit seiner etwas trockenen und hausbackenen Intelligenz verbindet sich menschliche Offenheit und ein natürlicher Takt; schon 1774 kann der Botschafter an König Gustav stolz berichten: »Von allen Schweden, die zu meiner Zeit sich hier aufgehalten haben, war er es, der in der großen Welt am besten aufgenommen wurde.«


Dabei ist dieser junge Kavalier kein Griesgram und Kostverächter, die Damen rühmen ihm ein »cœur de feu« unter einer Hülle von Eis nach, er vergißt in Frankreich nicht, sich zu amüsieren, und besucht in Paris fleißig alle Bälle des Hofes und der großen Gesellschaft. Da begegnet ihm nun ein erstaunliches Abenteuer. Eines Abends, am 30. Januar 1774, auf dem Opernball, dem Treffpunkt der eleganten und auch der zweifelhaften Welt, steuert eine auffallend vornehm gekleidete schlanke junge Frau mit schmaler Taille und ungemein beschwingtem Gang auf ihn zu und beginnt, von der Samtmaske geschützt, ein galantes Gespräch. Fersen, geschmeichelt über diese Auszeichnung, geht vergnügt auf den muntern Ton ein, findet seine aggressive Partnerin pikant und amüsant, vielleicht macht er sich bereits allerhand Hoffnungen für die Nacht. Da fällt ihm aber auf, daß allmählich einige andere Herren und Damen sich, neugierig wispernd, im Kreis um sie beide scharen, er sieht sich selber und jene maskierte Dame Mittelpunkt einer immer lebhafteren Aufmerksamkeit werden. Endlich, die Situation ist bereits peinlich geworden, nimmt die galante Intrigantin die Maske ab: es ist Marie Antoinette – unerhörter Fall in den Annalen des Hofes –, die Thronfolgerin Frankreichs, die wieder einmal dem tristen Ehebett ihres schläfrigen Gemahls entwichen, auf die Opernredoute gefahren war und sich einen fremden Kavalier zum Plaudern geholt hat. Die Hofdamen verhüten allzu großes Aufsehen. Sofort umringen sie die extravagante Ausreißerin und führen sie in ihre Loge zurück. Aber was bleibt in diesem geschwätzigen Versailles Geheimnis? Jeder raunt und staunt über die etikettewidrige Gunst der Dauphine, morgen schon wird wahrscheinlich verärgert der Botschafter Mercy bei Maria Theresia Klage führen, und von Schönbrunn wird mit Eilkurieren einer jener bitteren Briefe an den »tête à vent«, den Windkopf Tochter, geschickt werden, sie solle doch endlich diese unpassenden »dissipations« lassen und sich nicht mit Krethi und Plethi auf diesen verdammten Redouten ins Gerede bringen. Aber Marie Antoinette hat ihren Willen durchgesetzt, der junge Mann hat ihr gefallen, sie hat es ihm gezeigt. Seit jenem Abend wird der dem Rang und der Stellung nach gar nicht sonderlich hervorragende junge Kavalier mit besonderer Freundlichkeit bei den Bällen von Versailles empfangen. Hat sich schon damals, nach so vielverheißendem Anfang, eine gewisse Neigung zwischen beiden entwickelt? Man weiß es nicht. Jedenfalls unterbricht bald ein großes Ereignis diesen – zweifellos unschuldigen – Flirt, denn die kleine Prinzessin wird über Nacht durch den Tod Ludwigs XV. Königin von Frankreich. Zwei Tage später – hat man ihm einen Wink gegeben? – reist Hans Axel von Fersen nach Schweden zurück.


Der erste Akt ist zu Ende. Er war nicht mehr als eine galante Einleitung, ein Vorspiel des eigentlichen Spieles. Zwei Achtzehnjährige sind einander begegnet und haben aneinander Gefallen gefunden, voilà tout – ins Gegenwärtige übersetzt: eine Tanzstundenfreundschaft, eine Gymnasiastenliebelei. Noch ist nichts Wesentliches geschehen, noch die Tiefe des Gefühls nicht berührt.


Zweiter Akt: Nach vier Jahren, 1778, reist Fersen neuerdings nach Frankreich: der Vater hat den Zweiundzwanzigjährigen ausgeschickt, sich eine reiche Gattin zu ködern, entweder ein Fräulein von Reyel in London, oder Fräulein Necker, die Tochter des Genfer Bankiers, als Madame de Staël später weltberühmt. Aber Axel Fersen zeigt keine sonderliche Neigung zum Ehestand, und bald begreift man, weshalb. Kaum angekommen, stellt sich der junge Edelmann im Galakleid bei Hofe vor. Kennt man ihn noch? Wird sich noch jemand seiner erinnern? Mürrisch nickt der König, gleichgültig blicken die andern auf den unbedeutenden Ausländer, niemand wendet an ihn ein höfliches Wort. Nur die Königin, kaum daß sie seiner ansichtig wird, ruft ungestüm: »Ah, c’est une vieille connaissance«, »Ah, wir kennen einander doch schon lange.« Nein, sie hat ihn nicht vergessen, ihren schönen nordischen Kavalier, sofort flammt – es war doch kein Strohfeuer! – ihr Interesse wieder auf. Sie lädt Fersen zu ihren Gesellschaften, sie überhäuft ihn mit Liebenswürdigkeiten; genau wie zu Beginn ihrer Bekanntschaft auf dem Opernball ist es Marie Antoinette, die den ersten Schritt tut. Bald kann Fersen seinem Vater berichten: »Die Königin, die liebenswürdigste Fürstin, die ich kenne, hatte die Güte, sich nach mir zu erkundigen. Sie hat Creutz gefragt, warum ich nicht zu ihrer sonntäglichen Spielpartie käme, und als sie hörte, daß ich an einem Tage abgesagten Empfangs gekommen war, hat sie sich gewissermaßen bei mir entschuldigt.« »Furchtbare Gunst dem Knaben«, ist man versucht, mit Goethe zu sprechen, wenn diese Hochmütige, die selbst Herzoginnen den Gruß nicht erwidert, die sieben Jahre einem Kardinal von Rohan und vier Jahre einer Dubarry kein Kopfnicken gewährt, sich bei einem kleinen zugereisten Edelmann entschuldigt, weil er sich einmal vergebens nach Versailles bemüht hat. »Jedesmal, wenn ich meine Aufwartung bei ihrer Spielgesellschaft mache, spricht sie mich an«, meldet wenige Tage später der junge Kavalier seinem Vater. Gegen alle Etikette bittet die »liebenswürdigste Fürstin« den jungen Schweden, er möge doch einmal in seiner heimatlichen Uniform nach Versailles kommen, sie wolle unbedingt – Laune einer Verliebten! – sehen, wie diese fremde Tracht ihn kleide. Selbstverständlich erfüllt der »beau Axel« diesen Wunsch. Das alte Spiel hat wieder neu begonnen.


Nur: diesmal ist es ein schon gefährliches Spiel für eine Königin, die der Hof mit tausend Argusaugen überwacht. Marie Antoinette müßte jetzt vorsichtiger sein, denn sie ist nicht mehr die kleine achtzehnjährige Prinzessin von einst, entschuldigt durch Kindlichkeit und Jugend, sondern Königin von Frankreich. Aber ihr Blut ist wach geworden. Endlich, nach sieben entsetzlichen Jahren, ist dem ungeschickten Ehemann Ludwig XVI. die eheliche Leistung gelungen, er hat die Königin wirklich zur Gattin gemacht. Aber doch, was muß diese feinfühlige Frau empfinden, wenn sie, aufgeblüht zu voller und fast üppiger Schönheit, diesen Dickbauch mit ihrem jungen strahlenden Liebling vergleicht! Ohne daß es ihr selber bewußt wird, beginnt die zum erstenmal leidenschaftlich Verliebte durch gehäufte Artigkeiten und mehr noch durch eine gewisse errötende Verwirrung ihr Gefühl für Fersen vor allen Neugierigen zu verraten. Wieder, wie so oft, wird Marie Antoinette ihre menschlich sympathischste Eigenschaft gefährlich: daß sie in Neigung oder Abneigung sich nicht verstellen kann. Eine Hofdame behauptet, deutlich bemerkt zu haben, daß, als einmal Fersen unvermutet eintrat, die Königin in süßem Erschrecken zu zittern begonnen habe; ein andermal, als sie, am Klavier sitzend, die Arie der Dido singt, geschieht es ihr, daß sie vor dem ganzen Hof bei den Worten »Ah que je fus bien inspirée, quand je vous reçus dans ma cour« die sonst so kühlen blauen Augen schwärmerisch-zärtlich auf den heimlich (und nun nicht mehr heimlich) Erwählten ihres Herzens richtet; schon regt sich das Geschwätz. Bald verfolgt die ganze Hofgesellschaft, für die königliche Intimitäten das wichtigste Weltereignis sind, mit leidenschaftlicher Lüsternheit die Lage: wird sie ihn zum Liebhaber nehmen, und wie und wann? Denn schon hat sich ihr Gefühl zu offenkundig eingelassen, als daß nicht jeder merkte, was einzig sie selber nicht bewußt weiß, nämlich, daß Fersen jede Gunst, auch die letzte, der jungen Königin gewinnen könnte, wenn er den Mut oder den Leichtsinn hätte, nach seiner Beute zu greifen.


Aber Fersen ist Schwede, ein ganzer Mann und Charakter: bei Nordländern kann eine starke romantische Anlage ungehindert Hand in Hand gehen mit einem ruhigen und beinahe nüchternen Verstand. Er übersieht sofort das Unhaltbare der Situation. Die Königin hat für ihn ein Faible, niemand weiß dies besser als er, aber sosehr er seinerseits diese junge reizende Frau liebt und verehrt, es widerstrebt seiner Rechtschaffenheit, eine solche sinnliche Schwäche frivol zu mißbrauchen und die Königin unnütz ins Gerede zu bringen. Offene Liebschaft würde einen beispiellosen Skandal hervorrufen: schon durch ihre platonischen Gunstbezeigungen hat sich Marie Antoinette genug kompromittiert. Anderseits, eine Josephsrolle zu spielen, die Gunstbezeigungen einer jungen, schönen, geliebten Frau keusch und kühl abzulehnen, dazu fühlt sich Fersen doch wieder zu heiß und jung. So tut dieser prachtvolle Mann das Nobelste, was ein Mann in einer solchen heiklen Lage tun kann – er stellt tausend Meilen zwischen sich und die gefährdete Frau, er meldet sich rasch zur Armee nach Amerika als Adjutant Lafayettes. Er zerschneidet den Faden, ehe er sich unlösbar und tragisch verwickelt.


Über diesen Abschied der Liebenden besitzen wir ein unanzweifelbares Dokument, jenes offizielle Schreiben des schwedischen Gesandten an König Gustav, das die leidenschaftliche Neigung der Königin zu Fersen historisch bezeugt. Der Botschafter schreibt: »Ich muß Eurer Majestät mitteilen, daß der junge Fersen von der Königin so wohl gesehen war, daß dies bei einigen Personen Verdacht erregte. Ich muß gestehen, ich glaube selbst, daß sie eine Neigung für ihn hat; ich habe zu deutliche Anzeichen davon wahrgenommen, als daß ich zweifeln könnte. Der junge Graf Fersen hat bei dieser Gelegenheit musterhafte Haltung bewiesen durch seine Bescheidenheit, seine Zurückhaltung und vor allem dadurch, daß er sich entschlossen hat, nach Amerika zu gehen. Dadurch, daß er abgereist ist, hat er alle Gefahren ausgeschaltet; einer solchen Versuchung aber zu widerstehen, bedingte zweifellos Entschlossenheit über sein Alter. Während der letzten Tage konnte die Königin nicht die Augen von ihm wenden, und wenn sie ihn anblickte, waren sie mit Tränen gefüllt. Ich bitte Eure Majestät, dies Geheimnis für sich und den Senator Fersen allein zu behalten. Als die Günstlinge am Hofe von der Abfahrt des Grafen hörten, waren sie alle entzückt, und die Herzogin von Fitz-James sagte ihm: ›Wie, mein Herr, Sie lassen Ihre Eroberung im Stich?‹ ›Hätte ich eine gemacht, so würde ich sie nicht im Stich lassen. Ich reise frei ab und ohne Bedauern.‹ Majestät werden zugeben, daß diese Antwort von einer Klugheit und Zurückhaltung über seine Jahre war. Übrigens zeigt jetzt die Königin viel mehr Beherrschung und Klugheit als früher.«


Dieses Dokument schwenken die Verteidiger der »Tugend« Marie Antoinettes seitdem unentwegt als Fahne ihrer blütenweißen Unschuld. Fersen hat sich im letzten Augenblick einer ehebrecherischen Neigung entzogen, in bewundernswertem Verzicht haben die beiden Liebenden einander entsagt, die große Leidenschaft ist »rein« geblieben, so argumentieren sie. Aber dieser Beweis beweist gar nichts Endgültiges, sondern nur das vorläufige Faktum, daß es damals, 1779, zwischen Marie Antoinette und Fersen noch nicht zu letzten Vertraulichkeiten kam. Erst die nächsten Jahre werden die entscheidend gefährlichen dieser Leidenschaft. Wir sind erst am Ende des zweiten Aktes und noch weit von ihrer tiefsten Verstrickung.


Dritter Akt: abermalige Wiederkehr Fersens. Geradeaus von Brest, wo er nach vierjährigem freiwilligen Exil im Juni 1783 mit dem amerikanischen Hilfskorps landet, eilt er nach Versailles. Brieflich war er mit der Königin von Amerika aus in Verbindung geblieben, doch Liebe will lebendige Gegenwart. Nur jetzt sich nicht mehr wieder trennen müssen, endlich sich nah verwurzeln, keine Ferne mehr zwischen Blick und Blick! Offenbar auf Wunsch der Königin bewirbt sich Fersen sofort um ein französisches Regimentskommando; weshalb: dies Rätsel kann der alte sparsame Vater Senator in Schweden sich nicht lösen. Warum will Hans Axel durchaus in Frankreich bleiben? Als erprobtem Soldaten, als Erben altadeligen Namens, als dem Liebling des romantischen Königs Gustav steht ihm doch daheim jede beliebige Stellung zur Wahl. Warum durchaus in Frankreich, fragt immer wieder ärgerlich der enttäuschte Senator. Um eine reiche Erbin zu heiraten, das Fräulein Necker mit ihren schweizer Millionen, schwindelt eilig der Sohn dem ungläubigen Vater vor. Aber daß er in Wahrheit an alles, nur nicht an eine Heirat denkt, verrät sein gleichzeitiger intimer Brief an die Schwester, in den er ganz blank den Schlüssel seines Herzens legt. »Ich habe den Entschluß gefaßt, niemals ein eheliches Bündnis einzugehen, es wäre unnatürlich… Der Einzigen, der ich angehören möchte und die mich liebt, kann ich nicht angehören. So will ich niemandem gehören.«


Ist das deutlich genug? Muß man noch fragen, wer diese »Einzige« war, die ihn liebt und der er ehelich nie angehören kann – sie, »elle«, wie er kurz die Königin in seinen Tagebüchern nennt? Entscheidende Dinge müssen geschehen sein, daß er sich selbst, daß er der Schwester die Zuneigung Marie Antoinettes so sicher, so offen zu bekennen wagt. Und wenn er dem Vater von »tausend persönlichen Gründen, die er dem Papier nicht anvertrauen könne«, schreibt, die ihn in Frankreich zurückhielten, so steht hinter den tausend Gründen nur dieser einzige, den er nicht mitteilen will, nämlich der Wunsch oder Befehl Marie Antoinettes, den erwählten Freund dauernd nahe zu haben. Denn kaum daß Fersen jetzt um sein Regimentskommando einkommt, wer hat schon wieder »die Gnade, sich in die Angelegenheit einzumengen« – Marie Antoinette, die sich sonst nie mit militärischen Ernennungen befaßte. Und wer meldet – entgegen allem Brauch – die bald durchgesetzte Verleihung der Charge dem König von Schweden? Nicht der oberste Kriegsherr, die einzig zuständige Stelle, sondern in einem handschriftlichen Brief seine Frau, die Königin.


In diese oder die folgenden Jahre ist mit äußerster Wahrscheinlichkeit der Beginn jener innigen oder vielmehr innigsten Beziehung zwischen Marie Antoinette und Fersen anzusetzen. Zwei Jahre freilich muß Fersen noch – sehr widerwillig – König Gustav auf seinen Reisen als Adjutant begleiten, dann aber, 1785, bleibt er endgültig in Frankreich. Und diese Jahre haben Marie Antoinette entscheidend verwandelt. Die Halsbandaffäre hat die allzu Weltgläubige vereinsamt und ihr den Sinn für das Wesenhafte aufgetan. Sie hat sich zurückgezogen aus dem wirbligen Kreis der Geistreich-Unverläßlichen, der Amüsant-Verräterischen, der Galant-Verspielten; statt der vielen Wertlosen sieht ihr bisher enttäuschtes Herz jetzt einen wirklichen Freund. Unter dem allgemeinen Haß ist ihr Bedürfnis nach Zärtlichkeit, nach Verläßlichkeit, nach Liebe unermeßlich gewachsen; nun ist sie reif, sich nicht länger eitel und töricht an den Spiegelschein allgemeiner Bewunderung zu verschwenden, sondern sich einem Menschen mit aufgeschlossener und entschlossener Seele hinzugeben. Und Fersen wieder, herrlich ritterliche Natur, liebt diese Frau eigentlich erst ganz mit der Fülle seines Gefühls, seit er sie verleumdet, verunglimpft, verfolgt und bedroht weiß; er, der zurückscheute vor ihrer Gunst, solange sie von der Welt vergöttert, von tausend Schmeichlern umringt war, wagt erst, sie zu lieben, seit sie hilfsbedürftig und einsam geworden ist. »Sie ist sehr unglücklich«, schreibt er seiner Schwester, »und ihr Mut, der über alles bewundernswert ist, macht sie noch anziehender. Meine einzige Kränkung ist, sie nicht ganz für alle ihre Leiden entschädigen und sie nicht so glücklich machen zu können, wie sie es verdiente.« Je unglücklicher sie wird, je verlassener, verstörter, um so mächtiger wächst sein männlicher Wille, durch Liebe ihr alles zu entgelten, »elle pleure souvent avec moi, jugéz, si je dois l’aimer«. Und je näher die Katastrophe rückt, um so stürmischer, tragischer drängen die beiden zusammen, sie, um noch einmal für unermeßlich viel Enttäuschung ein letztes Glück bei ihm zu finden, er, um durch seine ritterliche Liebe, durch seine restlose Aufopferung ihr ein verlorenes Königtum zu ersetzen.


Nun diese einstmals oberflächliche Neigung eine seelische geworden ist, die Liebelei zur Liebe, machen beide alle denkbare Anstrengung, ihre Beziehung vor der Welt verborgen zu halten. Um jeden Verdacht zu zerstreuen, läßt Marie Antoinette dem jungen Offizier nicht etwa Paris als Garnison zuweisen, sondern das nahe der Grenze gelegene Valenciennes. Und wenn »man« (so heißt es zurückhaltend in Fersens Tagebuche) ihn in das Schloß beruft, so verbirgt er mit allen Künsten dies wirkliche Reiseziel vor allen Freunden, damit man sich aus seiner Anwesenheit in Trianon keinen billigen Reim machen könne. »Sage niemandem, daß ich Dir von hier schreibe«, ermahnt er seine Schwester aus Versailles, »denn ich datiere alle andern Briefe aus Paris. Leb wohl, ich muß jetzt zur Königin.« Nie besucht Fersen die Gesellschaft der Polignacs, nie läßt er sich im intimen Kreise von Trianon blicken, nie tut er mit bei den Schlittenfahrten, Bällen, Spielpartieen: dort sollen die Scheingünstlinge der Königin weiterhin möglichst auffällig paradieren, denn gerade mit ihren Galanterieen helfen sie ahnungslos mit, das wirkliche Geheimnis vor dem Hof zu verschatten. Sie herrschen bei Tag, Fersens Reich ist die Nacht. Sie huldigen und reden, Fersen wird geliebt und schweigt. Saint-Priest, der Wohleingeweihte, der alles wußte, nur nicht, daß seine eigene Frau in Fersen vernarrt war und ihm glühende Liebesbriefe schrieb, berichtet mit jener Sicherheit, die seine Behauptungen gültiger macht als die aller andern: »Fersen begab sich drei- oder viermal jede Woche nach Trianon. Die Königin, ohne jedes Gefolge, tat das gleiche, und diese Rendezvous verursachten öffentliches Gerede ungeachtet der Bescheidenheit und Zurückhaltung des Günstlings, der äußerlich nie seine Stellung betonte und von allen Freunden der Königin der diskreteste war.« Allerdings, es sind innerhalb von fünf Jahren immer nur abgestohlene, knappe, flüchtige Stunden des Zusammenseins, die den Liebenden allein gegönnt sind, denn trotz persönlichen Muts und der Verläßlichkeit ihrer Kammerfrauen darf Marie Antoinette nicht zuviel wagen; erst 1790, kurz vor dem Abschied, kann Fersen in verliebter Seligkeit berichten, er habe endlich einen ganzen Tag »mit ihr«, »avec elle«, sein dürfen. Nur zwischen Nacht und Morgen, im Schatten des Parks, vielleicht in einem der unübersichtlich in Trianon verstreuten kleinen Dorfhäuschen des Hameau kann die Königin ihren Cherubin erwarten; die Gartenszene aus »Figaro« mit ihrer zärtlich romantischen Musik, sie spielt sich in den Bosketts von Versailles und den mäandrischen Wegen Trianons geheimnisvoll zu Ende. Aber schon dröhnt, großartig präludiert mit den harten Schlägen der Don-Juan-Musik, vor der Tür der steinerne, zermalmende Schritt des Komturs; der dritte Akt geht aus der Rokokozärtlichkeit in den großen Stil der Revolutionstragödie über. Erst der letzte, vom Schauer des Bluts und der Gewalt mächtig emporgestufte, wird das Crescendo bringen, Verzweiflung des Abschieds, Ekstase des Untergangs.


Jetzt erst, in äußerster Gefahr, da alle andern sich verflüchtigen, tritt der vor, der sich in den Zeiten des Glücks vornehm verborgen, der wirkliche, der einzige Freund, bereit, mit ihr und für sie zu sterben; prachtvoll männlich konturiert sich jetzt Fersens bisher verschattete Gestalt vor dem fahlen Gewitterhimmel der Zeit. Je mehr die Geliebte bedroht ist, um so mehr wächst seine Entschlossenheit; unbekümmert setzen beide sich über die konventionellen Grenzen hinweg, die zwischen einer habsburgischen Prinzessin, einer Königin von Frankreich, und einem fremden schwedischen Edeljunker bisher gesetzt waren. Jeden Tag erscheint Fersen im Schloß, alle Briefe gehen durch seine Hand, jeder Entschluß wird mit ihm erwogen, die schwierigsten Aufgaben, die gefährlichsten Geheimnisse ihm anvertraut, er kennt als einziger alle Absichten Marie Antoinettes, alle ihre Sorgen und Hoffnungen, er allein auch ihre Tränen, ihre Verzagtheiten und ihre erbitterte Trauer. Gerade im Augenblick, da alles sie verläßt, da sie alles verliert, findet die Königin, was sie ein ganzes Leben lang vergeblich gesucht: den ehrlichen, den aufrechten, den männlich-mutigen Freund.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.