Le Roi est mort, vive le Roi!
Am 27. April 1774 befällt den König Ludwig XV. auf der Jagd plötzlich Mattigkeit; mit schweren Kopfschmerzen kehrt er nach seinem Lieblingsschloß Trianon zurück. In der Nacht stellen die Ärzte Fieber fest und holen Madame Dubarry an sein Lager. Am nächsten Morgen verordnen sie bereits beunruhigt die Übersiedlung nach Versailles. Selbst der unerbittliche Tod muß sich den noch unerbittlicheren Gesetzen der Etikette fügen: ein König von Frankreich darf nicht anderswo ernstlich krank sein oder sterben als in dem königlichen Paradebett. »C’est à Versailles, Sire, qu’il faut être malade.« Dort umstehen sofort sechs Ärzte, fünf Chirurgen, drei Apotheker, im ganzen vierzehn Personen das Krankenlager, sechsmal in jeder Stunde tastet jeder einzelne den Puls ab. Aber nur Zufall hilft zur Diagnose; als abends ein Diener die Kerze hochhebt, entdeckt einer unter den Umstehenden die berüchtigten roten Flecken im Gesicht, und im Nu weiß der ganze Hof und das ganze Schloß von der Schwelle bis zum First: die Blattern! Ein Windstoß von Schrecken fährt durch das riesige Haus, Angst vor der Ansteckung, die tatsächlich in den nächsten Tagen einige Personen ergreift, und mehr noch vielleicht Angst der Höflinge um ihre Stellung im Falle des Todes. Die Töchter zeigen den Mut der wirklich Frommen, tagsüber halten sie bei dem König die Wache, in der Nacht bleibt Madame Dubarry aufopfernd am Lager des Kranken. Den Thronerben dagegen, dem Dauphin und der Dauphine, verbietet das Hausgesetz, wegen der Ansteckungsgefahr das Zimmer zu betreten: seit drei Tagen ist ihr Leben um vieles kostbarer geworden. Und nun teilt sich mit einem gewaltigen Schnitt der Hof; an dem Krankenbett Ludwigs XV. wacht und zittert die alte Generation, die Macht von gestern, die Tanten und die Dubarry; sie wissen genau, daß ihre Herrlichkeit mit dem letzten Atemzug dieser fiebernden Lippen endet. In den andern Zimmern versammelt sich die kommende Generation, der zukünftige König Ludwig XVI., die zukünftige Königin Marie Antoinette und der Graf von Provence, der, solange sich sein Bruder Ludwig nicht entschließen kann, Kinder zu zeugen, sich heimlich gleichfalls als künftigen Thronanwärter fühlt. Zwischen diesen beiden Räumen steht das Schicksal. Niemand darf das Krankenzimmer betreten, wo die alte Sonne der Herrschaft untergeht, niemand das andere Zimmer, in dem die neue Sonne der Macht aufsteigt: dazwischen, in dem Œil de Bœuf, dem großen Vorraum, wartet ängstlich und schwankend die Masse der Höflinge, unsicher, wohin sie ihre Wünsche wenden sollen, zu dem sterbenden oder zu dem kommenden Könige, nach Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang.
Inzwischen durchpflügt mit tödlicher Wucht die Krankheit den abgelebten, verbrauchten und erschöpften Leib des Königs. Gräßlich aufgeschwollen, von Pusteln übersät, geht der lebende Körper, während das Bewußtsein nicht einen Augenblick aussetzt, in grauenhafte Zersetzung über. Die Töchter und Madame Dubarry brauchen reichlich Mut, um durchzuhalten, denn trotz der geöffneten Fenster erfüllt pestilenzartiger Gestank das königliche Gemach. Bald treten die Ärzte zur Seite, sie geben den Körper verloren – nun beginnt der andere Kampf, das Ringen um die sündige Seele. Aber Entsetzen: die Priester weigern sich, an das Krankenbett zu treten, Beichte und Kommunion zu gewähren; erst solle der sterbende König, der so lange unfromm und nur seinen Lüsten gelebt habe, tätig seine Reue erweisen. Erst müsse der Stein des Anstoßes weggeräumt sein, die Buhlerin, die verzweifelt an einem Lager wacht, das sie so lange unchristlich geteilt hat. Schwer entschließt sich der König gerade jetzt, in dieser fürchterlichen Stunde letzten Alleinseins, den einzigen Menschen wegzuschicken, an dem er innerlich hängt. Aber immer grimmiger würgt ihm die Angst vor dem Höllenfeuer die Kehle. Mit erstickter Stimme nimmt er Abschied von Madame Dubarry, und sofort wird sie unauffällig in einem Wagen in das nahegelegene Schlößchen Rueil gebracht: dort soll sie warten, um wiederzukehren für den Fall, daß der König sich noch einmal erholt.
Jetzt erst, nach dieser sichtlichen Tat der Reue, sind Beichte und Kommunion möglich. Jetzt erst betritt ein Mann, der achtunddreißig Jahre lang der unbeschäftigteste am ganzen Hof gewesen, das königliche Schlafgemach: der Beichtiger Seiner Majestät. Hinter ihm schließt sich die Tür, und sehr zu ihrem Leidwesen können die neugierigen Höflinge im Vorgemach das Sündenregister des Hirschparkkönigs (und es wäre so interessant!) nicht mitanhören. Aber, die Uhr in der Hand, zählen sie draußen die Minuten sorgfältig mit, um wenigstens dies in ihrer bösartigen Skandalfreude zu berechnen, wieviel Zeit ein Ludwig XV. benötige, um seine sämtlichen Sünden und Ausschweifungen zu bekennen. Endlich, nach genau sechzehn Minuten, öffnet sich neuerdings die Tür, der Beichtiger tritt heraus. Aber schon deuten manche Zeichen darauf hin, daß Ludwig XV. die endgültige Absolution noch nicht gewährt sei, daß die Kirche von einem Monarchen, der achtunddreißig Jahre sein sündiges Herz nicht erleichtert und vor den Augen seiner Kinder in Schande und fleischlicher Lust gelebt hat, noch eine tiefere Demütigung verlange als dieses heimliche Bekenntnis. Gerade weil er der Höchste der Welt gewesen und sich sorglos über dem geistlichen Gesetz stehend gedünkt, verlangt von ihm die Kirche, daß er sich besonders tief vor dem Allerhöchsten beuge. Öffentlich, vor allen und zu allen, müsse der sündige König für seinen unwürdigen Lebenswandel Reue bekunden. Dann erst solle ihm das Abendmahl erteilt werden.
Großartige Szene am nächsten Morgen: der mächtigste Autokrat der Christenheit muß christliche Buße vor der versammelten Schar seiner eigenen Untertanen tun. Die ganze Treppe des Schlosses entlang stehen die Garden unter Waffen, die Schweizer bilden von der Kapelle bis zum Sterbezimmer hin Spalier, dumpf wirbeln die Trommeln, sobald im feierlichen Zuge unter dem Baldachin die hohe Geistlichkeit mit dem Hostiengefäß eintritt. Jeder eine brennende Kerze in der Hand, schreiten hinter dem Erzbischof und dessen Gefolge der Dauphin und seine beiden Brüder, die Prinzen und Prinzessinnen, um das Allerheiligste bis zur Tür zu begleiten. Bei der Schwelle machen sie Halt und sinken in die Kniee. Nur die Töchter des Königs und die nicht erbberechtigten Prinzen betreten mit dem hohen Klerus das Sterbegemach.
In der atemlosen Stille hört man den Kardinal eine leise Ansprache halten, man sieht ihn durch die offene Tür das heilige Abendmahl erteilen. Dann tritt er – Augenblick voll Schauer und ehrfürchtiger Überraschung – an die Schwelle des Vorsaales und spricht mit erhobener Stimme zu dem ganzen versammelten Hof: »Meine Herren, der König beauftragt mich, Ihnen zu sagen, daß er Gott um Verzeihung für die Beleidigungen bittet, die er ihm angetan, und für das schlechte Beispiel, das er seinem Volke gegeben hat. Wenn Gott ihm wieder Gesundheit schenkt, verspricht er, Buße zu tun, den Glauben zu unterstützen und das Schicksal seines Volkes zu erleichtern.« Vom Bett her hört man ein leises Stöhnen. Nur für die Nächststehenden deutlich vernehmbar, murmelt der Sterbende: »Ich wollte, ich hätte selbst die Kraft gehabt, es zu sagen.«
Was jetzt kommt, ist nur noch Grauen. Nicht ein Mensch stirbt, sondern ein aufgedunsener, schwarz gefärbter Kadaver zerfällt in sich selbst. Aber riesenhaft wehrt sich, als wäre die Bourbonenkraft all seiner Ahnen in ihm versammelt, der Körper Ludwigs XV. gegen die unaufhaltsame Vernichtung. Furchtbar sind diese Tage für alle. Die Diener werden ohnmächtig von dem fürchterlichen Geruch, die Töchter wachen mit letzter Kraft, längst haben sich die Ärzte hoffnungslos zurückgezogen, immer ungeduldiger harrt der ganze Hof auf die baldige Beendigung der gräßlichen Tragödie. Unten stehen, seit Tagen angeschirrt, die Karossen bereit, denn um die Ansteckung zu vermeiden, soll der neue Ludwig, ohne eine Minute zu verlieren, mit seinem ganzen Gefolge nach Choisy übersiedeln, sobald der alte König den letzten Atemzug getan hat. Die Reiter haben bereits ihre Sättel zurechtgemacht, die Koffer sind gepackt, Stunde um Stunde warten unten die Diener und Kutscher; alles starrt nur noch auf die kleine brennende Kerze hin, die man ans Fenster des Sterbenden geklebt hat und die – ein vereinbartes Zeichen für alle – im bewußten Augenblick ausgelöscht werden soll. Aber der riesige Körper des alten Bourbonen wehrt sich noch einen ganzen Tag. Endlich, Dienstag, den 10. Mai, um halb vier Uhr nachmittags, verlischt die Kerze. Sofort wird das Murmeln zum Rauschen. Von Zimmer zu Zimmer läuft – eine springende Welle – die Nachricht, der Ruf, der wachsende Wind: »Der König ist tot, es lebe der König!«
Marie Antoinette wartet mit ihrem Gatten in einem kleinen Zimmer. Auf einmal hören sie jenes geheimnisvolle Brausen, immer lauter, näher und näher brandet von Zimmer zu Zimmer eine unverständliche Wortwoge. Jetzt, als ob ein Sturm sie groß aufgerissen hätte, öffnet sich die Tür, Madame de Noailles tritt ein, sinkt in die Kniee und grüßt als erste die Königin. Hinter ihr drängen die andern, mehr, immer mehr, der ganze Hof, denn jeder will rasch heran, seine Huldigung darzubringen, jeder sich zeigen, unter den ersten Glückwünschenden sich bemerkbar machen. Die Tamboure wirbeln, die Offiziere schwingen die Degen, und von Hunderten von Lippen braust der Ruf: »Der König ist tot, es lebe der König!«
Als Königin schreitet Marie Antoinette aus dem Zimmer, das sie als Dauphine betreten. Und während man im verlassenen Hause mit einem Aufatmen der Erleichterung den blauschwarzen unkenntlichen Leichnam Ludwigs XV. rasch in den längst vorbereiteten Sarg packt, um ihn mit möglichst wenig Aufsehen zu verscharren, rollt die Karosse einen neuen König, eine neue Königin durch die vergoldeten Parktore von Versailles. Und an den Straßen jubelt das Volk ihnen zu, als sei mit dem alten König das alte Elend zu Ende und mit den neuen Herrschern beginne eine neue Welt.
Die alte Schwätzerin Madame Campan erzählt in ihren bald honigsüßen, bald tränennassen Memoiren, Ludwig XVI. und Marie Antoinette seien, als man ihnen die Kunde vom Tode Ludwigs XV. überbrachte, in die Kniee gesunken und hätten schluchzend ausgerufen: »Mein Gott, schütze uns und bewahre uns, wir sind zu jung, viel zu jung, um zu regieren.« Das ist eine sehr rührende Anekdote und, weiß Gott, geeignet für eine Kinderfibel; schade nur, daß sie, wie die meisten Anekdoten um Marie Antoinette, den kleinen Nachteil hat, höchst ungeschickt und unpsychologisch erfunden zu sein. Denn solche bigotte Rührung paßt herzlich schlecht zu dem fischblütigen Ludwig XVI., der gar keinen Grund hatte, über ein Ereignis erschüttert zu sein, das der ganze Hof seit acht Tagen mit der Uhr in der Hand stündlich erwartete, und noch weniger zu Marie Antoinette, die sorglosen Herzens dies Geschenk der Stunde wie jedes andere entgegennahm. Nicht daß sie herrschgierig gewesen wäre oder schon ungeduldig, die Zügel zu fassen; nie hat Marie Antoinette davon geträumt, eine Elisabeth, eine Katharina, eine Maria Theresia zu werden: dazu war ihre seelische Energie zu gering, die Spannweite ihres Geistes zu eng, ihr Wesen zu träge. Ihre Wünsche reichen, wie immer bei einem mittleren Charakter, nicht weit über die eigene Person hinaus; diese junge Frau hat keine politischen Ideen, die sie der Welt aufprägen will, keinerlei Neigung, andere zu unterjochen und zu demütigen; nur ein starker, ein trotziger und oft kindischer Instinkt der Unabhängigkeit ist ihr von Jugend her eigen, sie will nicht herrschen, aber auch von niemand sich beherrschen und beeinflussen lassen. Herrin sein, heißt für sie nicht mehr als selbst frei sein. Jetzt erst, nach mehr als drei Jahren Bevormundung und Bewachung, fühlt sie sich zum erstenmal ungehemmt, seit niemand mehr da ist, ihr Halt zu gebieten (denn die strenge Mutter wohnt tausend Meilen weit, und dem unterwürfigen Gemahl lächelt sie seine ängstlichen Proteste verächtlich weg). Um diese eine entscheidende Stufe von der Thronfolgerin zur Königin erhöht, steht sie endlich über allen, niemand untertan als ihrer eigenen kapriziösen Laune. Zu Ende ist es nun mit den Quengeleien der Tanten, zu Ende mit Erlaubnisbitten beim König, ob sie auf den Opernball fahren dürfe oder nicht, vorbei die Anmaßung ihrer verhaßten Gegnerin, der Dubarry: morgen wird die »créature« für immer in die Verbannung gestoßen sein, nie mehr werden ihre Brillanten bei den Soupers blitzen, nie mehr in ihrem Boudoir sich die Fürsten und Könige zum Handkuß drängen. Stolz, und ohne sich ihres Stolzes zu schämen, greift Marie Antoinette nach der ihr zugefallenen Krone: »Obwohl mich Gott schon in jenem Rang zur Welt kommen ließ«, schreibt sie ihrer Mutter, »den ich jetzt bekleide, so kann ich doch nicht umhin, die Güte der Vorsehung zu bewundern, die mich, das jüngste Ihrer Kinder, für das schönste Königreich Europas erwählt hat.« Wer in dieser Ankündigung nicht den Oberton der Freude mitschwingen hört, hat ein hartes Ohr. Gerade weil sie nur die Größe ihrer Stellung fühlt und nicht auch ihre Verantwortung, besteigt Marie Antoinette sorglos und heiteren Hauptes den Thron.
Und kaum hat sie ihn bestiegen, so rauscht ihr aus der Tiefe schon Jubel entgegen. Noch haben sie nichts getan, nichts versprochen und nichts gehalten, und doch begrüßt schon Begeisterung die beiden jungen Herrscher. Wird nicht jetzt ein goldenes Zeitalter anbrechen, träumt das ewig wundergläubige Volk, da die markaussaugende Mätresse in die Verbannung geschickt, der alte gleichgültige Lüstling Ludwig XV. verscharrt ist, da ein junger, einfacher, sparsamer, bescheidener, frommer König, eine entzückende, lieblich-junge und gütige Königin über Frankreich herrschen? In allen Schaufenstern prangen die Bildnisse der neuen, mit noch ganz unverbrauchter Hoffnung geliebten Monarchen; Begeisterung grüßt jede ihrer Handlungen, und auch der in Angst erstarrte Hof beginnt sich zu freuen: jetzt kommen wieder Bälle und Paraden, Heiterkeit und neue Lebenslust, die Herrschaft der Jugend und der Freiheit. Ein Aufatmen begrüßt den Tod des alten Königs, und die Sterbeglocken auf den Türmen ganz Frankreichs klingen so frisch und freudig, als läuteten sie zu einem Fest.
Wahrhaft ergriffen und erschrocken, weil von düsterem Vorgefühl bewegt, ist in ganz Europa nur ein Mensch beim Tode Ludwigs XV.: die Kaiserin Maria Theresia. Als Monarchin kennt sie aus dreißig mühseligen Jahren die Last einer Krone, als Mutter die Schwächen und Fehler ihrer Tochter. Aufrichtig gern hätte sie den Augenblick der Thronbesteigung noch hinausgeschoben gesehen, bis dieses leichtköpfige und hemmungslose Geschöpf ein wenig mehr herangereift und vor den Versuchungen ihrer Verschwendungssucht geschützt gewesen wäre. Das Herz wird ihr schwer, der alten Frau, düstere Vorahnungen scheinen sie zu bedrücken. »Ich bin davon sehr ergriffen«, schreibt sie beim Empfang der Nachricht an den getreuen Gesandten, »und noch mehr mit dem Schicksal meiner Tochter beschäftigt, das entweder ganz großartig oder sehr unglücklich werden muß. Die Stellung des Königs, der Minister, des Staates zeigen mir nichts, was mich beruhigen könnte, und sie selbst ist ja so jung! Sie hat niemals ein ernsteres Streben gekannt und wird es auch nie oder kaum jemals haben.« Melancholisch antwortet sie auch der Tochter auf ihre stolzbewußte Ankündigung: »Ich mache Dir keine Komplimente über Deine neue Würde, die teuer erkauft ist und noch teurer sein wird, wenn Du Dich nicht entschließen kannst, dasselbe ruhige und unschuldige Leben zu führen, das Du dank der Güte und der Nachsicht dieses guten Vaters während dieser drei Jahre geführt hast und das Euch beiden die Zustimmung und die Liebe Eurer Nation eingetragen hat. Dies bedeutet einen großen Vorteil für Eure gegenwärtige Stellung; aber nun heißt es, sie zu bewahren wissen und recht anzuwenden zum Wohl des Königs und des Staates. Ihr seid beide noch so jung, und die Last ist groß; ich bin deshalb in Sorge, wirklich in Sorge… Alles, was ich Euch jetzt raten kann, ist, nichts zu übereilen; seht Euch alles mit Euren eigenen Augen an, ändert nichts, laßt alles sich entwickeln, sonst wird das Chaos und die Intrige unendlich sein, und Ihr würdet, meine teuren Kinder, in solche Verwirrung geraten, daß Ihr Euch kaum mehr würdet heraushelfen können.« Von fern, aus der Höhe ihrer jahrzehntelangen Erfahrung, übersieht die erprobte Regentin mit ihrem Kassandrablick die unsichere Lage Frankreichs viel besser als jene aus der Nähe, eindringlich beschwört sie die beiden, vor allem die Freundschaft mit Österreich und damit den Frieden der Welt zu wahren. »Unsere beiden Monarchieen brauchen nur Ruhe, um ihre Angelegenheiten in Ordnung zu bringen. Wenn wir im engen Einvernehmen weiterhandeln, wird niemand unsere Arbeit stören und Europa sich des Glückes und der Ruhe erfreuen. Nicht nur unser Volk wird glücklich sein, sondern auch alle anderen.« Aber am dringendsten warnt sie ihr Kind vor der persönlichen Leichtfertigkeit, vor ihrem Hang zur Vergnügungssucht. »Ich fürchte diesen mehr als alles andere bei Dir. Es ist durchaus notwendig, daß Du Dich mit ernsten Dingen befaßt und vor allem Dich nicht zu außerordentlichen Ausgaben verleiten läßt. Alles hängt davon ab, daß dieser glückliche Anfang, der alle unsere Erwartungen übertrifft, fortdauere und Euch beide glücklich mache, indem Ihr Eure Völker beglückt.«
Marie Antoinette, von der Sorge ihrer Mutter ergriffen, verspricht und verspricht. Sie bekennt ihre Schwäche aller ernsten Betätigung gegenüber und gelobt Besserung. Aber die Sorge der alten Frau, prophetisch bewegt, läßt sich nicht beruhigen. Sie glaubt nicht an das Glück dieser Krone, nicht an das ihrer Tochter. Und während die ganze Welt Marie Antoinette umjubelt und beneidet, schreibt sie ihrem vertrauten Botschafter den mütterlichen Seufzer: »Ich glaube, ihre schönsten Tage sind vorbei.«
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.