Die Flucht nach Varennes
Am Abend dieses zwanzigsten Juni 1791 könnte auch der mißtrauischste Beobachter nichts Verdächtiges in den Tuilerien feststellen: wie immer stehen die Nationalgarden auf ihren Posten, wie immer haben sich die Kammerfrauen und Diener nach dem Abendessen zurückgezogen, und im großen Salon sitzen wie alltäglich der König, sein Bruder, der Graf von Provence, und die andern Mitglieder der Familie friedlich beim Tricktrack oder im gelassenen Gespräch. Ist es auffällig, daß sich die Königin etwa um zehn Uhr mitten im Gespräch erhebt und für einige Zeit entfernt? Durchaus nicht. Sie hat vielleicht eine kleine Besorgung oder einen Brief zu schreiben, keiner der Bedienten folgt ihr, und als sie auf den Gang tritt, liegt er völlig leer. Aber diesmal bleibt Marie Antoinette gespannt stehen, horcht mit angehaltenem Atem auf den harten Schritt der Garden, dann eilt sie hinauf zur Zimmertür ihrer Tochter und klopft leise. Die kleine Prinzessin wacht auf, ruft erschreckt nach der (zweiten, stellvertretenden) Gouvernante, Frau Brunier; diese kommt, staunt über den unverständlichen Befehl der Königin, das Kind rasch anzuziehen, wagt aber keinen Widerstand. Unterdes hat die Königin auch den Dauphin geweckt, indem sie die Vorhänge des damastenen Baldachins aufschlägt und ihm zärtlich zuflüstert: »Komm, steh auf, wir reisen ab. Wir fahren nach einer Festung, wo es viele Soldaten gibt.« Schlaftrunken lallt der kleine Prinz etwas, verlangt seinen Säbel und seine Uniform, da er doch zu den Soldaten solle. Aber »schnell, schnell, wir fahren ab« befiehlt Marie Antoinette der ersten Gouvernante, Madame de Tourzel, die längst in das Geheimnis eingeweiht ist und unter dem Vorwand, es ginge auf einen Maskenball, den Prinzen als Mädchen verkleidet. Beide Kinder werden ohne Geräusch die Treppe hinab ins Zimmer der Königin geführt. Dort erwartet sie eine lustige Überraschung. Denn als die Königin den Wandschrank öffnet, tritt ein Gardeoffizier heraus, ein Herr von Malden, den der unermüdliche Fersen dort vorsorglich untergebracht hat. Alle vier schreiten jetzt rasch zum unbewachten Ausgang.
Der Hof ist fast vollkommen lichtlos. In langer Reihe stehen Wagen angereiht, ein paar Kutscher und Lakaien treiben sich müßig herum oder plaudern mit den Nationalgarden, die ihre schweren Gewehre abgelegt haben und – wie schön ist der laue Sommerabend weder an Pflicht noch Gefahr denken. Die Königin öffnet persönlich die Tür und blickt hinaus: ihre Sicherheit verläßt sie in solchen Entscheidungen nicht einen Augenblick. Und schon schleicht aus dem Schatten der Wagen ein Mann heran, als Kutscher verkleidet, und faßt ohne ein Wort die Hand des Dauphins: Fersen, der Unermüdliche, der seit dem frühen Morgen Übermenschliches leistet. Er hat die Postillone bereitgestellt, die drei Leibgarden als Kuriere verkleidet und jeden an die richtige Stelle postiert. Er hat die Nachtsachen aus dem Palast geschmuggelt, die Kutsche vorbereitet und noch nachmittags die zu Tränen erregte Königin getröstet. Drei-, vier-, fünfmal ist er, einmal verkleidet, sonst in seiner gewöhnlichen Tracht, durch Paris hin und her gejagt, um alles in Ordnung zu bringen. Jetzt wagt er sein Leben, indem er den Dauphin von Frankreich aus dem Palast des Königs führt, und er will keine andere Belohnung als den dankbaren Blick der Geliebten, die ihm und ihm allein ihre Kinder anvertraut.
Die vier Schatten gleiten ins Dunkel zurück, die Königin schließt leise die Tür. Unauffällig, mit leichten sorglosen Schritten tritt sie wieder, als hätte sie bloß einen Brief geholt, in den Salon zurück und plaudert weiter in scheinbarer Gleichgültigkeit, während die Kinder, von Fersen glücklich über den großen Platz geführt, in einem altmodischen Fiaker verstaut werden, wo sie gleich in Schlaf sinken; gleichzeitig werden die beiden Kammermädchen der Königin in einem andern Wagen nach Claye vorausgesandt. Um elf Uhr beginnt dann die kritische Stunde. Der Graf von Provence und seine Frau, die ihrerseits gleichfalls heute fliehen werden, verlassen wie gewöhnlich das Schloß, die Königin und Madame Elisabeth begeben sich in ihre Zimmer. Um keinen Verdacht zu erwecken, läßt sich die Königin von ihrer Kammerfrau auskleiden, bestellt für den nächsten Morgen die Wagen für eine Ausfahrt. Um halb zwölf Uhr, der unvermeidliche Besuch Lafayettes beim König muß jetzt zu Ende sein, gibt sie Befehl, die Lichter zu löschen, und damit das Signal für die Dienerschaft, sich zurückzuziehen. Kaum aber hat sich die Tür hinter den Kammerfrauen geschlossen, so springt die Königin wieder auf, zieht sich rasch an, und zwar nimmt sie eine unauffällige Robe von grauer Seide, einen schwarzen Hut mit violettem Schleier, der ihr Gesicht unkenntlich macht. Jetzt noch leise die kleine Treppe hinunter zur Tür, wo ein Vertrauter sie erwartet, und über den dunklen Place du Carrousel, – alles geht vortrefflich. Aber, peinlicher Zufall, gerade jetzt flammen Lichter heran, ein Wagen mit Läufern und Fackelträgern, der Wagen Lafayettes, der sich überzeugt hat, daß alles wie immer herrlich in Ordnung sei. Die Königin drückt sich vor dem Lichtschein hastig ins Dunkel des Torbogens, und so nahe streift Lafayettes Karosse vorbei, daß sie die Räder berühren könnte. Niemand hat sie bemerkt. Ein paar Schritte noch, und sie ist bei dem Mietwagen, der enthält, was sie am meisten auf Erden liebt: Fersen und ihre Kinder.
Schwieriger ist das Entkommen für den König. Zunächst hat er noch den allabendlichen Besuch Lafayettes zu erdulden, und der dauert so lange, daß es diesmal sogar dem dickhäutigen Mann schwer fällt, ruhig zu bleiben. Immer wieder steht er von seinem Sessel auf und tritt zum Fenster, als wollte er den Himmel betrachten. Endlich, um halb zwölf Uhr, empfiehlt sich der lästige Gast. Ludwig XVI. begibt sich in sein Schlafzimmer, und hier beginnt der letzte Verzweiflungskampf mit der Etikette, die ihn allzu fürsorglich beschützt. Nach uraltem Brauch muß der Kammerdiener des Königs im gleichen Zimmer schlafen, eine Schnur um das Handgelenk gewickelt, so daß ein Handzug des Monarchen genügt, den Eingeschlafenen sofort zu wecken. Wenn also Ludwig XVI. jetzt entkommen will, muß der Arme zunächst dem eigenen Kammerdiener entfliehen. Ludwig XVI. läßt sich also gemächlich wie gewöhnlich ausziehen, legt sich ins Bett und senkt den Baldachin zu beiden Seiten herab, als wollte er schlafen. In Wahrheit wartet er nur die Minute ab, da der Diener sich ins Nachbarkabinett begibt, um sich auszukleiden, und nun, in diesem knappen Moment – die Szene wäre eines Beaumarchais würdig – schleicht der König rasch hinter dem Baldachin hervor, entwischt mit nackten Füßen im Nachtgewand durch die andere Tür in das verlassene Zimmer seines Sohnes, wo man ihm einen einfachen Anzug, eine grobe Perücke und – neue Schmach! einen Lakaienhut bereit gelegt hat. In das Schlafzimmer tritt unterdessen ganz, ganz vorsichtig der getreue Diener zurück, preßt ängstlich den Atem, nur um seinen geliebten, hinter dem Baldachin ruhenden König nicht zu wecken, und wickelt sich das Ende der Schnur wie täglich um sein Handgelenk. Auf der Treppe schleicht indes im Hemd Ludwig XVI., Nachfahr und Erbe Ludwigs des Heiligen, König von Frankreich und Navarra, den grauen Rock, die Perücke und den Lakaienhut auf dem Arm, in den Unterstock, und hier erwartet ihn der im Wandschrank versteckte Leibgardist, Herr von Malden, um ihm den Weg zu zeigen. Unkenntlich durch einen flaschengrünen Überrock und den Lakaienhut auf dem erlauchten Haupt, schreitet der König gelassen durch den verödeten Hof seines Palastes; unerkannt lassen ihn die nicht sehr wacheifrigen Nationalgarden durch. Damit scheint das Schwerste geglückt, und um Mitternacht ist die Familie in dem Fiaker versammelt; Fersen, als Kutscher verkleidet, steigt auf den Bock und führt den als Lakaien verkleideten König und seine Familie quer durch Paris.
Quer durch Paris, verhängnisvollerweise quer durch Paris! Denn Fersen, der Edelmann, ist gewöhnt, sich von Kutschern führen zu lassen, nicht selbst zu kutschieren, er kennt nicht das unendliche Labyrinth der verwickelten Stadt. Außerdem will er aus Vorsicht – verhängnisvolle Vorsicht! – statt gleich aus der Stadt heraus, noch einmal in die Rue Matignon, um sich der Abfahrt der großen Karosse zu versichern. Erst um zwei Uhr, statt um Mitternacht, führt er die kostbare Fracht zum Stadttor hinaus – zwei Stunden, zwei unersetzliche Stunden sind verloren.
Hinter der Zollschranke soll die mächtige Karosse warten; erste Überraschung: sie ist nicht da. Wieder geht Zeit verloren, bis man sie endlich, mit vier Pferden bespannt und mit abgeblendeten Lichtern, entdeckt. Nun erst fährt er den Fiaker an den andern Wagen heran, damit die königliche Familie übersteigen könne, ohne sich – es wäre entsetzlich! – die Schuhe im französischen Straßenkot zu beschmutzen. Halb drei Uhr morgens ist es statt zwölf Uhr nachts, als die Pferde endlich anziehen. Nun spart Fersen die Peitsche nicht, in einer halben Stunde sind sie in Bondy, wo der eine Gardeoffizier schon mit acht neuen, wohl ausgeruhten Kurierpferden sie erwartet. Hier heißt es Abschied nehmen. Er wird nicht leicht. Ungern sieht Marie Antoinette den einzigen Verläßlichen sie verlassen, aber ausdrücklich hat der König erklärt, er wünsche nicht, daß Fersen sie weiter begleite. Aus welchem Grund, man weiß es nicht. Vielleicht um vor seinen Getreuen nicht gerade mit diesem allzu intimen Freund seiner Frau einzutreffen, vielleicht aus Rücksicht für ihn – jedenfalls Fersen vermerkt »il n’a pas voulu«. Und dann, es ist ja vereinbart, daß Fersen sofort die endgültig Befreiten aufsucht: ein kurzer Abschied also. So reitet Fersen – schon steigt bleicher Lichtschimmer über den Horizont, einen heißen Sommertag verkündend, – noch einmal an den Wagen heran und ruft mit Absicht laut, um die fremden Postillone zu täuschen: »Leben Sie wohl, Madame de Korff!«
Acht Pferde ziehen besser als vier, im muntern Trab schaukelt die mächtige Karosse auf dem grauen Bach der Landstraße. Alles zeigt lustige Laune, die Kinder haben ausgeschlafen, der König ist heiterer als sonst. Man spaßt über die falschen Namen, die man sich zugelegt: Frau de Tourzel gilt als die vornehme Dame Madame de Korff, die Königin als Gouvernante der Kinder und heißt Madame Rochet, der König mit dem Lakaienhut ist ihr Haushofmeister Durand, Madame Elisabeth ihre Kammerfrau, der Dauphin hat sich in ein Mädchen verwandelt. Eigentlich fühlt sich in dem bequemen Wagen die Familie freier beisammen als daheim in ihrem Schloß, umspäht von hundert Lakaien und sechshundert Nationalgarden; bald meldet sich der treue Freund Ludwigs XVI., der ihn nie verläßt, der Appetit. Die üppigen Vorräte werden hervorgeholt, man speist reichlich auf silbernem Service, schon fliegen Hühnerknochen und Weinflaschen aus dem Wagenfenster, und auch die braven Leibgarden werden nicht vergessen. Die Kinder, vom Abenteuer entzückt, spielen im Wagen, die Königin plaudert mit allen, und der König benutzt diese unvermutete Gelegenheit, sein eigenes Reich kennen zu lernen: er holt die Landkarte heraus und verfolgt mit bravem Interesse von Dorf zu Dorf, von Weiler zu Weiler den Fortschritt der Fahrt. Allmählich kommt über sie alle ein Gefühl der Sicherheit. Bei der ersten Umspannstelle, um sechs Uhr früh, liegen die Bürger noch in ihren Betten, niemand fragt nach den Pässen der Baronin Korff; jetzt nur glücklich durch die große Stadt Châlons, dann ist alles gewonnen, denn, vier Meilen hinter diesem letzten Hindernis, bei Pont-de-Somme-Vesle, erwartet sie schon der erste vorgeschobene Trupp Kavallerie unter dem Befehl des jungen Herzogs von Choiseul.
Endlich Châlons, vier Uhr nachmittags. Es ist keineswegs Böswilligkeit, daß sich so viele Leute vor der Posthaltestelle versammeln. Wenn eine Eilkutsche eintrifft, will man doch rasch das Neueste aus Paris von den Postillonen hören, allenfalls einen Brief oder ein Päckchen nach der nächsten Station mitgeben, und überhaupt, man plaudert gern in einem kleinen langweiligen Landstädtchen, heute wie damals, man sieht sich gern fremde Leute und einen schönen Wagen an: mein Gott, was hat man anderes und Besseres zu tun an einem heißen Sommertag! Fachmännisch mustern die Kenner die Karosse. Funkelnagelneu, konstatieren sie zunächst mit Ehrerbietung, und ganz ungewöhnlich nobel, ausgeschlagen mit Damast, wunderschön kassettiert, prachtvolles Gepäck, gewiß sind das Adelige, wahrscheinlich Emigranten. Eigentlich wäre man neugierig, sie zu sehen, mit ihnen zu plaudern, aber sonderbar: warum bleiben denn alle sechs Personen an diesem wunderschönen und warmen Tag nach einer so langen Fahrt hartnäckig in der Karosse sitzen, statt sich die eingeklemmten Beine ein bißchen weich zu gehen oder ein kühles Glas Wein gesprächig zu trinken? Warum tun diese galonierten Lakaien so unverschämt vornehm, als ob sie etwas Besonderes wären? Sonderbar, sonderbar! Ein leises Murmeln beginnt, jemand tritt auf den Postmeister zu und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der scheint betroffen, sehr betroffen. Aber er mengt sich nicht weiter ein und läßt den Wagen ruhig weiterfahren, doch – niemand weiß wieso – nach einer halben Stunde schwätzt und redet die ganze Stadt, der König und die königliche Familie seien durch Châlons gefahren.
Die aber wissen und ahnen nichts, im Gegenteil, sie sind trotz aller Müdigkeit herzhaft vergnügt, denn in der nächsten Station erwartet sie ja schon Choiseul mit seinen Husaren: dann ist es vorbei mit dem Verstellen und Verstecken, man wird den Lakaienhut wegwerfen und die falschen Pässe zerreißen, man wird endlich wieder das »Vive le Roi! Vive la Reine!« hören, das so lange verstummt war. Voll Ungeduld blickt Madame Elisabeth immer wieder aus dem Fenster, um als erste Choiseul zu begrüßen, die Kuriere erheben vor der sinkenden Sonne die Hand, um von fern schon das Säbelblitzen der Husaren zu sehen. Aber nichts. Nichts. Endlich ein Reiter, aber nur ein einzelner, ein vorausgesprengter Gardeoffizier.
»Wo ist Choiseul?« ruft man ihm zu.
»Fort.«
»Und die andern Husaren?«
»Kein Mann ist da.«
Mit einem Mal stockt die gute Laune. Irgend etwas stimmt nicht. Und dazu, es wirkt dunkel, es wird Nacht. Unheimlich, jetzt ins Fremde, ins Ungewisse zu fahren. Aber es gibt kein Zurück und kein Stehenbleiben, ein Flüchtling hat nur einen Weg: weiter und weiter. Die Königin tröstet die andern. Fehlen hier die Husaren, so findet man Dragoner in Sainte-Ménehould, und das liegt nur noch zwei Stunden weit, dann ist man geborgen. Diese zwei Stunden dehnen sich länger als der ganze Tag. Aber – neue Überraschung – auch in Sainte-Ménehould keine Eskorte. Die Reiter haben lange gewartet, haben tagsüber in den Wirtshäusern gesessen und dort aus Langerweile so arg gesoffen und gelärmt, daß die ganze Bevölkerung aufmerksam wurde. Schließlich hat der Kommandant, durch eine verworrene Mitteilung des Hoffriseurs genarrt, es für klüger gehalten, sie aus der Stadt herauszuführen und weiter rückwärts am Wege warten zu lassen, nur er selbst ist zurückgeblieben. Endlich rollt pompös die achtspännige Karosse heran und hinter ihr das zweispännige Kabriolett, für die braven Kleinbürger schon das zweite unerklärliche und geheimnisvolle Geschehnis dieses Tages. Zuerst diese Dragoner, die kamen und herumsaßen, man wußte nicht, wozu und warum, jetzt die beiden Wagen mit vornehm livrierten Postillonen; und seht doch, wie devot, wie ehrerbietig der Kommandant der Dragoner diese merkwürdigen Gäste begrüßt! Nein, nicht nur ehrerbietig, sondern untertänig: die ganze Zeit, während er mit ihnen spricht, hält er die Hand an der Kappe. Der Postmeister Drouet, Mitglied des Jakobinerklubs und wilder Republikaner, blickt scharf hin. Das müssen hohe Aristokraten sein oder Emigranten, denkt er, vornehmes, vornehmstes Pack, da sollte unsereiner eigentlich zugreifen. Jedenfalls gibt er zunächst seinen Postillonen leise den Befehl, sie sollten sich im Tempo nicht allzusehr beeilen mit diesen geheimnisvollen Passagieren, und schläfrig rattert die Karosse mit den schläfrigen Insassen weiter.
Aber kaum ist sie zehn Minuten fort, da verbreitet sich – hat jemand die Nachricht aus Châlons herübergebracht, oder hat der Instinkt des Volkes richtig geraten? – plötzlich das Gerücht, die königliche Familie sei im Wagen gewesen. Alles lärmt und regt sich, der Kommandant der Dragoner fühlt rasch die Gefahr und will seine Soldaten als Eskorte nachsprengen lassen. Aber schon ist es zu spät, die erbitterte Volksmenge erhebt Einspruch, und die Dragoner, gut mit Wein geheizt, verbrüdern sich mit dem Volk und gehorchen nicht mehr. Ein paar Entschlossene lassen den Generalmarsch schlagen, und während alles im Tumult durcheinanderstürmt, faßt ein einziger Mann einen Entschluß: der Postmeister Drouet, ein guter Reiter vom Kriegsdienst her, läßt sich ein Pferd satteln und galoppiert, von einem Kameraden begleitet, auf kürzerem Wege der schwerfälligen Karosse nach Varennes voraus. Dort kann man mit diesen verdächtigen Passagieren noch ausführliche Zwiesprache halten und, wenn es wirklich der König ist, dann gnade ihm Gott und seiner Krone! Wie schon tausendmal, verändert auch diesmal eine einzige energische Handlung eines energischen Menschen die Weltgeschichte.
Inzwischen rollt und rollt der riesige Wagen des Königs die gewundene Straße nach Varennes hinab. Vierundzwanzig Stunden Fahrt unter einem sonnverbrannten Dach, eng aneinander gedrückt, haben die Reisenden müde gemacht, die Kinder schlafen längst, der König hat die Karten zusammengefaltet, die Königin schweigt. Nur noch eine Stunde, eine letzte Stunde, und sie sind unter sicherer Eskorte. Aber neuerdings Überraschung: bei der verabredeten Umspannstelle außerhalb der Stadt Varennes stehen keine Pferde. Man tappt im Dunkel herum, klopft an die Fenster und begegnet unfreundlichen Stimmen. Die beiden Offiziere, die den Auftrag hatten, hier zu warten, hat – man soll Figaro nicht zu seinem Boten wählen – der vorausgeschickte Friseur Léonard mit seinen wirren Reden glauben gemacht, der König käme nicht mehr. Sie haben sich schlafen gelegt, und dieser Schlaf ist dem König ebenso verhängnisvoll wie jener Lafayettes am 6. Oktober. Also weiter mit den abgemüdeten Pferden nach Varennes hinein, vielleicht findet man dort einen Umspann. Aber zweite Überraschung: unter dem Torbogen springen ein paar junge Menschen den Vorreiter an und befehlen »Halt!« Im Nu sind die beiden Wagen umringt und begleitet von einer Bande junger Burschen. Drouet und die Seinen, zehn Minuten früher angelangt, haben die ganze revolutionäre Jugend von Varennes aus den Betten oder Wirtshäusern geholt. »Die Pässe!« gebietet jemand. »Wir haben Eile, wir müssen bald ankommen«, antwortet aus dem Wagen eine weibliche Stimme. Es ist die der angeblichen »Madame Rochet«, in Wirklichkeit die der Königin, die als einzige in dem gefährlichen Augenblick Energie bewahrt. Aber der Widerstand hilft nichts, sie müssen bis zum nächsten Gasthaus, das – wie boshaft kann die Weltgeschichte sein! – »Zum großen Monarchen« benannt ist, und dort steht schon der Bürgermeister, seines Zeichens ein Krämer, auf den wohlschmeckenden Namen »Sauce« hörend, und will die Pässe sehen. Der kleine Krämer, innerlich dem König ergeben und voll Angst, in eine arge Affäre zu geraten, sieht die Pässe flüchtig durch und sagt: »In Ordnung.« Er für sein Teil ließe die Wagen ruhig weiterfahren. Aber dieser junge Drouet, der den Fisch an der Angel spürt, schlägt auf den Tisch und schreit laut: »Es ist der König und seine Familie, und wenn Sie ihn in fremdes Land lassen, so sind Sie des Hochverrates schuldig.« So eine Drohung fährt einem braven Familienvater arg in die Knochen, und gleichzeitig donnert die von Drouets Kameraden gezogene Sturmglocke los, die Lichter flammen auf in allen Fenstern, die ganze Stadt ist alarmiert. Um den Wagen sammelt sich eine immer mehr anschwellende Menschenmenge: an Weiterfahren ohne Gewalt ist nicht zu denken, denn die frischen Pferde sind noch nicht eingespannt. Um sich aus der Verlegenheit zu ziehen, schlägt der wackere Krämer-Bürgermeister vor, es sei immerhin schon zu spät für die Weiterreise; Frau Baronin Korff und die Ihren mögen in seinem Haus übernachten. Bis morgen früh, denkt der Schlaue im stillen, muß sich alles geklärt haben, im Guten oder im Bösen, und ich bin die mir auf den Kopf gefallene Verantwortung los. Zögernd, es bleibt nichts Besseres, und dann, die Dragoner werden schon kommen, nimmt der König die Einladung an. In ein oder zwei Stunden muß Choiseul oder Bouillé hier sein. So tritt Ludwig XVI. ruhig mit seiner falschen Perücke in das Haus, und seine erste Königstat ist, eine Flasche Wein und ein Stückchen Käse zu verlangen. Ist es der König? Ist es die Königin? – so flüstern unruhig und aufgeregt die alten Frauen und die herbeigeeilten Bauern. Denn so meilenfern liegt damals eine kleine französische Stadt vom großen, unerschaubaren Hof, daß nicht ein einziger von all diesen seinen Untertanen jemals das Antlitz des Königs anders gesehen als auf den Münzen und daß man eigens einen Boten nach einem adeligen Herrn schicken muß, damit man endlich feststellen könne, ob dieser fremde Reisende wirklich nur der Lakai einer Baronin Korff ist oder Ludwig XVI., der Allerchristlichste König von Frankreich und Navarra.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.