Rilke
Rainer Maria Rilke.
Ein Vortrag in London
1936
Meine Damen und meine Herren!
Sie werden an dem heutigen Tage und in den folgenden Wochen in den lectures so viel von kompetentester Seite über das Werk des vielgeliebten Dichters Rainer Maria Rilke hören, daß eine Einleitung mir selbst überflüssig und anspruchsvoll erscheint. Aber vielleicht habe ich doch ein gewisses Recht, hier das Wort zu nehmen – ein sehr kostbares und zugleich sehr schmerzliches Vorrecht, denn ich bin in Ihrem Lande einer der wenigen, vielleicht der einzige von jenen, die Rilke persönlich gekannt haben, und eine dichterische Erscheinung ist niemals vollkommen erkennbar, wenn man nicht zugleich das Bildnis des Menschen erweckt. Und so, wie man in einem Buche gerne dem gedruckten Text das Bild seines Autors voranstellt, so lassen Sie mich versuchen, eine rasche Silhouette des zu früh Dahingegangenen Ihnen zu geben.
Der reine Dichter in unserer Zeit ist selten, aber vielleicht noch seltener ist die rein dichterische Existenz, eine vollkommene Lebensführung. Und wer das Glück hatte, eine solche Harmonie des Schaffens und des Lebens in einem Manne vorbildlich verwirklicht zu sehen, dem obliegt die Pflicht, für seine Generation und vielleicht noch für die nächste Zeugenschaft zu leisten für dieses moralische Wunder. Ich hatte durch Jahre Gelegenheit, Rainer Maria Rilke öfters zu begegnen. Wir hatten gute Gespräche in den verschiedensten Städten, ich bewahre Briefe von ihm und als ein kostbares Geschenk die Handschrift seines berühmtesten Werkes, »Die Weise von Liebe und Tod«. Dennoch würde ich nicht wagen, mich vor Ihnen seinen Freund zu nennen, denn dazu war die Distanz des Respekts bei mir immer zu groß und das Wort »Freund« in der deutschen Sprache drückt eine intensivere, intimere Beziehung aus als das englische »friend«. Es wird nur sparsam gegeben, weil es eine innerste Bindung bedingt, eine Bindung, die Rilke selten irgend jemandem gewährte – Sie können in seinen Briefen sehen, daß er dieses Wort in dreißig Jahren vielleicht nur zwei- oder dreimal als Ansprache ausgesprochen hat. Und schon dies war für sein Wesen ungemein charakteristisch. Rilke hatte eine große Scheu vor ausgesprochenen, vor verratenen Gefühlen. Er liebte es, seine Person und sein Persönliches möglichst zu verbergen, und wenn ich die vielen Menschen, denen ich im Lauf eines Lebens begegnet bin, mir vor das innere Auge stelle, so kann ich mich keines erinnern, dem es gelungen war, mit seinem Äußeren so unauffällig zu bleiben wie Rilke. Es gibt andere Dichter, die sich eine Maske schaffen zur Abwehr gegen den Andrang der Welt, eine Maske von Hochmut, von Härte. Es gibt Dichter, die um ihrer Arbeit willen ganz in ihr Werk flüchten, sich abschließen und unzugänglich werden; bei Rilke war nichts von alledem. Er sah viele Menschen, er reiste durch alle Städte, aber sein Schutz war seine völlige Unauffälligkeit, eine unbeschreibbare Art von Stille und Leisesein, die um ihn eine Aura der Unberührbarkeit schuf. In einem Eisenbahnzug, in einem Restaurant, einem Konzert wäre er niemals aufgefallen. Er trug die einfachste, aber sehr saubere und geschmackvolle Kleidung, er vermied jedes Attribut, welches das Dichterische betonen konnte, er verbot, seine Bilder in Zeitschriften zu veröffentlichen, aus diesem unbeugsamen Willen, privat bleiben zu können, ein Mensch unter den andern, denn er wollte beobachten können, statt beobachtet zu werden. Denken Sie sich irgendeine Gesellschaft in München oder Wien, wo ein, zwei Dutzend Leute im Gespräch beisammensitzen. Ein zarter, sehr jung aussehender Mann tritt ein, und schon dies ist charakteristisch, daß sie sein Eintreten gar nicht bemerkt haben. Er ist ganz still, mit leisen, kleinen Schritten plötzlich da, hat vielleicht einem oder dem andern die Hand gedrückt, und nun sitzt er da mit leicht gesenktem Kopf, um die Augen nicht zu zeigen, diese wunderbaren hellen und beseelten Augen, die ihn einzig verrieten. Er sitzt still, die Hände über dem Knie gefaltet, und hört zu – aber lassen Sie sich nur sagen, ich habe nie eine bessere, eine teilnehmendere Art des Zuhörens gekannt als die seine. Es war ein vollkommenes Lauschen, und wenn er dann sprach, so geschah es so leise, daß man kaum spürte, wie schön und dunkeltönig seine Stimme war. Nie wurde er heftig, nie versuchte er jemanden zu überreden, zu überzeugen, und wenn er spürte, daß ihm zu viele zuhörten, daß er in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit geriet, so zog er sich bald in sich selber zurück. Die wirklichen Gespräche, jene, an die man sich ein Leben lang erinnert, gelangen nur, wenn man mit ihm allein war und am besten abends, wo ihn das Dunkel ein wenig deckte, oder in den Straßen einer fremden Stadt. Aber diese Zurückhaltung Rilkes war keineswegs Hochmut und keineswegs Ängstlichkeit, und nichts wäre falscher, als sich ihn als einen neurotischen, einen verbogenen Menschen zu denken. Er konnte herrlich unbefangen sein, auf die natürlichste Weise mit natürlichen Menschen sprechen und sogar heiter sein. Nur alles Laute, Grobe war ihm unerträglich. Ein lauter Mensch war für ihn eine persönliche Qual, jede Zudringlichkeit oder Aufdringlichkeit von Bewunderern gab seinem klaren Gesicht einen ängstlichen, einen verschreckten Ausdruck, und es war wunderbar zu sehen, wie seine leise Art Gewalt hatte, die Zudringlichsten zurückhaltend, die Lärmendsten leise, die Selbstbewußten bescheiden zu machen. Wo er war, entstand gleichsam eine gereinigte Atmosphäre. Ich glaube, daß nie in seiner Gegenwart jemand ein unanständiges oder grobes Wort gewagt hat, niemand den Mut gehabt hat, literarischen gossip oder Gehässigkeiten zu erzählen. Wie ein Tropfen Öl im bewegten Wasser um sich einen Kreis der Ruhe schafft, so brachte er etwas Reines in jede Umgebung. Diese Gewalt, alles um sich harmonisch zu machen, das Brutale abzudämpfen, das Häßliche in eine Harmonie aufzulösen, war bei ihm erstaunlich. Und so wie den Menschen, solange sie um ihn waren, verstand er auch jedem Raum, jeder Wohnung, in der er wohnte, sofort dieses Zeichen aufzuprägen. Und er wohnte meist in schlimmen Wohnungen, da er arm war, fast immer waren es Mietszimmer, ein oder zwei, in denen er wohnte, mit gleichgültigen, banalen Möbeln. Aber wie Fra Angelico seine Zelle aus niederster Nüchternheit in Schönheit zu verwandeln wußte, so verstand er, seine Umwelt sofort persönlich zu machen. Es waren immer nur Kleinigkeiten, denn er wollte und liebte den Luxus nicht – eine Blume am Pult in einer Vase, ein paar Reproduktionen an der Wand, für ein paar Schillinge gekauft. Aber er wußte diese Dinge anzuordnen mit einer Sauberkeit und Systematik, daß sofort völlige Ordnung in einem solchen Räume war. Er neutralisierte das Fremde durch diese innere Harmonie. Alles, was er um sich hatte, mußte nicht schön sein, nicht kostbar. Aber es mußte in seiner Form vollendet sein, denn er, der Formkünstler, ertrug auch im äußern Leben nicht das Formlose, das Chaotische, das Zufällige, das Ungeordnete. Wenn er einen Brief schrieb mit seiner schönen runden aufrechten Schrift, so durfte es keine Korrektur darin geben, keinen Tintenfleck. Mitleidslos zerriß er jeden Brief, in dem ihm die Feder ausgeglitten war, und schrieb ihn nochmals von Anfang bis zu Ende. Wenn man ihm ein Buch geliehen hatte und er gab es zurück, so war es geradezu zärtlich in Seidenpapier gewickelt und irgendein farbiges dünnes Band umschnürte es und eine Blume lag dabei oder ein besonderes Wort. Sein Koffer, wenn er reiste, war ein Kunstwerk der Ordnung, und so verstand er jeder Kleinigkeit an einer verborgenen, unauffälligen Stelle sein Zeichen aufzuprägen. Eine gewisse Abgestimmtheit um sich zu schaffen, war ihm ein Bedürfnis, gleichsam eine Luftschicht um sich zu haben, sowie sie in Indien einerseits die Heiligen haben und anderseits die Menschen der niedersten Kaste, die Unberührbaren, die niemand am Ärmel zu streifen wagt. Es war dies nur eine ganz dünne Schicht, man konnte dahinter die Wärme seines Wesens spüren, und doch bewahrte sie undurchdringlich das Reine und Persönliche in ihm, wie die Schale die Frucht. Und sie bewahrte, was ihm das Wichtigste war: die Freiheit des Lebens. Keiner der reichen, der erfolgreichen Dichter und Künstler unserer Zeit war so frei wie Rilke, der sich nirgends band. Er hatte keine Gewohnheiten, keine Adresse, er hatte eigentlich auch kein Vaterland; er lebte ebenso gerne in Italien wie in Frankreich und Österreich, und man wußte niemals, wo er war. Fast immer war es Zufall, wenn man ihm begegnete; plötzlich vor einem Pariser Bouquinisten oder in einer Gesellschaft in Wien kam einem sein freundliches Lächeln entgegen und seine weiche Hand. Ebenso plötzlich war er wieder dahin, und wer ihn verehrte, wer ihn liebte, fragte ihn nicht, wo er zu finden wäre, suchte ihn nicht auf, sondern wartete, bis er zu einem kam. Aber jedesmal war es für uns Jüngere, ihn gesehen, ihn gesprochen zu haben, ein Glück und eine moralische Lehre. Denn bedenken Sie, was es für uns Jüngere an erziehlicher Kraft bedeutete, einen großen Dichter zu sehen, der menschlich nicht enttäuscht, der nicht geschäftig und geschäftlich war, der einzig um sein Werk sich kümmerte und nicht um seine Wirkung, der nie Kritiken las und sich nie begaffen und interviewen ließ, der anteilnehmend blieb und bis zur letzten Stunde von einer wunderbaren Neugier für alles Neue. Ich habe ihn gehört, wie er statt eigene Gedichte einem Kreise von Freunden einen ganzen Abend die Verse eines jungen Dichters vorlas, ich habe von seiner Hand ganze Seiten gesehen, die er aus fremden Werken sich abgeschrieben mit seiner wunderbar kalligraphischen Schrift, um sie weiter zu verschenken. Und es war rührend, mit welcher Demut er sich einem Dichter wie Paul Valéry unterordnete, wie er ihm durch Übersetzung diente und, ein Fünfzigjähriger, von dem Fünfundfünfzigjährigen sprach wie von einem unerreichbaren Meister. Bewundern, das war sein Glück, und es war nötig in den letzten Jahren seines Lebens, denn, dies ersparen Sie mir zu beschreiben, wie dieser Mensch litt unter dem Kriege und unter der Zeit nach dem Kriege, als die Welt blutgierig war, häßlich, roh, barbarisch, als die Stille, die er um sich schaffen wollte, nicht mehr möglich war. Und nie werde ich vergessen die Verstörung in seinem Wesen, als ich ihn in Uniform sah. Jahre und Jahre der inneren Lähmung mußte er überwinden, ehe er wieder einen Vers schreiben konnte. Aber dann war es jene Vollendung der Duineser Elegien.
Meine Damen, meine Herren, ich versuchte Ihnen nur mit einem Wort etwas von der Kunst des reinen Lebens in Rilke anzudeuten, dieses Dichters, der nie in der Öffentlichkeit sichtbar gewesen war, nie unter den Menschen seine Stimme erhoben und dessen lebendigen Atem man kaum gespürt. Aber doch, niemand hat, als er gegangen war, unserer Zeit so gefehlt wie dieser Leiseste, und nun erst spürt Deutschland, spürt die Welt das Unwiederbringliche, das in seinem Wesen war. Manchmal geschieht es einem Volke, wenn ein Dichter stirbt, als stürbe die Dichtung selber mit ihm. Vielleicht hat England ähnliches erlebt, als in einem einzigen Jahrzehnt Byron hingegangen und Shelley und Keats. In solchen tragischen Augenblicken wird dieser letzte gleichsam seiner Generation zum Symbol des Dichters überhaupt und man zittert, es sei der letzte gewesen, den wir erlebten. Wenn wir heute in Deutschland Dichter sagen, denken wir noch immer an ihn, und indes wir seine geliebte Gestalt noch mit den Blicken an all den Orten suchen, wo wir ihr begegnet sind, ist sie schon hinübergegangen aus unserer Zeit ins Zeitlose und Statue geworden im marmornen Haine der Unsterblichkeit.
vorheriges Kapitel
Dank an Romain Rolland
nachfolgendes Kapitel
Konstantin Meunier
Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.