Die Königin wird unbeliebt


Die Geburtsstunde des Dauphin hatte den Höhepunkt der Macht Marie Antoinettes bedeutet. Indem sie dem Reich einen Thronerben schenkte, war sie gleichsam ein zweitesmal Königin geworden. Noch einmal hatte ihr der rauschende Jubel der Menge gezeigt, welches unerschöpfliche Kapital an Liebe und Vertrauen im französischen Volke trotz aller Enttäuschungen dem angestammten Königshause bereit stand, mit wie wenig Mühe ein Herrscher diese Nation hätte an sich fesseln können. Jetzt müßte sie nur den einen entschiedenen Schritt tun, aus Trianon nach Versailles, nach Paris zurück, aus der Rokokowelt in die wirkliche, aus ihrer flattrigen Gesellschaft zum Adel, zum Volke und alles wäre gewonnen. Aber noch einmal geht sie aus ihrer schweren Stunde unbesorgt in die leichten und vergnüglichen zurück; nach den Festen des Volks beginnen abermals die kostspielig-verhängnisvollen in Trianon. Doch nun ist die große Geduld an ihrem Ende, die Wasserscheide des Glücks erreicht. Von nun an fließen die Wasser abwärts, der Tiefe entgegen.


Nichts Sichtliches, nichts Auffälliges ereignet sich zunächst. Es wird nur stiller und stiller in Versailles, immer weniger Herren und Damen erscheinen bei den großen Empfängen, und diese wenigen zeigen eine gewisse sachliche Kühle im Gruß. Noch wahren sie die Formen, aber um der Form und nicht um der Königin willen. Noch beugen sie das Knie, noch küssen sie höfisch die königliche Hand, aber sie eifern nicht mehr um die Gunst eines Gesprächs, die Blicke bleiben finster und fremd. Wenn Marie Antoinette das Theater betritt, erheben sich nicht mehr wie vordem stürmisch das Parterre und die Logen, in den Straßen verstummt das längstvertraute »Vive la Reine!«. Noch regt sich allerdings keine offene Feindseligkeit, nur jene Wärme ist dahin, die vordem den schuldigen Respekt wohltuend beseelte; man gehorcht noch der Herrscherin, aber man huldigt nicht mehr der Frau. Man dient achtungsvoll der Gattin des Königs, aber man bemüht sich nicht mehr um sie. Man widerspricht ihren Wünschen nicht offen, sondern schweigt; es ist das harte, böse, zurückhaltende Schweigen einer Verschwörung.


Das Hauptquartier dieser heimlichen Verschwörung ist auf die vier oder fünf Schlösser der königlichen Familie verteilt: auf das Luxembourg, das Palais Royal, das Schloß Bellevue und auf Versailles selbst, sie alle sind verbündet gegen Trianon, die Residenz der Königin. Den Chor der Gehässigkeit führen die drei alten Tanten. Sie haben noch immer nicht vergessen, daß das junge Mädchen ihnen aus der Schule der Bosheit entwischt und als Königin über den Kopf gewachsen ist; verdrossen, weil sie keine Rolle mehr spielen, haben sie sich nach dem Schloß Bellevue zurückgezogen. Dort sitzen sie in den ersten Triumphjahren Marie Antoinettes recht verlassen und gelangweilt in ihren Zimmern; niemand kümmert sich um sie, denn alle Beflissenheit flirrt und füttert um die junge bezaubernde Herrscherin, die alle Macht in ihren leichten weißen Händen trägt. Je mehr aber Marie Antoinette unbeliebt wird, um so häufiger gehen im Schloß Bellevue die Türen. All die Damen, die nicht nach Trianon geladen wurden, die entlassene »Madame Etikette«, die abgesägten Minister, die häßlichen und darum sittsam gebliebenen Frauen, die zurückgesetzten Kavaliere, die ausgebooteten Stellungspiraten, alle die den »neuen Kurs« verabscheuen und der altfranzösischen Tradition, der Kirchenfrömmigkeit und den »guten« Sitten wehmütig nachtrauern, sie geben sich in diesem Salon der Zurückgesetzten regelmäßiges Stelldichein. Das Zimmer der Tanten in Bellevue wird zur geheimen Giftapotheke, in welcher der ganze gehässige Hofklatsch, die neuesten Tollheiten der »Österreicherin«, die »Ondits« ihrer Galanterieen Tropfen um Tropfen destilliert und auf Flaschen gezogen werden; hier etabliert sich das Großarsenal aller boshaften Zubringereien, das berüchtigte »atelier des calomnies«; hier werden die kleinen bissigen Couplets gedichtet und vorgelesen und beflügelt, die dann munter durch Versailles schwirren; hier sammelt sich, heimtückischen, hinterhältigen Gehabens, alles, was das Rad der Zeit noch einmal zurückdrehen möchte, alle die lebenden Leichname der Enttäuschten, der Entthronten, der Erledigten, die Larven und Mumien einer vergangenen Welt, das ganze abgetane alte Geschlecht, um Rache zu nehmen dafür, daß es alt und abgetan ist. Aber das Gift dieses gespeicherten Hasses gilt nicht dem »armen guten König«, den sie scheinheilig bedauern, sondern einzig Marie Antoinette, der jungen, der strahlenden, der glücklichen Königin.


Gefährlicher als diese zahnlosen Gestrigen und Vorgestrigen, die nicht mehr beißen, sondern nur Geifer spritzen können, ist das neue Geschlecht, das noch niemals zur Macht gelangt ist und nicht länger im Dunkel bleiben will. Versailles hat sich durch seine exklusive und lässige Haltung derart ahnungslos von dem wirklichen Frankreich abgeschnürt, daß es der neuen Strömungen, die das Land bewegen, überhaupt nicht gewahr wird. Eine intelligente Bürgerschaft ist erwacht, sie hat sich an den Werken Jean Jacques Rousseaus über ihre Rechte belehrt, sie sieht im nachbarlichen England eine demokratische Regierungsform; die Heimkehrer aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bringen ihnen Botschaft aus einem fremden Lande, wo der Unterschied der Kasten und Stände durch die Idee der Gleichheit und Freiheit aufgehoben ist. In Frankreich aber sehen sie nur Starre und Niedergang durch die völlige Unfähigkeit des Hofes. Einmütig hatte das Volk bei dem Tode Ludwigs XV. gehofft, jetzt sei endlich die Schmach der Mätressenwirtschaft, der Unfug der unsauberen Protektionen zu Ende; statt dessen regieren neuerdings die Frauen, Marie Antoinette und hinter ihr die Polignac. Die aufgeklärte Bürgerschaft erkennt mit steigender Erbitterung, wie die politische Machtstellung Frankreichs verfällt, wie die Schulden steigen, das Heer, die Flotte verdorrt, die Kolonieen verloren gehen, während ringsum alle andern Staaten sich energisch entfalten; und in weiten Kreisen wächst der Wille, dieser indolenten Mißwirtschaft ein Ende zu bereiten.


Dieser zusammengeballte Unmut der aufrichtig patriotisch und national Empfindenden wendet sich – und nicht mit Unrecht – vor allem gegen Marie Antoinette. Unfähig und unwillig zu wirklichem Entschluß, zählt der König – dies weiß das ganze Land – überhaupt als Herrscher nicht mit, einzig der Einfluß der Königin ist allmächtig. Nun hätte Marie Antoinette zwei Möglichkeiten gehabt: sich entweder ernst, tätig, energisch wie ihre Mutter der Regierungsgeschäfte anzunehmen oder gänzlich davon zu lassen. Sie in die Politik zu drängen, versucht unablässig die österreichische Gruppe, aber vergeblich, denn um zu regieren oder mitzuregieren, müßte man regelmäßig täglich ein paar Stunden Akten lesen, aber die Königin liest nicht gern. Man müßte die Vorträge der Minister anhören und überdenken, aber Marie Antoinette denkt nicht gern. Schon das bloße Zuhörenmüssen bedeutet für ihren flattrigen Sinn eine arge Anstrengung. »Sie hört kaum hin, wenn man etwas sagt«, klagt der Botschafter Mercy nach Wien »und es besteht fast nie die Möglichkeit, mit ihr eine wichtige und ernsthafte Sache zu besprechen oder ihre Aufmerksamkeit auf einen bedeutsamen Gegenstand zu sammeln. Die Vergnügungssucht hat über sie zu geheimnisvolle Gewalt.« Bestenfalls antwortet sie ihm ab und zu, wenn er im Auftrag ihrer Mutter oder ihres Bruders sie allzu heftig bedrängt: »Sagen Sie mir, was ich tun soll, und ich werde es auch tun«, und geht dann auch tatsächlich zum König. Aber am nächsten Tage hat ihr Unbestand alles wieder vergessen, ihre Einmischung geht über »gewisse ungeduldige Impulse« nicht hinaus, und schließlich resigniert Kaunitz am Wiener Hof. »Zählen wir niemals auf sie und in nichts. Begnügen wir uns, aus ihr, wie aus einem schlechten Zahler, wenigstens das herauszuholen, was zu holen ist.« Man müsse sich bescheiden, schreibt er Mercy, daß eben auch an andern Höfen Frauen sich nicht in die Politik mengen.


Aber ließe sie nur wirklich vom Staatsruder die Hand! Dann bliebe sie wenigstens ohne Schuld und Verantwortlichkeit! Aber, von ihrem Polignac-Klüngel getrieben, mengt sie sich, sobald es eine Neubesetzung eines Ministerpostens, eine Staatsstellung gilt, ununterbrochen ein; sie tut das Gefährlichste, was man in der Politik tun kann, sie redet, ohne nur im entferntesten die Materie zu kennen, überall mit, sie dilettiert und beschließt aus dem Handgelenk in den wichtigsten Fragen, sie verzettelt ihre ungeheure Macht über den König ausschließlich zum Vorteil ihrer Günstlinge. »Wenn es sich um ernste Dinge handelt«, klagt Mercy, »wird sie sofort ängstlich und unsicher in ihren Bemühungen; wird sie aber von ihrer perfiden und intriganten Gesellschaft bedrängt, so tut sie alles, um deren Wünsche durchzusetzen.« »Nichts hat der Königin mehr Haß eingebracht«, vermerkt der Staatsminister Saint-Priest, »als diese sprunghaften Einmengungen, diese ungerechtfertigten Protektionsernennungen.« Denn da sie in den Augen der Bürgerschaft die Staatsgeschäfte führt, da alle diese von ihr durchgesetzten Generale und Gesandten und Minister sich nicht bewähren, das System dieser eigenwilligen Autokratie völlig Schiffbruch leidet und Frankreich mit immer größerer Stromschnelle dem wirtschaftlichen Bankerott entgegentreibt, fällt alle Schuld auf die ihrer Verantwortung völlig unbewußte Königin (ach, sie hat doch nur ein paar reizenden netten Leuten zu guten Posten verholfen!). Alles was in Frankreich Fortschritt, Neuordnung, Gerechtigkeit und schöpferische Tat will, redet und murrt und droht gegen die verschwenderisch sorglose, gegen die ewig muntere Schloßherrin von Trianon, welche die Liebe und den Wohlstand von zwanzig Millionen Menschen töricht und gedankenlos einem hochmütigen Klüngel von zwanzig Damen und Kavalieren aufopfert.


Diese große Unzufriedenheit all derer, die ein neues System, eine bessere Ordnung, eine sinnvollere Verteilung der Verantwortung verlangen, hat lange eines Sammelpunktes entbehrt. Endlich findet sie ihn in einem Haus, in einem Menschen. Auch dieser erbitterte Widersacher trägt königliches Blut in den Adern: wie die Reaktion im Schlosse der Tanten zu Bellevue, so sammelt sich die Revolution im Palais Royal des Herzogs von Orléans: von zwei Fronten aus wird gleichzeitig in ganz gegensätzlichem Sinn der Kampf gegen Marie Antoinette eröffnet. Von Natur aus eher dem Genuß als dem Ehrgeiz zubestimmt, Frauenfreund, Spieler, Prasser und Elegant, durchaus nicht klug und eigentlich auch nicht bösartig, hat dieser völlig durchschnittliche Aristokrat die übliche Schwäche unschöpferischer Naturen: eine nur auf das Äußerliche gerichtete Eitelkeit. Und die Eitelkeit hat Marie Antoinette persönlich gekränkt, indem sie sich, locker spaßend – »frotzelnd«, wie man auf österreichisch sagt und meint –, über die kriegerischen Leistungen ihres Vetters geäußert und verhindert hat, daß ihm der Großadmiralstab von Frankreich zugeteilt werde. Der Herzog von Orléans, schwer beleidigt, nimmt den Handschuh auf; als Abkömmling einer gleich alten Linie des Königshauses, als schwerreicher, unabhängiger Mann, scheut er sich nicht, dem König im Parlament trotzigen Widerstand zu leisten und die Königin offen als seine Feindin zu behandeln. Mit seiner Person hat die Unzufriedenheit endlich den ersehnten Führer gewonnen. Wer sich gegen Habsburg und die herrschende Linie der Bourbons auflehnen will, wer die unbeschränkte Königsautokratie als veraltet und drückend betrachtet, wer vernünftige und demokratische Neuordnung in Frankreich fordert, begibt sich von nun ab unter den Schutz des Herzogs von Orléans. Im Palais Royal, dem eigentlich ersten, noch fürstlich protegierten Klub der Revolution, sammeln sich alle Neuerer, Liberalen, Konstitutionellen, Voltairianer, Philanthropisten, Freimaurer; dazu mengen sich alle Elemente der Unzufriedenheit, die Verschuldeten, die zurückgesetzten Aristokraten, die gebildeten Bürger, die zu keiner Stellung kommen, die unbeschäftigten Advokaten, Demagogen und Journalisten, alle jene gärenden und überlebendigen Kräfte, die später zusammengefaßt die Sturmgarde der Revolution bilden werden. Unter einem schwachen eitlen Führer steht die mächtigste geistige Armee, mit der Frankreich sich die Freiheit erobern wird, geschlossen bereit. Noch ist das Zeichen zum Angriff nicht gegeben. Aber jeder kennt die Richtung, weiß die Parole: Gegen den König! und vor allem: Gegen die Königin!


Zwischen diesen beiden Gruppen der Gegner, der revolutionären und der reaktionären, steht als einzelner Mann der vielleicht gefährlichste und verhängnisvollste Feind der Königin, der eigene Bruder ihres Mannes, »Monsieur«, Franz Xavier Graf von Provence, der spätere König Ludwig XVIII. Leisetreter und Schattengänger, intrigant und vorsichtig, schließt er sich, um sich nicht voreilig zu kompromittieren, keiner dieser Gruppen an, er pendelt abwartend nach rechts und links, bis das Schicksal ihm die rechte Zeigerstunde offenbaren wird. Er sieht nicht ungern die wachsenden Schwierigkeiten, aber er hütet sich, sie öffentlich zu bekritteln; ein schwarzer, stummer Maulwurf, gräbt er unterirdisch seine Minengänge und wartet, bis die Stellung seines Bruders genug erschüttert ist. Denn nur wenn Ludwig XVI. und Ludwig XVII. erledigt sind, kann Graf Franz Xavier von Provence endlich König werden, endlich Ludwig XVIII. – seit der Kindheit heimlich verschlossenes Ziel seines Ehrgeizes. Schon einmal hatte er sich berechtigter Hoffnung hingegeben, der Vertreter, der »Regent« und rechtliche Nachfolger seines Bruders zu werden; die sieben tragischen Jahre, da die Ehe Ludwigs XVI. infolge des ominösen Hemmnisses unfruchtbar blieb, waren für seinen ungeduldigen Ehrgeiz die sieben fetten Jahre der Bibel. Aber dann kam der grimmige Stoß gegen seine erbschleicherischen Hoffnungen; als Marie Antoinette von einer Tochter entbunden wird, entringt sich ihm in einem Brief an den König von Schweden das schmerzliche Bekenntnis: »Ich verberge mir selbst nicht, daß mich der Umstand empfindlich berührt hat… Nach außen hin bin ich rasch wieder Herr meiner selbst geworden und habe das gleiche Betragen wie vordem gezeigt, allerdings ohne eine Freude zu betonen, die man für Falschheit genommen hätte, was ja auch schließlich wahr gewesen wäre… Innerlich war es mir schwerer, siegreich zu bleiben. Manchmal lehnte sich das Gefühl noch auf, aber ich hoffe, es in Schach zu halten, wenn es schon nicht gänzlich besiegt werden kann.«


Die Geburt des Dauphin knickt dann gänzlich seine letzten Träume der Thronfolgerschaft; nun ist der gerade Weg versperrt, und er muß jene gewundenen und heuchlerischen gehn, die schließlich – allerdings erst nach dreißig Jahren – an das ersehnte Ziel geführt haben. Die Gegnerschaft des Grafen von Provence ist nicht wie jene des Herzogs von Orléans eine offene Haßflamme, sondern ein unter der Asche der Verstellung schwelendes Neidfeuer; solange Marie Antoinette und Ludwig XVI. die Macht unbestritten in Händen bewahren, verhält sich der heimliche Kronprätendent, ohne im geringsten einen Anspruch öffentlich anzukündigen, kühl und still; erst mit der Revolution beginnt sein verdächtiges Hinüber und Herüber, die merkwürdigen Konferenzen im Luxembourg-Palais. Aber kaum glücklich über die Grenze gerettet, schaufelt er durch seine herausfordernden Proklamationen wacker mit an dem Grab seines Bruders, seiner Schwägerin, seines Neffen, in der – tatsächlich erfüllten – Hoffnung, in ihrem Sarg die ersehnte Krone zu finden.


Hat der Graf von Provence noch mehr getan? War seine Rolle noch mephistophelischer, wie so viele behaupten? Ist sein Prätendentenehrgeiz wirklich so weit gegangen, daß er selbst die Broschüren gegen die Ehre seiner Schwägerin drucken und verbreiten ließ? Hat er tatsächlich jenes unglückliche Kind, Ludwig XVII., das man heimlich aus dem Temple gerettet, wieder durch Dokumentendiebstahl in ein dunkles und heute noch nicht völlig erhelltes Schicksal zurückgeschleudert? Vieles in seinem Verhalten gibt dem äußersten Verdachte Raum. Denn sofort nach seiner Thronbesteigung hat der König Ludwig XVIII. für schweres Geld oder mit grober Gewalt viele Briefe an sich gezogen oder sonst vernichten lassen, die einstmals der Graf von Provence geschrieben hatte. Und daß er nicht wagte, den Leichnam jenes im Temple gestorbenen Kindes als Ludwig XVII. beisetzen zu lassen, wie wäre dies anders zu deuten, als daß Ludwig XVIII. selbst nicht an den Tod Ludwigs XVII., sondern an die tatsächliche Unterschiebung eines fremden Kindes geglaubt hat? Aber dieser hartnäckige Schattengänger hat gut zu schweigen und sich zu verbergen verstanden; heute sind jene unterirdischen Stollen, mit denen er sich an den französischen Thron heranminiert, längst verschüttet. Nur das weiß man: selbst unter ihren erbittertsten Gegnern hatte Marie Antoinette keinen gefährlicheren Feind als diesen hintergründigen und undurchdringlichen Mann.


Nach zehn verspielten, vergeudeten Regierungsjahren ist Marie Antoinette bereits von allen Seiten umstellt, 1785 steht der Haß schon in hohem Halm. Alle der Königin feindlichen Gruppen – sie umfassen beinahe den ganzen Adel und die halbe Bürgerschaft – haben ihre Positionen bezogen und warten nur auf ein Zeichen zum Angriff. Noch aber ist die Autorität der ererbten Macht zu stark, noch wird kein einzelner entschlossener Plan gehegt. Nur ein leises Reden und Raunen, ein Surren und Schwirren von fein gefiederten Pfeilen geht durch Versailles; jeder einzelne trägt an seiner Spitze einen Tropfen aretinischen Giftes, und alle zielen sie an dem König vorbei nach der Königin. Kleine bedruckte oder beschriebene Blättchen wandern unter dem Tisch von Hand zu Hand und werden rasch unter den Rock geschoben, wenn ein fremder Schritt naht. In den Buchläden des Palais Royal lassen sich sehr vornehme Adelsherren mit dem Ludwigskreuz und diamantenen Schuhschnallen in die Hinterstube von dem Verkäufer führen, der, nachdem er sorgfältig die Tür verriegelt hat, aus irgendeinem staubigen Versteck zwischen alten Schmökern das neueste Libell gegen die Königin herausholt; angeblich aus London oder Amsterdam geschmuggelt, in Wirklichkeit ist der Druck merkwürdig frisch, ja noch feucht, vielleicht ist es in demselben Hause gedruckt, im Palais Royal, das dem Herzog von Orléans gehört, oder im Luxembourg. Ohne Zögern zahlen die vornehmen Kunden oft mehr Goldstücke, als diese Broschüren Blätter haben; manchmal sind es deren nicht mehr als zehn oder zwanzig, aber dafür reichlich mit lasziven Kupfern geschmückt und mit boshaften Späßchen gepfeffert. Solch ein saftiges Pasquill gilt nun als das beliebteste Präsent an eine Geliebte von Adel, eine von jenen, der Marie Antoinette nicht die Ehre erwies, sie nach Trianon zu laden; so ein perfides Geschenk erfreut mehr als ein kostbarer Ring oder Fächer. Von unbekannten Verfassern gedichtet, von geheimen Händen gedruckt, von unfaßbaren Händen verbreitet, flattern diese ehrabschneiderischen Schriften gegen die Königin fledermausflügelnd durch die Parktore von Versailles in die Boudoirs der Damen und in die Schlösser der Provinz; wenn aber der Polizeileutnant ihnen nachjagen will, fühlt er sich plötzlich von unsichtbaren Mächten gehemmt. Überallhin schlüpfen diese Blätter; die Königin findet sie bei Tisch unter der Serviette, der König auf seinem Schreibtisch mitten unter den Akten; in der Loge der Königin steckt vor ihrem Sitz, mit einer Nähnadel in den Samt gedrückt, ein boshaftes Gedicht, und wenn sie sich nachts aus ihrem Fenster beugt, hört sie das höhnende Bänkellied, das seit langem in aller Munde ist und mit der Frage beginnt:


Chacun se demande tous bas:
Le Roi peut-il? Ne peut-il pas?
La triste Reine en désespère…


und nach den erotischen Einzelheiten mit der Drohung endet:


Petite Reine de vingt ans
Qui traitez aussi mal les gens
Vous repasserez en Bavière.


Diese Pamphlete und »Polissonnerieen« der ersten Zeit sind im Vergleich zu den spätem allerdings noch zurückhaltend, eher boshaft als bösartig. Noch sind die Pfeilspitzen nur in Lauge getaucht und nicht in Gift, mehr zugeschnitten, um zu ärgern, als um tödlich zu treffen. Erst von der Stunde an, da die Königin schwanger wird und dieses unerwartete Ereignis die verschiedenen Erbschleicher bei Hofe im tiefsten verärgert, verschärft sich merklich der Ton. Gerade jetzt, da es nicht mehr wahr ist, beginnen alle absichtlich laut den König als impotent, die Königin als Ehebrecherin zu verspotten, um damit gleich von vornherein – man ahnt in wessen Interesse die allfälligen Nachkommen als Bastarde hinzustellen. Insbesondere seit der Geburt des Dauphin, des unbestreitbar rechtmäßigen Thronerben, wird aus jenen gedeckten und verdeckten Unterständen auf Marie Antoinette mit »roten Kugeln« geschossen. Ihre Freundinnen Lamballe und Polignac werden als geübte Meisterinnen lesbischen Liebesdienstes an den Pranger gestellt, Marie Antoinette als unersättliche und perverse Erotomanin, der König als armer Gehörnter, der Dauphin als Bastard; zur Probe diene der Spruch, der damals munter über alle Lippen springt:


Louis, si tu veux voir
Bâtard, cocu, putain,
Regarde ton miroir,
La Reine et le Dauphin.


1785 ist das Verleumdungskonzert schon in vollem Gang, der Takt gegeben, der Text geliefert. Die Revolution braucht dann nur laut über die Straße zu schreien, was in den Salons erreimt und ersonnen wurde, um Marie Antoinette vor ihr Tribunal zu fordern. Die eigentlichen Stichworte der Anklage hat der Hof souffliert. Und die Hacke des Hasses, welche die Königin fällt, sie ist von feinen, schmalen, beringten Aristokratenhänden dem Henker in die Hand gedrückt worden.


Wer verfaßt diese rufmörderischen Schriften? Das ist eigentlich nebensächliche Frage, denn die Poetaster, die jene Verslein dichten, besorgen ihr Geschäft meist völlig ahnungs- und absichtslos. Sie arbeiten für fremde Zwecke und für fremdes Geld. Wenn zur Zeit der Renaissance vornehme Herren sich eines Unbequemen entledigen wollten, kauften sie sich für ein Felleisen voll Gold einen sichern Dolch, oder sie bestellten Gift. Das achtzehnte Jahrhundert, philanthropisch geworden, bedient sich feinerer Methoden. Man mietet gegen politische Gegner nicht mehr Dolche, sondern eine Feder, man läßt seine politischen Feinde nicht mehr körperlich, sondern moralisch erledigen: man tötet durch Lächerlichkeit. Glücklicherweise bekommt man gerade um 1780 für gutes Geld die allerbesten Federn geliehen. Herr Beaumarchais, Verfasser unsterblicher Komödien, Brissot, der zukünftige Tribun, Mirabeau, der Genius der Freiheit, Choderlos de Laclos, diese großen Männer sind alle, weil zurückgestoßen, trotz ihres Genies zu billigen Preisen käuflich. Und hinter diesen genialen Pasquillanten warten hundert andere gröbere und gemeinere mit schmutzigen Nägeln und leerem Magen, jederzeit bereit, alles zu schreiben, was man von ihnen verlangt, Honig oder Gift, Hochzeitsgedicht oder Schmähschrift, Hymnus oder Pamphlet, lang oder kurz, scharf oder zart, politisch oder unpolitisch, ganz wie der gnädige Herr es bestellt. Hat man außerdem noch Verwegenheit und Geschick, so verdient man bei solchen Geschäftlein doppelt und dreifach. Erstlich läßt man sich für das gelieferte Pasquill gegen die Pompadour, gegen die Dubarry oder jetzt gegen Marie Antoinette von dem ungenannten Besteller bezahlen; dann meldet man heimlich dem Hof, eine solche Schandschrift liege in Amsterdam oder London druckfertig bereit, und erhält dafür, daß man die Auflage unterdrücken hilft, Geld vom Hofkassierer oder Polizeileutnant. Und drittens verdient der dreifach Kluge – so hat es Beaumarchais gehalten –, wenn er trotz Eid und Ehrenwort von der angeblich völlig eingestampften Auflage dennoch ein oder zwei Exemplare zurückbehält und diese, verändert oder unverändert, neu zu drucken droht – ein munterer Spaß, der seinem genialen Erfinder in Wien bei Maria Theresia vierzehn Tage Gefängnis, aber dann im ängstlichen Versailles tausend Goldgulden Entschädigung und noch siebzigtausend Livres einbringt. Bald spricht sich unter den Sudlern die Nachricht herum: Pamphlete gegen Marie Antoinette seien zur Zeit das einträglichste Geschäft und zudem nicht einmal sehr gefährlich; so verbreitet sich die verhängnisvolle Mode munter weiter. Schweigen und Schwatz, Geschäft und Gemeinheit, Haß und Habsucht arbeiten gut und treu in Bestellung und Verbreitung dieser Schriften zusammen. Und bald ist ihren vereinten Bemühungen die gewünschte Absicht gelungen: Marie Antoinette als Frau, als Königin in ganz Frankreich endgültig verhaßt zu machen.


Marie Antoinette spürt deutlich diese bösartigen Machenschaften hinter ihrem Rücken, sie weiß von den Spottschriften und ahnt auch deren Urheber. Aber ihre desinvoltura, ihr eingeborener und unbelehrbarer Habsburgerstolz hält es für mutiger, Gefahren zu verachten, als ihnen klug oder vorsichtig zu begegnen. Verächtlich streift sie diese Schmutzspritzer vom Kleid. »Wir befinden uns in einer Epoche satirischer Chansons«, schreibt sie rascher Hand ihrer Mutter, »man macht solche über alle Personen bei Hof, Männer und Frauen, und die französische Leichtfertigkeit hat nicht einmal vor dem König Halt gemacht. Was mich betrifft, so bin ich auch nicht geschont worden.« Das ist alles, anscheinend ihr ganzer Ärger, ihr ganzer Groll. Was kann es ihr schaden, wenn ein paar Schmeißfliegen sich auf ihr Kleid setzen! Gepanzert in ihrer königlichen Würde, meint sie sich unverwundbar von papiernen Pfeilen. Aber sie vergißt, daß ein einziger Tropfen solchen teuflischen Verleumdungsgifts, einmal in den Blutkreislauf der öffentlichen Meinung eingedrungen, ein Fieber erzeugen kann, dem später selbst die weisesten Ärzte ohnmächtig gegenüberstehen. Lächelnd und leicht geht Marie Antoinette an der Gefahr vorbei. Worte sind für sie bloß Spreu im Wind. Es muß erst ein Sturm kommen, um sie zu erwecken.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.