Dank an Romain Rolland
1926
Ich hatte ihn schon vordem gekannt. Ich hatte ihn schon früher geliebt. Schon damals, in unbesorgten Stunden, verehrte ich sein Werk und freute mich dankbar beschämt seiner Freundschaft wie eines nicht genug verdienten Geschenks. Aber die ganze unvergleichliche Größe seiner geistigen Gegenwart habe ich erst in den dunkelsten Tagen meines Lebens erfahren. Unauslöschliche, entsetzliche Tage im Abgrund der Kriegszeit, ich vergesse euch nicht, Tage, da man meinte, das eigene Herz vor Scham und Ekel erbrechen zu müssen, da man selbst unter dem Einsturz der Welt geduckt, feige und niedrig zu werden drohte, aus Verzweiflung zu jeder Ausflucht bereit, da man in seiner ausgedörrten Lunge die Sprache nicht mehr fand zum Schrei – nein, ich vergesse euch nicht, ihr Tage der Verzweiflung und Seelenschande, wo alles schon dem Absturz bereit war, hätte Eines nicht den schwankenden Sinn gehalten, dieses einen europäischen Menschen vorbildliche Gegenwart. Er war fern, er war unerreichbar in jenen Tagen der vermauerten Grenzen, nur manche seiner Worte, seiner Briefe kamen herüber: aber wie dem in einem ungeheuren Minengang Verschütteten ein winziges Pünktchen Licht schon das Dasein einer höheren Welt, eines erhellten Himmels befreiend verbürgt, so war sein Klarsein, sein sternhaft hell über dem Tumulte hinschauender Blick mir Erhebung des innersten Mutes. Und dieses Pünktchen Licht, dieser zarte Stern Hoffnung leuchtete über vielen solcher verschütteter Menschen, er war Trost und Aufschwung in ungezählten Labyrinthen: und jeder auf seinem Weg, jeder aber von ihm geführt, rang sich langsam empor. Ein solches Zeichen der Zuversicht aber zu entzünden, erforderte eine innere gehäufte Glut von Gläubigkeit, wie sie kein zweiter besaß in jenen Tagen: damals haben wir alle erst dieses lang verborgenen Mannes menschliche Größe erkannt.
Und heute wie damals, immer wieder, ist dies seine tiefste Magie: aus den Menschen ihr Bestes herauszuholen durch das offenbare Beispiel eines rein und doch leidenschaftlich tätigen Lebens. Er ist der bestärkendste Mensch, den ich kenne; wie Magnet das Eisen aus der Schlacke, zieht seine Gegenwart, sein wortloser Zuspruch alles Klingende, alles Glänzende, alles edel Metallene uns aus der Wirrnis der Brust. Was alle Zeiten und Bücher als Wundertat legendarisch verbürgen, daß irgendeiner, der Mann des reinen Willens und des unzerstörbaren Glaubens, dem Hingestürzten sagt »Stehe auf und wandle« – von dieser Magie des schöpferischen Impulses hat er im Moralischen ein Teil: ich glaube nicht, daß irgendein anderer Künstler unserer Tage eine so reinigende, so stärkende und beseelende Wirkung auf so viele Menschen gehabt habe wie Romain Rolland.
Jedesmal wenn ich ihm begegne, bin ich gleichzeitig beglückt und beschämt. Jedesmal wenn ich in sein tägliches Leben blicke, scheint mir alles darin von neuem unerfaßlich in dem gedrängten Beisammensein einer einzigen Existenz. Die Arbeit vor allem, die unaufhörliche geistige Tätigkeit, die wie ein unausschöpfbarer Brunnen den Eimer des Schöpfens und den Eimer des Spendens über das Rad von zwanzig wachen Stunden abwechselnd kreisen läßt. Dann die geistige Neugier, die fünf Erdteile, alle Zeiten und Zonen umfaßt, die nie müde wird und mit klarsichtigem hellen Blick ins Verborgenste faßt. Dann die Freundschaft, zärtlich aufmerksam jede Gelegenheit spürend, Menschen in unvermutetem Augenblick die rechte Freude zu tun, hellsichtig auch sie, aber weitsichtig die kleinen Mängel der Nächsten überblickend. Dann die unerschütterliche Gerechtigkeit, die immer wieder von Güte gemildert wird, dies andauernde Erkennen aller Schuld, aber ohne Urteilsspruch und Entrüstung. Und über allem und in allem: Leidenschaft, immerwährende Leidenschaft des Anteils an jedem und allem, an den Dingen und den Menschen und an dem Unsichtbaren, das beide bindet und umschwebt, an der Musik.
Niemandem habe ich menschlich mehr zu danken als seiner herrlich humanen Gegenwart, und ich weiß mich glücklich, nicht allein zu sein in diesem strömenden Gefühl.
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