Der Prozess beginnt
Nun ist genug Butter in der Pfanne, nun kann der öffentliche Ankläger den Braten gar machen. Am 12. Oktober wird Marie Antoinette zum ersten Verhör in den großen Beratungssaal gerufen. Ihr gegenüber sitzen Fouquier-Tinville, Herman, sein Beisitzer, und ein paar Schreiber, ihr zur Seite niemand. Kein Verteidiger, kein Helfer, nur der Gendarm, der sie bewacht. Aber in den vielen Wochen des Alleinseins hat Marie Antoinette ihre Kraft gesammelt. Die Gefahr hat sie gelehrt, ihre Gedanken zusammenzufassen, gut zu sprechen und noch besser zu schweigen: jede ihrer Antworten erweist sich als überraschend schlagkräftig und gleichzeitig vorsichtig und klug. Nicht einen Augenblick verläßt sie ihre Ruhe; selbst die törichtesten oder tückischesten Fragen bringen sie nicht aus der Fassung. Jetzt, in der letzten, allerletzten Minute, hat Marie Antoinette die Verantwortlichkeit ihres Namens begriffen, sie weiß: hier, in diesem halbdunklen Verhörzimmer, muß sie die Königin werden, die sie in den Prunksälen von Versailles nicht genug gewesen. Nicht einem kleinen, aus dem Hunger in die Revolution geflüchteten Advokaten, der hier den Ankläger zu spielen meint, antwortet sie hier, oder diesen als Richter verkleideten Wachtmeistern und Schreibern, sondern dem einzig wirklichen und wahrhaften Richter: der Geschichte. »Wann wirst Du endlich werden, die Du bist«, hatte verzweifelt vor zwanzig Jahren ihre Mutter Maria Theresia geschrieben. Jetzt, eine Spanne vor dem Tod, beginnt Marie Antoinette durch eigene Kraft jene Hoheit zu erringen, die ihr bisher nur äußerlich verliehen war. Auf die formelle Frage, wie sie heiße, antwortet sie laut und klar: »Marie Antoinette von Österreich-Lothringen, achtunddreißig Jahre alt, Witwe des Königs von Frankreich.« Ängstlich bedacht, die Form eines ordentlichen Rechtsverfahrens in allen Äußerlichkeiten zu wahren, hält sich Fouquier-Tinville genau an die Verhörsformalitäten und fragt weiter, als ob er es nicht wüßte, wo sie im Augenblick ihrer Verhaftung gewohnt habe. Ohne Ironie zu zeigen, belehrt Marie Antoinette ihren Ankläger, sie sei niemals verhaftet worden, sondern man habe sie von der Nationalversammlung abgeholt, um sie in den Temple zu überführen. Dann beginnen die eigentlichen Fragen und Anklagen im papierenen Pathos der Zeit; sie hätte vor der Revolution politische Beziehungen zum »König von Böhmen und Ungarn« unterhalten, in einer »fürchterlichen Weise« die Finanzen Frankreichs, die »Frucht des Volksschweißes, für ihre Vergnügungen und Intrigen im Einverständnis mit ruchlosen Ministern verschwendet« und dem Kaiser »Millionen zukommen lassen, damit sie gegen das Volk, das sie ernährte, dienen sollten«. Sie habe seit der Revolution gegen Frankreich konspiriert, mit fremden Agenten verhandelt, ihren Gemahl, den König, zum Veto veranlaßt. Alle diese Beschuldigungen lehnt Marie Antoinette sachlich und energisch ab. Erst bei einer besonders ungeschickt formulierten Behauptung Hermans belebt sich der Dialog.
»Sie waren es, die Capet die Kunst tiefer Verstellung beigebracht hat, mit der er so lange die guten französischen Bürger getäuscht hat, jenes gute Volk, das nicht ahnte, bis zu welchem Grade man Niedertracht und Perfidie treiben könne.« Auf diese leere Tirade antwortet Marie Antoinette ruhig:
»Jawohl, das Volk ist getäuscht worden, und zwar in grausamster Weise, aber nicht durch meinen Gatten und mich.«
»Von wem ist also das Volk getäuscht worden?«
»Von denen, die daran Interesse hatten. Wir selber hatten nicht das mindeste Interesse, es zu täuschen.« Bei dieser zweideutigen Antwort packt Herman sofort zu. Er hofft, die Königin jetzt in ein Wort hineinzutreiben, das als feindselig gegen die Republik gedeutet werden könnte.
»Wer sind also jene, die nach Ihrer Meinung Interesse hatten, das Volk zu täuschen?«
Aber Marie Antoinette weicht geschickt aus. Das wisse sie nicht. Ihr eigenes Interesse sei gewesen, das Volk aufzuklären und nicht zu täuschen.
Herman spürt das Ironische dieser Antwort und rügt: »Sie haben nicht eindeutig auf meine Frage geantwortet.«
Aber die Königin läßt sich nicht aus ihrer Abwehrstellung herauslocken: »Ich würde ohne Umschweife antworten, wenn ich die Namen der Personen kennte.« Nach diesem ersten Geplänkel wird das Verhör wieder sachlicher. Man fragt sie aus über die Umstände der Flucht nach Varennes; sie antwortet vorsichtig, indem sie alle jene ihrer heimlichen Freunde deckt, die der Ankläger in den Prozeß schleifen will. Erst bei der nächsten einfältigen Anschuldigung Hermans schlägt sie wieder kräftig zurück.
»Sie haben niemals, keinen Augenblick mit ihren Versuchen, die Frankreich vernichten sollten, aufgehört. Sie wollten, um welchen Preis immer, regieren und über die Kadaver der Patrioten von neuem auf den Thron steigen.« Auf diesen schwülstigen Gallimathias antwortet die Königin stolz und scharf (ach, warum hat man ihr einen solchen Dummkopf als Ausfrager geholt!), sie und ihr Mann hätten es nicht nötig gehabt, auf den Thron zu steigen, weil sie ihn doch schon innehatten und nichts anderes verlangen konnten als das Glück Frankreichs.
Nun wird Herman aggressiver; je mehr er spürt, daß Marie Antoinette aus ihrer vorsichtigen und sichern Haltung sich nicht hervorlocken läßt und kein »Material« für den öffentlichen Prozeß gibt, um so ingrimmiger häuft er die Anklagen: sie hätte die flandrischen Regimenter berauscht, mit auswärtigen Höfen korrespondiert, den Krieg verschuldet und Einfluß auf den Vertrag von Pillnitz genommen. Aber Marie Antoinette berichtigt, den Tatsachen entsprechend, der Nationalkonvent und nicht ihr Gemahl hätte den Krieg beschlossen, sie sei bei dem Bankett nur zweimal durch den Saal geschritten.
Die gefährlichsten Fragen aber hat sich Herman für den Schluß aufgespart, diejenigen, bei denen die Königin entweder ihr eigenes Gefühl verleugnen oder sich in irgendeine Aussage gegen die Republik verfangen soll. Ein Katechismus des Staatsrechts wird ihr abgefordert. »Welches Interesse haben Sie an dem Waffenschicksal der Republik?«
»Das Glück Frankreichs ist es, das ich über alles wünsche.«
»Glauben Sie, daß die Könige nötig sind für das Glück des Volkes?«
»Eine einzelne Person kann nicht über solche Dinge entscheiden.«
»Sie bedauern ohne Zweifel, daß Ihr Sohn einen Thron verloren hat, auf den er hätte steigen können, wenn das Volk, endlich über seine Rechte belehrt, nicht diesen Thron zertrümmert hätte?«
»Ich werde niemals etwas für meinen Sohn bedauern, wenn es seinem Land zum Vorteil gereichen wird.«
Man sieht, der Untersuchungsrichter hat kein Glück. Marie Antoinette hätte sich nicht spitzfindiger und jesuitischer ausdrücken können, als indem sie sagt, sie bedaure nichts für ihren Sohn, wenn es »seinem Land zum Vorteil gereichen« würde, denn mit diesem einen besitzanzeigenden Wort »seinem« hat die Königin, ohne offen die Republik als unzuständig zu erklären, dem Untersuchungsrichter dieser Republik ins Gesicht gesagt, daß sie Frankreich noch immer als »sein«, als ihres Kindes rechtmäßiges Land und Eigentum betrachte, sie hat das ihr Heiligste, das Kronrecht ihres Sohnes, selbst in der Gefahr nicht preisgegeben. Nach diesem letzten Geplänkel geht das Verhör rasch dem Ende zu. Man fragt, ob sie selber für die Hauptverhandlung einen Verteidiger namhaft mache. Marie Antoinette erklärt, keinen Anwalt zu kennen, und stimmt zu, ihr einen oder zwei ihr persönlich unbekannte von Amts wegen beistellen zu lassen. Im Grunde, sie weiß es, ist all das gleichgültig, ob Freund oder Fremder, denn so mutig ist jetzt in ganz Frankreich kein Mann mehr, die einstige Königin ernstlich zu verteidigen. Wer nur ein einziges offenes Wort zu ihren Gunsten spräche, rückte sofort vom Platz des Verteidigers auf die Anklagebank.
Jetzt – der äußere Schein einer rechtlichen Untersuchung ist gewahrt – kann der bewährte Formalist Fouquier-Tinville an die Arbeit gehen und das Anklagedekret verfassen. Seine Feder läuft rasch und flink über das Papier: wer jeden Tag Anklagen stapelweise zu fabrizieren hat, bekommt eine leichte Hand. Immerhin glaubt sich der kleine Provinzjurist für diesen besonderen Fall zu einem gewissen poetischen Schwung verpflichtet: wenn man eine Königin anschuldigt, muß das in feierlicherem, pathetischerem Ton geschehen, als wenn man irgendein Nähmädchen am Genick faßt, das »Vive le roi!« gerufen hat. So beginnt sein Schriftstück höchst schwülstig: »Nach Prüfung der vom öffentlichen Ankläger übermittelten Beweisstücke wird festgestellt, daß, ähnlich wie Messalina, Brunhilde, Fredegunde und Katharina von Medici, die man einstmals Königinnen von Frankreich nannte und deren für ewig verächtliche Namen sich aus der Geschichte nicht auslöschen lassen, Marie Antoinette, die Witwe Ludwig Capets, seit ihrem Aufenthalt in Frankreich die Geißel und die Blutsaugerin der Franzosen gewesen ist.« Nach diesem kleinen historischen Schnitzer – denn zur Zeit Fredegundes und Brunhildes gab es noch gar kein Königreich Frankreich – folgen die bekannten Anschuldigungen, Marie Antoinette habe politische Beziehungen zu einem »König von Böhmen und Ungarn« genannten Manne unterhalten, Millionen dem Kaiser übermittelt, bei der »Orgie« des Gardekorps mitgewirkt, den Bürgerkrieg entfesselt, die Niedermetzelung der Patrioten verursacht, dem Ausland die Kriegspläne übermittelt. In etwas verhüllterer Form wird die Anklage Héberts übernommen, »daß sie, derart widernatürlich und mit allen Verbrechen vertraut, ihrer Stellung als Mutter und des Gesetzes der Natur spottend, nicht davor zurückgeschreckt sei, mit Louis Charles Capet, ihrem Sohne, Unsittlichkeiten zu begehen, die auszudenken oder zu nennen allein schon vor Abscheu erbeben ließen«. Neu und überraschend ist dagegen nur die Anschuldigung, sie hätte die Niedertracht und Verstellung so weit getrieben, Werke drucken und verteilen zu lassen, in denen sie selbst in unvorteilhafter Weise geschildert sei, um den auswärtigen Mächten die Überzeugung beizubringen, wie sehr sie von den Franzosen mißhandelt würde. Marie Antoinette hätte also nach Fouquier-Tinvilles Auffassung selber die tribadischen Pamphlete der La Motte und der unzähligen andern verbreitet. Auf Grund aller dieser Beschuldigungen wird Marie Antoinette aus dem Zustand der nur Überwachten in den Anklagezustand versetzt.
Dieses Dokument, nicht gerade ein Meisterstück forensischer Kunst, wird noch tintenfeucht am 13. Oktober dem Verteidiger Chauveau-Lagarde übermittelt, der sich damit unverzüglich zu Marie Antoinette ins Gefängnis begibt. Gemeinsam lesen die Beschuldigte und ihr Anwalt die Anklageschrift. Aber nur der Advokat ist von dem gehässigen Ton überrascht und erschüttert. Marie Antoinette, die nach ihrem Verhör nichts Besseres erwartet hatte, bleibt vollkommen ruhig. Doch der gewissenhafte Jurist verzweifelt immer von neuem. Nein, es sei nicht möglich, einen solchen Wust von Anklagen und Dokumenten in einer einzigen Nacht durchzuarbeiten, er sei nur dann imstande, wirksam zu verteidigen, wenn er wirklich Einblick in das papierene Chaos nehmen könnte. So drängt er die Königin, sie solle um einen Aufschub von drei Tagen einkommen, damit er seine Verteidigungsrede auf Grund des gesichteten Materials und der überprüften Beweisstücke gründlich vorbereiten könne.
»An wen muß ich mich da wenden?« fragt Marie Antoinette.
»An den Konvent.«
»Nein, nein,… das niemals.«
»Aber«, Chauveau-Lagarde drängt, »Sie sollten nicht aus einem hier unnützen Gefühl des Stolzes sich Ihres Vorteils begeben. Sie haben die Verpflichtung, Ihr Leben nicht nur für sich, sondern für Ihre Kinder zu erhalten.« Dem Anruf, es gelte ihre Kinder, gibt die Königin nach. Sie schreibt an den Vorsitzenden der Versammlung: »Bürger-Präsident, die Bürger Tronson und Chauveau, die mir das Tribunal zur Verteidigung zugeteilt hat, machen mich darauf aufmerksam, daß ihnen erst heute ihr Amt übertragen wurde. Ich soll morgen abgeurteilt werden, und es ist ihnen unmöglich, innerhalb einer so kurzen Frist die Prozeßakten zu studieren oder auch nur zu lesen. Ich schulde es meinen Kindern, kein Mittel zur völligen Rechtfertigung ihrer Mutter zu verabsäumen. Mein Verteidiger ersucht um drei Tage Aufschub. Ich hoffe, der Konvent wird sie bewilligen.«
Abermals überrascht bei diesem Schriftstück die geistige Wandlung Marie Antoinettes. Die zeitlebens eine schlechte Schreiberin, eine schlechte Diplomatin gewesen, beginnt jetzt königlich zu schreiben und verantwortlich zu denken. Denn selbst in äußerster Lebensgefahr erweist sie dem Konvent, den sie als rechtlich übergeordnete Instanz ansprechen muß, nicht die Ehre einer Bitte. Sie ersucht nicht in eigenem Namen – nein, eher zugrunde gehen! –, sondern sie übermittelt nur das Ansuchen eines Dritten: »Mein Verteidiger ersucht um drei Tage Aufschub« steht darin, und »Ich hoffe, der Konvent wird sie bewilligen«. Kein »ich bitte darum«.
Der Konvent antwortet nicht. Der Tod der Königin ist längst beschlossen, wozu die Formalitäten vor Gericht noch verlängern? Jedes Zögern wäre Grausamkeit. Am nächsten Morgen um acht beginnt der Prozeß, und jeder weiß im voraus, wie er enden wird.
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