Die Freunde fliehen
Man hat viel gespottet über Ludwig XVI., daß er am 14. Juli 1789, aus dem Schlaf geschreckt, auf die Nachricht vom Fall der Bastille hin nicht sofort dies eben in die Welt getretene Wort »Revolution« in seiner ganzen Tragweite begriffen habe. Aber »es ist allzu leicht«, erinnert Maurice Maeterlinck in dem berühmten Kapitel aus »Weisheit und Schicksal« die nachträglich Klugen, »das einzusehen, was man hätte tun sollen, in einem Zeitpunkt, da man schon von allem Kenntnis hat, was sich ereignete«. Zweifellos, weder der König noch die Königin haben bei den ersten Sturmzeichen auch nur annähernd das Zerstörungsfeld dieses Erdstoßes überblickt, aber, andere Frage: Wer von allen Zeitgenossen hat in dieser ersten Stunde schon das Ungeheure gefühlt, das hier seinen Anfang nahm, wer selbst von denen, welche die Revolution entzündeten und entfachten? Alle die Führer der neuen Volksbewegung, Mirabeau, Bailly, Lafayette, sie ahnen selber doch nicht im entferntesten, wie weit diese entfesselte Kraft sie über ihr Ziel hinaus führen und gegen den eigenen Willen mitreißen wird, denn 1789 sind selbst die grimmigsten der späteren Revolutionäre, Robespierre, Marat, Danton, noch durchaus überzeugte Royalisten. Erst durch die Französische Revolution selbst hat der Begriff »Revolution« jenen weiten, wilden und welthistorischen Sinn bekommen, in dem wir ihn heute sprachlich gebrauchen. Erst die Zeit hat ihn in Blut und Geist geprägt und nicht schon die erste Stunde. Merkwürdiges Paradoxon nun: nicht dies wurde für König Ludwig XVI. so verhängnisvoll, daß er die Revolution nicht verstehen konnte, sondern gerade das Gegenteil: daß dieser mittelbegabte Mann sich in der rührendsten Weise bemühte, sie zu verstehen. Ludwig XVI. las gern Geschichte, und nichts hatte dem schüchternen Knaben einen tieferen Eindruck gemacht, als daß ihm einmal der berühmte Herr David Hume, der Verfasser der ›Geschichte Englands‹, persönlich vorgestellt wurde, denn dieses Buch war sein Lieblingsbuch. Darin hatte er schon als Dauphin besonders jenes Kapitel mit besonderer Spannung gelesen, das schilderte, wie gegen einen anderen König, den König Karl von England, Revolution gemacht wurde und er schließlich hingerichtet: dieses Beispiel wirkte als mächtige Warnung auf den ängstlichen Thronkandidaten. Und als dann eine ähnliche Unzufriedenheitsbewegung in seinem eigenen Lande begann, meinte Ludwig XVI. sich am besten sicher zu stellen, wenn er immer wieder dieses Buch studierte, um aus den Fehlern seines unglücklichen Vorläufers rechtzeitig zu lernen, wie es ein König im Falle eines solchen Aufruhrs nicht machen dürfe: wo jener heftig gewesen, wollte er nachgiebig sein, damit hoffte er, dem schlimmen Ende zu entweichen. Gerade aber dieses Verstehenwollen der Französischen Revolution aus der Analogie einer ganz anders gearteten wurde dem König zum Verhängnis. Denn nicht nach vertrockneten Rezepten, nach immer ungültigen Vorbildern darf ein Herrscher in welthistorischen Sekunden seine Entscheidungen treffen: nur der seherische Augenblick des Genies kann in der Gegenwart das Rettende und Richtige erkennen, nur heroisch vorstoßende Tat kann die wilden und verworren andrängenden Kräfte des Elementaren bändigen. Nie aber wird ein Sturm beschworen, indem man die Segel einzieht; er wütet darum dennoch fort in ungebrochener Kraft, bis er sich selbst erschöpft und beruhigt hat.
Dies die Tragödie Ludwigs XVI.: er wollte das ihm Unverständliche verstehen, indem er nachschlug in der Geschichte wie in einem Schulbuch, und sich vor der Revolution schützen, indem er alles Königliche in seiner Haltung ängstlich preisgab. Anders Marie Antoinette: sie hat nicht Bücher um Rat gefragt und kaum einen Menschen. Zurückdenken und Vorausdenken war selbst in Augenblicken höchster Gefahr nicht ihre Art, jedes Berechnen und Kombinieren lag ihrem spontanen Charakter fern. Ihre menschliche Stärke beruhte einzig auf dem Instinkt. Und dieser Instinkt sagt vom ersten Augenblick an ein schroffes Nein zur Revolution. In einem Königsschlosse geboren, im Gottesgnadentum erzogen, von ihren Herrscherrechten als einer göttlichen Gegebenheit überzeugt, betrachtet sie von vornherein jeden Rechtsanspruch der Nation als eine ungebührliche Auflehnung des Pöbels: immer ist derjenige, der für sich selber alle Freiheiten und jedes Recht beansprucht, am wenigsten geneigt, sie auch andern zuzubilligen. Marie Antoinette läßt sich weder innerlich noch äußerlich auf eine Diskussion ein; wie ihr Bruder Joseph sagt sie: »Mon métier est d’être royaliste.« »Meine Aufgabe ist einzig, den Standpunkt des Königs zu vertreten.« Ihr Platz ist oben, der des Volkes unten: sie will nicht hinab, das Volk darf nicht empor. Vom Sturm der Bastille bis zum Schafott fühlt sie sich jede Sekunde unerschütterlich im Recht. Nicht einen Augenblick paktiert sie innerlich mit der neuen Bewegung: alles Revolutionäre bedeutet ihr nur ein verschönerndes Wort für Rebellion. Diese hochmütig harte, diese unerschütterlich starre Haltung Marie Antoinettes gegen die Revolution enthält aber (zumindest im Anfang) nicht die geringste Feindseligkeit gegen das Volk. Im gemütlicheren Wien herangewachsen, sieht Marie Antoinette das Volk, »le bon peuple«, als ein durchaus gutartiges, nicht sehr vernünftiges Wesen an; felsenfest glaubt sie, eines Tages werde die brave Herde sich selbst enttäuscht von diesen Aufhetzern und Wortmachern abwenden und an die gute Krippe, zum angestammten Herrscherhause, zurückfinden. Ihr ganzer Haß geht darum gegen die »factieux«, gegen diese Verschwörer, Aufwiegler, Klubisten, Demagogen, Redner, Streber und Atheisten, die im Namen verworrener Ideologieen oder aus ehrgeizigen Interessen dem biedern Volk Ansprüche gegen Thron und Altar einreden wollen. »Un amas de fous, de scélérats«, eine Ansammlung von Narren, Lumpen und Verbrechern, nennt sie die Abgeordneten von zwanzig Millionen Franzosen, und wer jener Rotte Korah nur eine Stunde angehört hat, ist für sie erledigt, wer überhaupt mit diesen Neuerungswütigen spricht, bereits verdächtig. Kein Wort des Dankes hört Lafayette, der dreimal das Leben ihres Gatten und ihrer Kinder unter Einsatz des eigenen rettet: lieber zugrunde gehen, als sich von diesem eitlen Buhler um die Volksgunst retten lassen! Niemals, auch nicht im Gefängnis, wird sie ihren Richtern, die sie nicht anerkennt und Henker nennt, nie einem der Abgeordneten die Ehre einer Bitte erweisen; mit der ganzen Trotzkraft ihres Charakters beharrt sie bei ihrer unbeugsamen Abwehr gegen jedes Kompromiß. Vom ersten Augenblick bis zum letzten hat Marie Antoinette die Revolution einzig als eine unsaubere, von den niedrigsten und gemeinsten Instinkten der Menschheit aufgewühlte Schlammwelle betrachtet; sie hat nichts von ihrem welthistorischen Recht, von ihrem aufbauenden Willen verstanden, weil sie entschlossen war, nur ihr eigenes Königsrecht zu verstehen und zu behaupten.
Dieses Nichtverstehenwollen war Marie Antoinettes historischer Fehler: man leugne es nicht. Überschau gedanklicher Zusammenhänge, seelischer Tiefblick war dieser durchaus mittleren und politisch engstirnigen Frau weder durch Erziehung noch durch inneren Willen gegeben, immer war nur das Menschliche, das Nahe, das Sinnliche ihr faßbar. Von der Nähe aber, vom Menschlichen aus gesehen, wird jede politische Bewegung trüb, jederzeit verzerrt sich das Bild einer Idee, sobald sie sich irdisch verwirklicht. Marie Antoinette beurteilt – wie könnte sie es anders? – die Revolution nach den Menschen, die sie führen; und wie immer in Umsturzzeiten, waren hier die Lautesten nicht die Redlichsten und Besten. Muß es die Königin nicht mißtrauisch machen, daß es gerade die Verschuldeten und Verrufenen unter den Aristokraten sind, die sittlich Verderbtesten, wie Mirabeau und Talleyrand, die als erste ihr Herz für die Freiheit entdecken? Wie soll sich Marie Antoinette die Sache der Revolution als eine ehrliche und ethische denken, wenn sie den geizigen, gierigen, den zu jedem schmutzigen Geschäft bereiten Herzog von Orléans für die neue Brüderlichkeit schwärmen sieht? Wenn die Nationalversammlung als ihren Liebling Mirabeau erwählt, diesen Schüler Aretins sowohl im Sinne der Bestechlichkeit als in jenem der Zotenschreiberei, diesen Abschaum des Adels, der wegen Entführung und anderer dunkler Geschichten in allen Gefängnissen Frankreichs gesessen hat und dann als Spion sein Leben gefristet? Kann eine Sache göttlich sein, die solchen Menschen Altäre aufstellt? Soll sie den trüben Unrat von Fischweibern und Straßendirnen, die als kannibalische Zeichen ihres Sieges abgehackte Köpfe auf blutigen Piken tragen, wahrhaftig als die Vorhut einer neuen Humanität betrachten? Weil sie zunächst nur Gewalt sieht, glaubt Marie Antoinette nicht an die Freiheit, weil sie nur auf den Menschen blickt, ahnt sie nicht die Idee, die unsichtbar hinter dieser wilden und weltaufwühlenden Bewegung steht; sie hat nichts gemerkt und nichts verstanden von den großen humanen Errungenschaften einer Bewegung, welche uns die großartigsten Grundsätze menschlicher Beziehungen überliefert hat: die Glaubensfreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Gewerbefreiheit, Versammlungsfreiheit, welche die Gleichheit der Klassen, Rassen und Konfessionen als erste in die Gesetzestafel der Neuzeit eingegraben und die schmachvollen Reste des Mittelalters, Folter, Fron und Sklaverei, aufgehoben hat, niemals hat sie nur das geringste von diesen geistigen Zielen hinter dem brutalen Tumult der Straße verstanden oder zu verstehen gesucht. Nur das Chaos sieht sie in diesem unübersichtlichen Getümmel und nicht den Umriß einer neuen Ordnung, die sich aus diesen gräßlichen Kämpfen und Krämpfen gebären will; vom ersten Tage bis zum letzten hat sie darum Führer und Geführte mit aller Entschlossenheit ihres trotzigen Herzens gehaßt. Und so kam, was kommen mußte. Da Marie Antoinette ungerecht war gegen die Revolution, wurde die Revolution hart und ungerecht gegen sie.
Die Revolution ist der Feind – dies der Standpunkt der Königin. Die Königin ist das Hindernis: dies die Grundüberzeugung der Revolution. Mit ihrem untrüglichen Instinkt spürt die Masse des Volkes in der Königin die einzige elementare Widersacherin, von Anfang an wendet sich die volle Wut des Kampfes gegen ihre Person. Ludwig XVI. zählt nicht im Guten, nicht im Bösen, das weiß schon der letzte Bauer im Dorf, das jüngste Kind auf der Straße. Diesen ängstlichen, scheuen Mann kann man mit ein paar Flintenschüssen so schrecken, daß er zu jeder Forderung ja und amen sagt; man kann ihm die rote Mütze aufsetzen, und er wird sie tragen, und würde man ihm energisch befehlen, er solle rufen: »Nieder mit dem König! Nieder mit dem Tyrannen!« – obwohl König, würde er hampelmännisch Folge leisten. Ein einziger Wille verteidigt in Frankreich den Thron und seine Rechte, und dieser »einzige Mann, den der König hat«, ist nach dem Worte Mirabeaus »seine Frau«. Wer für die Revolution ist, muß also gegen die Königin sein; von Anfang an wird sie der Kugelfang, und um sie als Zielscheibe recht unverkennbar zu machen und reinliche Scheidung zu vollziehen, beginnen alle revolutionären Schriften, Ludwig XVI. als den wahren Vater des Volkes, als guten, tugendhaften, edlen, leider aber nur zu schwachen und »verführten« Mann hinzustellen. Wenn es nach diesem Menschenfreunde ginge, bestünde herrlichster Friede zwischen König und Nation. Aber diese Fremde, diese Österreicherin, hörig ihrem Bruder, verstrickt in den Kreis ihrer Liebhaber und Liebhaberinnen, herrschwütig und tyrannisch, sie allein will dieses Einvernehmen nicht, immer neue Komplotte ersinnt sie, um das freie Paris mit herbeigerufenen ausländischen Kriegstruppen in Trümmer zu legen. Mit infernalischer List umgarnt sie Offiziere, sie sollten Kanonen auf das wehrlose Volk richten, voll Blutgier spornt sie die Soldaten durch Wein und Geschenke zu einer Bartholomäusnacht an; wahrhaftig, es wäre Zeit, dem armen unglücklichen König die Augen über sie zu öffnen! Im Grunde haben beide Parteien dieselbe Denkrichtung: Für Marie Antoinette ist das Volk gut, aber von den »factieux« verführt. Für das Volk ist der König gut und nur von seiner Frau verhetzt und verblendet. So geht der Kampf eigentlich nur zwischen den Revolutionären und der Königin. Aber je mehr Haß sich gegen sie wendet, je ungerechter, verleumderischer die Beschimpfungen werden, um so mehr strafft sich in Marie Antoinette der Trotz. Wer eine große Bewegung entschlossen führt oder entschlossen bekämpft, wächst am Widerstand über sein eigenes Maß: seit eine ganze Welt sie befeindet, wird Marie Antoinettes kindischer Hochmut zu Stolz, und ihre zerstreute Kraft schließt sich zu wirklichem Charakter zusammen.
Diese späte Kraft Marie Antoinettes aber kann sich nur in der Verteidigung bewähren; mit einem Bleigewicht am Fuße kann man dem Gegner nicht entgegentreten. Und dieses Bleigewicht ist der arme, zaghafte König. Auf die rechte Backe getroffen durch die Eroberung seiner Bastille, hält er am nächsten Morgen noch demütig-christlich die linke hin; statt zu zürnen, statt zu tadeln und zu züchtigen, verspricht er in der Nationalversammlung, seine Truppen, die vielleicht noch bereit gewesen wären, für ihn zu kämpfen, aus Paris zurückzuziehen, und verleugnet damit die Verteidiger, die für ihn gefallen sind. Dadurch, daß er kein hartes Wort gegen die Mörder des Gouverneurs der Bastille wagt, erkennt er den Terror als berechtigte Macht in Frankreich an, er legalisiert mit seinem Zurückweichen den Aufstand. Als Dank für eine solche Erniedrigung findet Paris sich gern bereit, diesen gefälligen Herrscher zu bekränzen und ihm – aber nur auf kurze Frist – den Titel »Restaurateur de la liberté française« zu verleihen. An den Stadttoren empfängt ihn der Bürgermeister mit den zweideutigen Worten, die Nation habe sich ihren König zurückerobert; gehorsam nimmt Ludwig XVI. die Kokarde, die das Volk zum Sturmabzeichen gegen seine Autorität gewählt, und merkt nicht, daß in Wahrheit die Menge gar nicht ihn bejubelt, sondern die eigene Kraft, die ihren Herrscher so unterwürfig gemacht hat. Am 14. Juli hat Ludwig XVI. die Bastille verloren, am 17. wirft er ihr noch seine Würde nach und verbeugt sich vor seinen Gegnern so tief, daß die Krone von seinem Haupte rollt.
Da der König sein Opfer gebracht hat, kann Marie Antoinette das ihre nicht weigern. Auch sie muß einen Beweis guten Willens erbringen, indem sie sich öffentlich lossagt von jenen, welche der neue Herr, die Nation, am berechtigtesten haßt, von ihren Spielfreunden, den Polignacs und dem Grafen von Artois: für immer sollen sie als Geächtete Frankreich meiden. An und für sich fiele der Königin der Abschied kaum schwer, wäre er nicht ein erzwungener, denn innerlich hat sie sich längst von diesem lockeren Schwarm zurückgezogen. Nur jetzt, in der Abschiedsstunde, regt sich noch einmal die längst erkaltete Freundschaft zu diesen Gefährten ihrer schönsten, sorglosesten Jahre. Sie waren töricht gewesen mit ihren Torheiten, die Polignac hat all ihre Geheimnisse geteilt, sie hat ihre Kinder aufgezogen und werden und wachsen sehen. Nun soll sie fort: wie nicht erkennen, daß dieser Abschied gleichzeitig einer von der eigenen unbekümmerten Jugend ist? Denn jetzt wird es für immer vorbei sein mit sorglosen Stunden; zerklirrt von den Fäusten der Revolution ist die porzellanhelle und alabasterglatte Welt des Dix-huitième, vorbei für immer die Lust an den feinen und zarten Genüssen. Eine vielleicht große, aber grobe, eine mächtige, aber mörderische Zeit rückt heran. Die silberne Spieluhr des Rokoko hat ihre Melodie ausgeklungen, vorbei sind die Tage von Trianon. Mit Tränen kämpfend, kann Marie Antoinette sich nicht entschließen, ihre einstigen Freunde auf diesem letzten Gang zu begleiten: sie bleibt in ihrem Zimmer, so sehr fürchtet sie sich vor der eigenen Ergriffenheit. Aber abends dann, als unten im Hofe schon die Wagen für den Grafen von Artois und seine Kinder, für den Herzog von Condé, den Herzog von Bourbon, für die Polignac, die Minister und den Abbé von Vermond warten, für alle jene Menschen, die ihre Jugend umringten, da reißt sie noch rasch ein Briefblatt vom Tisch und schreibt an die Polignac die erschütterten Worte: »Adieu, teuerste Freundin! Das Wort ist furchtbar, aber es muß sein. Hier der Befehl für die Pferde. Ich habe nur noch die Kraft, Sie zu umarmen.«
Dieser sonore Unterton schwingt von nun ab in jedem Briefe der Königin mit: eine vorausahnende Melancholie beginnt, alle ihre Worte zu umfloren. »Ich kann Ihnen nicht mein ganzes Bedauern ausdrücken«, schreibt sie in den nächsten Tagen an Frau von Polignac, »von Ihnen getrennt zu sein, und hoffe nur, daß Sie im gleichen Sinne fühlen. Meine Gesundheit ist ziemlich gut, obwohl ein wenig geschwächt durch die fortgesetzten Erschütterungen, denen sie ausgesetzt ist. Wir sind nur von Not und Unglück und von Unglücklichen umringt – diejenigen nicht mitzuzählen, die fort sind. Alle Welt flieht, und ich bin noch glücklich, zu denken, daß diejenigen, die mir nahestehen, jetzt von mir entfernt sind.« Doch als wollte sie sich selbst von der bewährten Freundin nicht bei einer Schwäche ertappen lassen, als wüßte sie, daß nur eines noch ihr geblieben ist von der einstigen Macht als Königin: die königliche Haltung, fügt sie rasch bei: »Aber rechnen Sie darauf, daß diese Widerwärtigkeiten weder meine Kraft noch meinen Mut erschüttern werden; davon werde ich nichts preisgeben, im Gegenteil, diese Widerwärtigkeiten werden mich nur mehr Vorsicht lehren. Gerade in Augenblicken wie diesen lernt man die Menschen kennen und lernt unterscheiden, welche einem wahrhaft zugetan sind und welche nicht.«
Nun wird es still um die Königin, die gern und allzugern im Lärm gelebt. Die große Flucht hat begonnen. Wo sind die Freunde von einst? Alle verschwunden wie der Schnee vom vergangenen Jahr. Die sonst wie gierige Kinder um den Tisch der Gaben lärmten, Lauzun, Esterhazy, Vaudreuil, wo sind sie, die Partner vom Kartentisch, die Tänzer und Kavaliere? Zu Pferd und zu Wagen – »sauve qui peut« – haben sie verkleidet Versailles verlassen, aber diesmal nicht maskiert für einen Ball, sondern vermummt, um nicht vom Volke gelyncht zu werden. Jeden Abend rollt ein anderer Wagen durch die vergoldeten Gittertore, um nicht wiederzukehren, immer stiller wird es in den allzu weit gewordenen Sälen; kein Theater, keine Bälle mehr, keine Aufzüge und Empfänge, nur die Messe noch am Morgen, und dann in dem kleinen Kabinett die langen vergeblichen Besprechungen mit den Ministern, die selbst nicht zu raten wissen. Versailles ist zum Eskorial geworden: wer klug ist, zieht sich zurück.
Gerade aber jetzt, da alle die Königin verlassen, die vor der Welt als ihre nächsten Freunde gegolten, tritt derjenige aus dem Dunkel, der es wahrhaft gewesen: Hans Axel von Fersen. Solange es Glanz brachte, als Günstling Marie Antoinettes zu gelten, hat dieser vorbildlich Liebende, um die Ehre der geliebten Frau zu schonen, sich scheu verborgen gehalten und damit das tiefste Geheimnis ihres Lebens vor Neugier und Schwatz bewahrt. Jetzt aber, da Freund der Verfemten zu sein nicht Vorteil, nicht Ehre, nicht Achtung, nicht Neid einbringt, sondern Mut fordert und restlosen Opferwillen, jetzt tritt frei und entschlossen dieser einzig Liebende und einzig Geliebte an Marie Antoinettes Seite und damit in die Geschichte.
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