Die Flucht wird vorbereitet


Mit Mirabeau ist der einzige Sekundant im Kampf gegen die Revolution dem Königtum hinweggestorben. Wiederum steht der Hof allein. Zwei Möglichkeiten bestehen: die Revolution zu bekämpfen oder vor ihr zu kapitulieren. Wie immer wählt der Hof zwischen zwei Entscheidungen den unglücklichsten, den mittleren Weg: die Flucht.


Schon Mirabeau hat den Gedanken erwogen, der König solle sich zur Wiederherstellung seiner Autorität der ihm in Paris aufgezwungenen Wehrlosigkeit entziehen, denn Gefangene vermögen nicht Krieg zu führen. Um gut kämpfen zu können, muß man freie Arme und festen Boden unter den Füßen haben. Nur hatte Mirabeau gefordert, der König solle sich nicht heimlich aus dem Staube machen, dies widerspräche seiner Würde. »Ein König flieht nicht vor seinem Volk«, sagte er, und noch dringlicher: »Ein König darf nur am hellichten Tag fortgehen und nur, um damit wirklich König zu werden.« Er hatte vorgeschlagen, Ludwig XVI. möge mit seiner Karosse eine Ausfahrt in die Umgebung machen, dort solle ihn ein treugebliebenes Reiterregiment erwarten, und in seiner Mitte, hoch zu Pferd, im Licht des Tages, solle er sich zu seiner Armee begeben und als freier Mann mit der Nationalversammlung verhandeln. Allerdings, zu einem solchen Verhalten gehört ein Mann, und nie hat ein Ruf zur Kühnheit einen Unentschlosseneren getroffen als Ludwig XVI. Er spielt zwar mit dem Gedanken, berät hin und her, aber schließlich liebt er doch seine Bequemlichkeit mehr als sein Leben. Nun jedoch, da Mirabeau tot ist, nimmt Marie Antoinette, müde der täglichen Erniedrigungen, den Gedanken energisch auf. Sie erschreckt nicht die Gefahr der Flucht, sondern bloß das Würdelose, das sich mit dem Begriff des Entweichens für eine Königin verbindet. Aber die täglich schlechtere Lage duldet keine Wahl: »Es gibt nur noch zweierlei«, schreibt sie an Mercy, »entweder unter dem Schwert der Aufständigen zugrunde zu gehen, wenn sie siegen, und infolgedessen überhaupt nichts mehr zu bedeuten, oder an den Despotismus von Leuten gekettet zu bleiben, die behaupten, unser Bestes zu wollen, aber in Wahrheit uns immer nur Böses getan haben und es immer tun werden. Das ist unsere Zukunft, und vielleicht ist der Augenblick, der uns erwartet, näher, als man denkt, falls wir nicht selbst einen Entschluß fassen und durch unsere eigene Kraft und Haltung die öffentliche Meinung leiten. Glauben Sie mir, daß das, was ich Ihnen sage, nicht aus einem exaltierten Denken entspringt oder aus dem Abscheu vor unserer Lage oder aus der Ungeduld zu handeln, ich kenne genau die Gefahr und die verschiedenen Möglichkeiten, die sich für uns in diesem Augenblicke eröffnen; aber ich sehe von allen Seiten nur so schreckliche Dinge vor uns, daß es noch immer besser ist, zugrunde zu gehen, indem man ein Mittel sucht, sich zu retten, als sich völlig untätig vernichten zu lassen.«


Und da Mercy, der Nüchterne und Vorsichtige, von Brüssel her immer wieder seine Bedenken äußert, schreibt sie noch heftiger und hellsichtiger einen Brief, der zeigt, wie unerbittlich klar die früher leichtgläubige Frau den eigenen Sturz erkennt: »Unsere Lage ist furchtbar, und dies in einem Grade, daß niemand, der keine unmittelbare Gelegenheit hat, sie zu sehen, sich von ihr eine Vorstellung machen kann. Es gibt nur noch eine Wahl für uns: entweder blind das zu tun, was die ›factieux‹ verlangen, oder unter dem Schwert zugrunde zu gehen, das ständig über unseren Häuptern hängt. Glauben Sie mir, daß ich die Gefahr nicht übertreibe. Sie wissen, mein Grundsatz war immer, soweit es möglich war, Nachgiebigkeit, Hoffnung auf die Zeit und den Wandel der öffentlichen Meinung. Aber heute ist alles verändert; wir müssen zugrunde gehen oder den einzigen Weg beschreiten, der uns noch bleibt. Wir sind durchaus nicht so verblendet, zu glauben, daß dieser Weg gefahrlos sei, aber wenn wir schon zugrunde gehen sollen, so möge es wenigstens mit Ruhm geschehen und indem wir alles für Ehre und Religion getan haben, was unsere Pflicht gebietet… Ich glaube, daß die Provinz weniger verderbt ist als die Hauptstadt, aber es ist Paris, das für das ganze Königreich den Ton angibt. Die Klubs und die geheimen Gesellschaften führen das ganze Land; die anständigen Leute und die Unzufriedenen, obwohl in großer Zahl, fliehen aus dem Lande oder verbergen sich, weil sie nicht die Stärkeren sind oder weil es ihnen an Zusammenschluß fehlt. Erst wenn sich der König frei in einer befestigten Stadt wird zeigen können, wird man erstaunt sein, wieviel Unzufriedene zum Vorschein kommen werden, die bisher schweigen und stöhnen. Aber je länger man zögert, um so weniger Unterstützung wird man finden, denn der republikanische Geist macht jeden Tag neue Fortschritte in allen Klassen, die Truppen sind mehr als je bedrängt, und man könnte nicht mehr auf sie zählen, wenn man noch länger zögerte.«


Außer von der Revolution aber droht noch eine zweite Gefahr. Die französischen Prinzen, der Graf von Artois, der Prinz von Condé und die anderen Emigranten, schlechte Helden, aber laute Bramarbasse, lärmen mit Säbeln, die sie vorsichtigerweise in der Scheide führen, an der Grenze herum. Sie intrigieren an allen Höfen, sie wollen, um das Peinliche ihres Davongelaufenseins zu maskieren, durchaus Helden spielen, solange es nicht gefährlich ist; sie reisen von Hof zu Hof, suchen Kaiser und Könige gegen Frankreich aufzuhetzen, ohne zu bedenken und ohne sich damit zu beschweren, daß sie die Lebensgefahr des Königs und der Königin durch diese hohlen Demonstrationen erhöhen. »Er (d’Artois) kümmert sich wenig um seinen Bruder und meine Schwester«, schreibt Kaiser Leopold II., »gli importa un frutto, so drückt er sich aus, wenn er vom König spricht, und denkt nicht daran, wie sehr er den König und meine Schwester durch seine Pläne und Versuche gefährdet.« Die großen Helden sitzen in Koblenz und Turin, halten üppige Tafel und behaupten dabei, nach Jakobinerblut durstig zu sein; die Königin hat die größte Mühe, sie wenigstens an den gröbsten Torheiten zu hindern. Auch ihnen muß der Wind aus den Segeln genommen werden. Der König muß frei sein, um beide niederzuhalten, die Ultrarevolutionäre und die Ultrareaktionäre, die Unmäßigen innerhalb von Paris und diejenigen an den Grenzen. Der König muß frei sein, und zu diesem Ziel muß selbst der peinlichste Umweg gewählt werden: die Flucht.


Die Ausführung der Flucht liegt in den Händen der Königin, und so erklärt es sich, daß sie die praktischen Vorbereitungen selbstverständlich jenem anvertraut, vor dem sie nichts zu verbergen hat und dem sie unbedenklich vertraut: Fersen. Ihm, der gesagt hat: »Ich lebe nur, um Ihnen zu dienen«, ihm, »dem« Freunde, überläßt sie eine Tat, die nur mit restlosem Einsatz aller Kräfte und mehr noch, nur mit Einsatz des eigenen Lebens geleistet werden kann. Die Schwierigkeiten sind unermeßlich. Um aus dem von Nationalgardisten überwachten Palais hinauszukommen, wo fast jeder Diener ein Spion ist, um die ganze fremde und feindselige Stadt zu durchschreiten, müssen vorsichtig Maßnahmen besonderer Art getroffen werden und für die Fahrt durch das Land selbst Vereinbarungen mit dem einzigen verläßlichen Führer der Truppen, mit dem General Bouillé. Dieser soll, so ist es geplant, den halben Weg entlang bis zur Festung Montmédy, also etwa bis Châlons, einzelne Abteilungen Kavallerie entgegensenden, damit im Falle eines Erkanntwerdens oder einer Verfolgung der Wagen des Königs mit der ganzen königlichen Familie sofort geschützt werden könne. Neue Schwierigkeit nun: diese auffällige militärische Bewegung im Grenzgebiet zu rechtfertigen, muß ein Vorwand gefunden, es muß von der österreichischen Regierung an der Grenze ein Armeekorps zusammengezogen werden, um dem General Bouillé Anlaß zu geben, seine Truppenbewegungen durchzuführen. Alles dies muß in unzähligen Korrespondenzen heimlich erörtert werden und mit äußerster Vorsicht, weil die meisten Briefe geöffnet werden und, wie Fersen selbst sagt, »alles verloren wäre, wenn man nur die geringsten Maßnahmen bemerken würde«. Außerdem – abermalige Schwierigkeit – erfordert diese Flucht größere Geldsummen, und der König und die Königin selbst sind vollkommen ohne Mittel. Alle Versuche, von ihrem Bruder, von den anderen Fürsten in England, Spanien, Neapel oder vom Hofbankier einige Millionen geliehen zu bekommen, sind gescheitert. Auch dafür, wie für alles andere, muß Fersen, dieser kleine, fremde Edelmann, Vorsorge treffen.


Aber Fersen schöpft Kraft aus seiner Leidenschaft. Er arbeitet gleichsam mit zehn Köpfen, zehn Händen und nur mit einem einzigen hingebungsvollen Herzen. Stundenlang berät er mit der Königin, sich nachts oder nachmittags auf dem geheimen Wege einschleichend, alle Einzelheiten. Er führt die Korrespondenz mit den auswärtigen Fürsten, mit dem General Bouillé, er wählt die verläßlichsten Edelleute, die, als Kuriere verkleidet, die Flucht begleiten sollen, und jene, welche die Briefe hin- und hertragen und wieder an die Grenze bringen. Er bestellt die Karosse auf seinen Namen, er besorgt die falschen Pässe, er schafft Geld, indem er auf sein eigenes Vermögen hin von einer russischen und einer schwedischen Dame je dreihunderttausend Livres leiht und sogar sich schließlich dreitausend von seinem eigenen Hausbesorger borgt. Er bringt Stück für Stück die notwendigen Verkleidungen in die Tuilerien und schmuggelt seinerseits wieder die Diamanten der Königin hinaus. Tag und Nacht, Woche um Woche ist er schreibend, verhandelnd, planend und reisend in unablässiger Anspannung und dabei in ständiger Lebensgefahr, denn eine einzige Masche, die sich in diesem über ganz Frankreich gespannten Netz löst, ein einziger Vertrauensmißbrauch eines Eingeweihten, ein einziges ertapptes Wort, ein aufgefangener Brief, und sein Leben ist verwirkt. Aber kühn und zugleich nüchtern klar, unermüdlich, weil von Leidenschaft bewegt, erfüllt er, ein stiller Held des Hintergrundes, seine Pflicht in einem der großen Dramen der Weltgeschichte.


Noch immer aber zögert man, noch immer hofft der zaudernde König, irgendein gefälliges Ereignis würde ihm die Peinlichkeit und die Anstrengung dieses Entweichens ersparen. Aber vergebens, die Karosse ist bestellt, das nötigste Geld zusammengekratzt, die Verabredung für die Eskorte mit dem General Bouillé beendet. Jetzt fehlt nur noch eines; ein recht offenkundiger Anlaß, eine moralische Rückendeckung für diese, trotz allem und allem, nicht sehr ritterliche Flucht. Irgend etwas muß noch gefunden werden, um vor der Welt sichtbar zu erweisen, daß der König und die Königin nicht aus bloßer Ängstlichkeit entwichen sind, sondern daß der Terror selber sie dazu gezwungen hat. Um sich diesen Vorwand zu schaffen, kündigt der König der Nationalversammlung und der Stadtverwaltung an, er wolle die Osterwoche in Saint-Cloud verbringen. Und prompt, wie es heimlich gewünscht und berechnet war, hakt die jakobinische Presse ein, der Hof wolle nur nach Saint-Cloud, um dort von einem unvereidigten Priester Messe und Absolution zu empfangen, außerdem läge die Gefahr nahe, daß der König von dort mit seiner Familie entfliehen wolle. Die aufreizenden Artikel tun ihre Wirkung. Am 19. April, als der König die sehr auffällig bereit gestellten Paradewagen besteigen will, stehen dort schon riesige Menschenmassen zusammengerottet, die Armeen Marats und der Klubs, um die Abfahrt mit Gewalt zu verhindern.


Gerade ein solcher öffentlicher Eklat ist es aber, den die Königin und ihre Berater herbeigesehnt haben. Augenfällig soll der ganzen Welt bewiesen werden, daß Ludwig XVI. als einziger in ganz Frankreich nicht mehr so viel Freiheit habe, mit seinem Wagen zehn Meilen weit fahren zu dürfen, um frische Luft zu atmen. Die ganze königliche Familie setzt sich also demonstrativ in den Wagen und wartet, daß die Pferde angeschirrt werden. Aber die Menge, und mit ihr die Nationalgarde, stellt sich vor die Stalltüren. Schließlich kommt der ewige »Retter«, Lafayette, herbei und befiehlt als Kommandant der Nationalgarde, man solle dem König seinen Weg freigeben. Aber niemand gehorcht ihm. Der Bürgermeister, den er auffordert, die rote Fahne der Warnung zu entfalten, lacht ihm ins Gesicht. Lafayette will zum Volk sprechen, man brüllt ihn nieder. Offen bekennt sich die Anarchie zu ihrem Recht an das Unrecht.


Unterdessen sitzen, während der traurige Kommandant seine Truppen vergebens anfleht, ihm zu gehorchen, der König, die Königin und die Prinzessin Elisabeth ruhig im Wagen inmitten der johlenden Menge. Das wilde Lärmen, die groben Schimpfworte fechten Marie Antoinette nicht an; im Gegenteil, mit stillem Vergnügen sieht sie zu, wie Lafayette, der Apostel der Freiheit, der Liebling des Volkes, zum Schwächling wird vor der aufgereizten Menge. Sie mischt sich nicht in diesen Zwist der beiden Mächte ein, die ihr gleich verhaßt sind; ruhig und unbeirrbar läßt sie diesen Tumult um sich donnern, denn er bringt offenkundig und weltsichtbar den Beweis, daß die Autorität der Nationalgarde nicht mehr vorhanden ist, daß völlige Anarchie in Frankreich herrscht, daß der Pöbel die königliche Familie ungestraft beleidigen darf und somit der König im moralischen Recht ist, wenn er entflieht. Zweieinviertel Stunden lassen sie dem Volk seinen Willen, dann erst gibt der König den Befehl, die Karossen wieder in die Stallungen zurückzubringen, und erklärt, den Ausflug nach Saint-Cloud aufzugeben. Wie immer, wenn sie triumphiert hat, ist die eben noch tobende, schreiende, wütende Menge mit einem Mal begeistert, alles jubelt dem Königspaar zu, und in plötzlicher Sinneswendung verspricht die Nationalgarde der Königin, sie zu beschützen. Aber Marie Antoinette weiß, wie es um diesen Schutz bestellt ist, und antwortet laut: »Ja, darauf rechnen wir. Aber ihr werdet jetzt zugeben müssen, daß wir nicht frei sind.« Mit Absicht sagt sie diese Worte laut. Scheinbar sind sie an die Nationalgarde gerichtet, in Wirklichkeit an ganz Europa.


Wäre noch in der Nacht dieses zwanzigsten April dem Vorhaben die Tat gefolgt, Ursache und Wirkung, Beleidigung und Entrüstung, Hieb und Gegenhieb hätten sich in unmittelbar logischem Ablauf ergänzt. Zwei einfache, leichte, unauffällige Wagen, in dem einen der König mit seinem Sohn, im anderen die Königin und die Tochter, allenfalls noch Madame Elisabeth, und niemand hätte solch alltägliche Kabrioletts mit zwei Leuten darin beachtet; ohne Aufsehen hätte die königliche Familie die Grenze erreicht: Beweis dafür die gleichzeitige Flucht des Bruders des Königs, des Grafen von Provence, der dank solcher Unauffälligkeit ohne Zwischenfall entkommen ist.


Aber selbst einen Fingerbreit zwischen Leben und Tod will die königliche Familie nicht die heiligen Hausgesetze verletzen, selbst auf allergefährlichster Fahrt muß die unsterbliche Etikette mit. Erster Fehler: man beschließt, daß die fünf Personen zusammen in einem Wagen fahren, also die ganze Familie, Vater, Mutter, Schwester und die beiden Kinder, genau so, wie man sie bis ins letzte Dorf von Frankreich von hundert Kupferstichen her kennt. Aber nicht genug damit: Madame de Tourzel erinnert an ihren Eid, demzufolge sie die königlichen Kinder nicht einen Augenblick verlassen dürfe, folglich muß sie, zweiter Fehler, als sechste Person mit. Durch diese unnötige Belastung wird natürlich das Tempo einer Fahrt verzögert, bei der vielleicht jede Viertelstunde, jede Minute entscheidet. Dritter Fehler: es ist undenkbar, daß eine Königin sich persönlich bedient. Also müssen noch zwei Kammerfrauen mit in einem zweiten Wagen; jetzt hält man schon bei acht Personen. Da aber die Posten des Kutschers, des Vorreiters, des Postillons und der Lakaien mit verläßlichen Leuten besetzt werden müssen, die zwar den Weg nicht kennen, aber von Adel sein sollen, ist man glücklich schon bei zwölf Personen angelangt, und mit Fersen und seinem Kutscher bei vierzehn: eine reichliche Anzahl für ein Geheimnis. Vierter, fünfter, sechster und siebenter Fehler: es müssen Toiletten mitgeführt werden, damit die Königin und der König in Montmédy in Gala erscheinen und nicht etwa im Reiseanzug, es werden also noch ein paar hundert Pfund, in funkelnagelneue Koffer gepackt, dem Wagen aufgetürmt, – abermalige Verlangsamung des Tempos, abermalige Erhöhung der Auffälligkeit. Nach und nach wird, was ein heimliches Entweichen sein sollte, zu einer pompösen Expedition.


Der Fehler aller Fehler aber: wenn einmal der König und die Königin vierundzwanzig Stunden fahren sollen, und selbst aus der Hölle, so müssen sie bequem reisen. Also einen neuen Wagen bestellt, besonders breit, besonders gut gefedert, einen Wagen, der nach frischem Lack und Reichtum riecht, der an jeder Umspannstelle jeden Kutscher, jeden Postillon, jeden Postmeister, jeden Fuhrknecht zu besonderer Neugierde herausfordern muß. Aber Fersen – die Liebenden denken niemals weit – will für Marie Antoinette alles so herrlich und schön und luxuriös wie nur möglich. Nach seinen genauen Angaben wird (angeblich für eine Baronin Korff) ein riesiges Ding angefertigt, ein kleines Kriegsschiff auf vier Rädern, das nicht nur die sechs Personen der königlichen Familie und außerdem noch Gouvernante, Kutscher und Diener befördern soll, sondern auch für alle erdenklichen Bequemlichkeiten Platz haben muß, silbernes Tafelgeschirr, Garderobe, Mundvorrat und sogar Leibstühle für kleine, auch bei Königen übliche Bedürfnisse. Ein ganzer Weinkeller wird eingebaut und verstaut, denn man kennt die durstige Kehle des Monarchen; um den Irrwitz noch zu vermehren, wird der Innenraum mit hellem Damast ausgeschlagen, und fast muß man sich wundern, daß man unterlassen hat, auch noch das Lilienwappen recht sichtbar auf dem Wagenschlag anzubringen. Mit dieser schweren Ausrüstung benötigt, um in einem leidlichen Tempo zu fahren, dieser ungeheuerliche Luxuswagen mindestens acht, meist aber zwölf Pferde, das heißt: während eine leichte Postchaise mit zwei Pferden in fünf Minuten umgespannt ist, fordert hier der Pferdewechsel regelmäßig eine halbe Stunde, im ganzen also vier bis fünf Stunden Verzögerung auf einer Fahrt, wo jede Viertelstunde zwischen Leben und Tod entscheidet. Um die adeligen Garden zu entschädigen, daß sie vierundzwanzig Stunden lang niedere Dienerkleider tragen müssen, steckt man sie in blitzblanke, funkelnagelneue und dadurch auffällige Livreen, die merkwürdig kontrastieren zur geplanten, bescheidenen Verkleidung des Königs und der Königin. Diese Auffälligkeit von Seiten der königlichen Familie wird überdies noch dadurch verstärkt, daß in jedem dieser kleinen Städtchen am Wege plötzlich mitten im Frieden Dragonerschwadronen einreiten, angeblich um einen »Geldtransport« zu erwarten, und daß als letzte, wahrhaft historische Dummheit der Herzog von Choiseul als Verbindungsoffizier zwischen den einzelnen Truppenteilen den unmöglichsten Menschen, Figaro in Person, aussucht, den Friseur der Königin, den göttlichen Léonard, wohlgeeignet zu frisieren, aber nicht zu diplomatisieren, und der, mehr als dem König, seiner ewigen Figarorolle treu bleibt, eine schon verwickelte Lage noch vollkommener zu verwirren.


Einzige Entschuldigung für all dies: das Staatszeremoniell von Frankreich hatte keinerlei Vorbild in der Geschichte für die Flucht eines Königs. Wie man zur Taufe fährt, wie zur Krönung, wie ins Theater und wie zur Jagd, welches Kleid, welche Schuhe und welche Spangen man nimmt für großen und kleinen Empfang, für die Messe und Jagd und Spiel, auf das ist mit hundert Einzelheiten das Zeremoniell eingespielt. Aber wie ein König und eine Königin verkleidet aus dem Palast ihrer Ahnen fliehen, dafür gibt es keine Vorschriften; hier müßte kühn und frei eine Lösung aus dem Stegreif einsetzen und den Augenblick erfassen. Weil völlig weltfremd, mußte bei dieser ersten Berührung mit der wirklichen Welt der Hof ohnmächtig unterliegen. In dem Augenblicke, da der König von Frankreich die Livree eines Dieners anzog, um zu fliehen, konnte er nicht mehr Herr seines Schicksals werden.


Nach endlosen Verzögerungen ist der 19. Juni zum Tag der Flucht bestimmt: höchste, allerhöchste Zeit, denn ein Geheimnisnetz, zwischen so viele Hände gespannt, kann jeden Augenblick an irgendeiner Stelle zerreißen. Wie ein Peitschenschlag fährt in dieses leise Tuscheln und Reden plötzlich ein Aufsatz Marats, der ein Komplott zur Entführung des Königs ankündigt. »Man will ihn mit aller Macht in die Niederlande schleppen, unter dem Vorwand, daß seine Sache die aller Könige sei, und ihr seid dumm genug, diese Flucht nicht zu verhindern. Pariser, vernunftverlassene Pariser, ich bin schon müde, es euch immer wieder zu wiederholen, haltet den König und den Dauphin hinter euren Mauern fest und bewahrt sie gut, sperrt die Österreicherin und ihren Schwager ein und den Rest der Familie; der Verlust eines einzigen Tages kann verhängnisvoll für die ganze Nation sein.« Sonderbare Prophezeiung dieses durch die Brille seines krankhaften Mißtrauens merkwürdig scharfsichtigen Mannes; nur daß der »Verlust dieses einen Tages« nicht verhängnisvoll für die Nation wird, sondern für den König und die Königin. Denn nochmals verschiebt in letzter Stunde Marie Antoinette die schon bis in jede Einzelheit festgesetzte Flucht. Vergebens hat Fersen bis zur Erschöpfung gearbeitet, um für den 19. Juni alles bereit zu stellen. Tag und Nacht dient seit Wochen und Monaten seine Leidenschaft nur einzig diesem Unternehmen. Eigenhändig schleppt er Nacht für Nacht von seinen Besuchen bei der Königin unter dem Mantel andere Kleidungsstücke heraus, in unzähligen Korrespondenzen hat er mit dem General Bouillé festgesetzt, an welchem Punkt die Dragoner und Husaren die Karosse des Königs zu erwarten haben; mit eigener Hand die Zügel lenkend, probiert er auf der Straße nach Vincennes die von ihm bestellten Postpferde aus. Die Vertrauten sind alle eingeweiht, der Mechanismus bis ins kleinste Räderwerk eingespielt. Aber im letzten Augenblick gibt die Königin Gegenbefehl. Eine ihrer Kammerfrauen, die ein Verhältnis mit einem Revolutionär hat, ist ihr dringend verdächtig. Nun ist es so eingerichtet, daß gerade am nächsten Morgen, am 20. Juni, diese Frau dienstfrei haben soll, und dieser Tag muß abgewartet werden. Also abermals vierundzwanzig Stunden verhängnisvoller Verzögerung, Kontreorder an den General, Absattlungsbefehl an die schon zum Ausrücken bereiten Husaren, neue Nervenspannung für den schon ganz abgehetzten Fersen und für die Königin, die ihre Unruhe kaum mehr bemeistern kann. Doch endlich ist auch dieser letzte Tag vorbei. Um jeden Verdacht zu zerstreuen, führt die Königin nachmittags ihre beiden Kinder und ihre Schwägerin Elisabeth in einen Vergnügungsgarten nach Tivoli. Bei der Rückkehr gibt sie dem Kommandanten mit gewohnter Hoheit und Sicherheit die Maßnahmen für den nächsten Tag. Nichts von Erregung ist ihr anzumerken und noch weniger dem König, weil dieser nervenlose Mann einer Erregung gar nicht fähig ist. Abends zieht sich Marie Antoinette um acht Uhr in ihre Gemächer zurück und verabschiedet die Frauen. Man legt die Kinder zu Bett und versammelt sich scheinbar sorglos nach dem Abendessen im großen Salon mit der ganzen Familie. Und nur eines könnte ein besonders feiner Beobachter vielleicht wahrnehmen, daß die Königin manchmal aufsteht und auf die Uhr blickt, als wäre sie müde. Aber in Wahrheit war sie nie gespannter, wacher und schicksalbereiter als in dieser Nacht.

vorheriges Kapitel

Mirabeau

nachfolgendes Kapitel

Die Flucht nach Varennes

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.