3. Kapitel


In einem adligen Namen ist unbewußt der Wille enthalten, sich zu bewahren und zu übertragen von Geschlecht zu Geschlecht. So ist es für den ersten, der den Titel eines Seigneur de Montaigne trägt, für Pierre Eyquem de Montaigne, eine stolze Verkündigung, Ahnherr zu werden eines in Zukunft berühmten Geschlechtes, als ihm am letzten Tage des Februar 1533, nachdem er zuvor zwei Töchter bald nach ihrer Geburt verloren hat, der ersehnte erste Sohn, unser Michel de Montaigne, geboren wird. Von der Stunde seiner Geburt an weiht der Vater den Sohn einer hohen Bestimmung. Wie er selbst seinen eigenen Vater an Bildung, Kultur und gesellschaftlicher Stellung überholt hat, so soll dieser Sohn nun ihn wiederum übertreffen. Zweihundertfünfzig Jahre vor Jean Jacques Rousseau, drei Jahrhunderte vor Pestalozzi gestaltet mitten im 16. Jahrhundert in einem abgelegenen Schlosse der Gascogne sich ein Fischhändlerenkel und ehemaliger Soldat die Erziehung seines Sohnes als wohldurchdachtes Problem. Er läßt seine gelehrten humanistischen Freunde kommen und berät mit ihnen über die beste Methode, seinen Sohn von Anfang an im menschlichen und gesellschaftlichen Sinne zu etwas Außerordentlichem zu erziehen, und in manchen Punkten zeigt diese für jene Zeit wahrhaft verblüffende Fürsorge Übereinstimmung mit den modernsten Auffassungen. Schon der erste Beginn ist erstaunlich. Gleich aus der Wiege und von der Mutterbrust hinweg wird der Säugling, statt daß man wie sonst in aristokratischen Häusern eine Amme nimmt, aus dem Schlosse Montaigne entfernt und zu Leuten aus dem untersten Stande gegeben, zu armen Holzfällern in einem winzigen Weiler, der zur Seigneurie der Montaignes gehört. Der Vater will damit das Kind nicht nur zur »Einfachheit und Anspruchslosigkeit« erziehen und hofft es körperlich abzuhärten, er will es, in einer damals fast unverständlichen demokratischen Anwandlung, von Anfang an »dem Volke nahebringen und den Lebensbedingungen der Menschen, die unserer Hilfe bedürfen«. Vielleicht hat Pierre Eyquem in seiner bürgerlichen Zeit, ehe er noch den Adelstitel trug, den Hochmut der Privilegierten mit Erbitterung an sich erfahren. So will er, daß sein Sohn sich von Anfang an nicht als einer der »Oberen«, als Mitglied einer privilegierten Klasse empfinde, sondern frühzeitig lerne, »sich den Menschen zuzuwenden, die uns ihren Arm leihen, und nicht so sehr denen, die uns ihren Rücken weisen«. Körperlich scheint Montaigne die frugale und spartanische Zeit in der armseligen Köhlerhütte gut angeschlagen zu haben, und er berichtet, daß er als Kind sich dermaßen an die einfache Kost gewöhnt habe, daß er statt der Zuckerwaren, Konfitüren und Plätzchen immer nur die gewöhnliche Nahrung der Bauern bevorzugte: »Schwarzbrot, Speck und Milch.« Zeitlebens ist Montaigne seinem Vater dafür dankbar gewesen, daß er ihn gleichsam mit der Muttermilch vorurteilsfrei gemacht hat, und während Balzac es bis zu seinem Tode seiner Mutter vorwirft, daß sie ihn bis zu seinem vierten Jahre in das Haus eines Gendarmen gegeben, statt ihn bei sich zu behalten, billigt Montaigne das wohlgemeinte Experiment mit dem Versprechen: »Wenn ich Jungen haben sollte, dann wünschte ich ihnen aus freien Stücken das gleiche Schicksal, das ich hatte.«


Um so krasser ist dann der Umschwung, sobald der Vater das Kind nach drei Jahren wieder in das Schloß Montaigne nimmt. Nach dem Rat der gelehrten Freunde soll die Seele geschmeidig gemacht werden, nachdem der Körper gefestigt ist. Wie vom Heißen ins Kalte wird der junge Michel vom Proletarischen ins Humanistische hinübergestellt. Von Anfang an ist Pierre Eyquem in seinem Ehrgeiz entschlossen, aus seinem Sohn nicht einen müßigen Edelmann zu machen, der seine Zeit bei Würfeln, Wein und Jagd zwecklos vergeudet, oder einen bloßen Kaufmann und Geldraffer. Er soll aufsteigen in die höchsten Kreise derjenigen, die durch geistige Überlegenheit, durch Bildung und Kultur die Schicksale der Zeit im Rate der Könige lenken und mit ihrem Wort die Ereignisse beeinflussen, die statt in der Enge der Provinz in den weiteren Kreisen der Welt ihre Heimat haben. Der Schlüssel aber zu diesem geistigen Reich ist im Jahrhundert des Humanismus das Latein, und so beschließt Vater Montaigne, seinem Sohn dieses magische Instrument möglichst frühzeitig in die Hand zu geben. Auf dem abgelegenen Schloß in Périgord wird ein Experiment kuriosester Art in Szene gesetzt, das eines gewissen komödienhaften Zuges nicht entbehrt. Der Vater läßt mit großen Kosten einen deutschen Gelehrten kommen, und zwar bewußt einen, der kein einziges Wort französisch versteht, und noch zwei nicht minder gelehrte Gehilfen werden ihm beigestellt, die unter strengstem Verbot mit dem Kind nicht anders als in lateinischer Sprache sprechen dürfen. Die ersten und einzigen Vokabeln und Sätze, die das vierjährige Kind lernt, sind lateinische, und um zu verhüten, daß der Knabe sich gleichzeitig die französische Muttersprache aneignen könne und daß damit die Reinheit und Vollkommenheit seiner lateinischen Diktion gestört werde, wird um den kleinen Michel ein unsichtbarer Ring gezogen. Wenn der Vater, die Mutter oder die Diener dem Kinde etwas mitteilen wollen, müssen sie sich selbst zuvor die lateinischen Brocken von den Lehrern eintrichtern lassen. Und so entsteht im Schlosse Montaigne die wahrhaft lustspielhafte Situation, daß um eines pädagogischen Experimentes willen ein ganzes Haus mit Eltern und Gesinde um eines Vierjährigen willen Latein lernen muß. Das hat dann die amüsante Folge, daß einzelne Worte und lateinische Vornamen bis weit hinein in die Nachbardörfer in Umlauf kommen.


Immerhin wird dadurch mit Leichtigkeit das gewünschte Resultat erzielt; der zukünftige große französische Prosaist weiß zwar mit sechs Jahren noch nicht einen einzigen Satz in seiner Muttersprache zu sagen, aber er hat ohne Buch, Grammatik und irgendwelchen Zwang, ohne Rute und ohne Tränen Latein in der reinsten und vollkommensten Form sprechen gelernt. Die antike Weltsprache ist so sehr Ursprache und Muttersprache für ihn, daß er zeitlebens Bücher in ihr beinahe lieber liest als in der eigenen. Und im Augenblick des Schreckens oder plötzlicher Aufschreie kommt ihm unwillkürlich das lateinische Wort statt des französischen in den Mund. Wäre Montaigne nicht in seinen Mannesjahren schon in den Niedergang des Humanismus geraten, so wären seine Werke wahrscheinlich wie die des Erasmus ausschließlich in dieser erneuerten Kunstsprache geschrieben worden und Frankreich hätte einen seiner meisterlichsten Schriftsteller verloren.


Diese Methode, seinen Sohn Latein ohne Anstrengung, ohne Bücher und gleichsam nur im Spiel erlernen zu lassen, ist aber nur eine Auswirkung der allgemeinen, wohlüberlegten Tendenz des Vaters, das Kind heranzubilden, ohne ihm die mindeste Mühe zu machen. Im Gegensatz zur harten Erziehung der Zeit, die mit dem Stock starre Vorschriften einhämmert, soll es sich seinen eigenen inneren Neigungen gemäß entwickeln und gestalten. Ausdrücklich haben die humanistischen Berater den fürsorglichen Vater angewiesen, »er sollte mir Geschmack am Wissen und an meinen Pflichten dadurch beibringen, daß mein freier Wille und mein eigener Wunsch danach geweckt wurde, ohne Zwang. Meine Seele sollte ganz sanft und in aller Freiheit erhoben werden, ohne Härte und unnatürlichen Druck.«


Bis zu welchem Grade diese bewußte Kultivierung des individuellen Willens auf dem sonderbaren Schlosse in Périgord geübt wurde, bezeugt ein amüsantes Detail. Offenbar hat einer der Präzeptoren geäußert, es sei schädlich für das »zarte Gehirn des Kindes«, wenn man es morgens »mit einem Schlage gewaltsam« aus dem Schlafe wecke. So wird ein besonderes System ersonnen, den Nerven des Knaben selbst diese geringfügigste Erschütterung zu ersparen: Michel de Montaigne wird in seinem kleinen Kinderbett täglich durch Musik erweckt. Flötenspieler oder Geigenkünstler umstehen wartend das Lager, bis ihnen das Zeichen gegeben wird, den schlafenden Michel durch eine Melodie sanft aus seinen Träumen ins Wachen zu führen, und dieser zärtliche Brauch wird mit strengster Sorgfalt eingehalten. »Zu keinem Zeitpunkt«, berichtet Montaigne, »war ich ohne Bedienung.« Kein bourbonischer Königssohn, kein habsburgischer Kaisersproß ist je mit solcher Rücksicht aufgezogen worden wie dieser Enkel gascognischer Fischhändler und jüdischer Geldmakler.


Eine solche superindividualistische Erziehung, die einem Kinde nichts verbietet und jeder seiner Neigungen freie Bahn läßt, stellt ein Experiment dar, und sogar ein nicht ungefährliches. Denn derart verwöhnt zu sein, niemals einen Widerstand zu finden und keiner Zucht sich fügen zu müssen, läßt einem Kinde die Möglichkeit, jede Laune wie jedes eingeborene Laster zu entwickeln. Und Montaigne gibt später selbst zu, daß er es nur einem Glücksfalle zu danken habe, wenn diese laxe und schonungsvolle Erziehung bei ihm gut angeschlagen habe.


»Wenn aus mir etwas Rechtes geworden ist, so möchte ich sagen, daß ich gewissermaßen unschuldig dazu gekommen bin, durch Zufall und wie von selbst. Wenn ich mit einer zuchtloseren Anlage geboren worden wäre, dann fürchte ich, wäre es recht kläglich mit mir ausgegangen.«


Gewisse Spuren dieser Erziehung, im Guten und im Schlimmen, sind freilich bei ihm sein Leben lang fühlbar geblieben, vor allem der hartnäckige Widerstand, sich irgendeiner Autorität zu fügen, einer Disziplin sich unterzuordnen, und auch eine gewisse Atrophie des Willens geht darauf zurück. Diese Kindheit hat Montaigne für alle kommenden Jahre verwöhnt, jeder starken und gewaltsamen Anspannung, allem Schwierigen, Regelmäßigen, Pflichthaften möglichst auszuweichen und immer nur dem eigenen Willen, der eigenen Laune nachzugeben. Jene »Weichheit« und »Sorglosigkeit«, die er oft bei sich beklagt, mag ihren innersten Kern in diesen Jahren haben, aber zugleich auch sein unbändiger Wille, frei zu bleiben und sich niemals einer fremden Meinung sklavisch unterzuordnen. Der gütigen Fürsorge seines Vaters hat er es zu danken, wenn er später stolz sagen darf:


»Ich besitze eine freie Seele, die völlig in sich ruht und gewöhnt ist, sich selbst zu lenken, wie es ihr gefällt.« Wer einmal selbst als Unmündiger mit noch unbewußten Sinnen die Wollust und Wohltat der Freiheit erkannt hat, wird sie nie mehr vergessen und verlieren.


Diese nachsichtig verwöhnende Erziehungsform bedeutet einen entscheidenden Glücksfall für Montaignes besondere Seelenentfaltung. Aber es ist auch ein Glück für ihn, daß sie rechtzeitig ein Ende nimmt. Um Freiheit zu würdigen, muß man Zwang kennengelernt haben, und diese Erziehung wird Montaigne reichlich gegeben, sobald er mit sechs Jahren ins Kollegium von Bordeaux geschickt wird, wo er bis zum dreizehnten Jahre verbleibt. Nicht daß dort der Sohn des reichsten Mannes und Bürgermeisters der Stadt sehr hart und energisch angefaßt worden wäre; das einzige Mal, da er die Rute bekommt, geschieht es »recht sänftlich«. Aber es ist immerhin eine strenge Disziplin, der er dort begegnet, eine Disziplin, die selbstherrlich ihre Anschauungen dem Schüler aufnötigt, ohne ihn nach den seinen zu fragen. Zum ersten Male muß er regelmäßig lernen, und unbewußt wehrt sich der Instinkt des Kindes, das nur gewohnt war, seinem eignen Willen zu folgen, gegen ein Wissen, das starr formuliert und präpariert ihm aufgezwungen wird. »Die Lehrer donnern immer in unsere Ohren«, klagt er, »als ob sie es in eine Röhre gössen, und unser Geschäft ist nur, zu wiederholen, was sie uns sagen.« Statt in den Schülern eigne Meinungen sich fruchtbar entwickeln zu lassen, füllen sie ihnen das Gedächtnis mit totem Stoff an, – »unser Verständnis und Bewußtsein bleibt dabei leer«, so klagt er. Und dann fragt er erbittert: »Was nützt es uns, daß wir uns den Bauch mit Fleisch füllen, wenn wir es nicht verdauen können, wenn es sich nicht in uns umbildet, uns stärkt und kräftigt?« Es erbittert ihn, daß die Scholasten des Kollegiums ihn Fakten und Zahlen und Gesetze und Systeme lernen lassen – nicht umsonst hat man die Rektoren jener Schule damals Pedanten genannt – und daß sie ihm ein Buchwissen, einen »reinen Bücherdünkel« aufzwingen wollen. Er empört sich darüber, daß sie den für den besten Schüler erklären, der am willigsten sich das merkt, was sie ihm vorsagen. Gerade das Zuviel an übernommenem Wissen ertötet die Fähigkeit, sich selbständig ein persönliches Weltbild aufzubauen: »So wie die Pflanzen unter zuviel Feuchtigkeit eingehen oder die Lampen unter zuviel Öl erlöschen, so wird auch unsere geistige Tätigkeit durch ein Übermaß an Studien und Stoff beeinflußt.«


Ein solches Wissen ist nur eine Belastung des Gedächtnisses, nicht eine Funktion der Seele:


»Etwas auswendig wissen bedeutet nicht, daß man etwas weiß, sondern lediglich, daß man etwas im Gedächtnis behalten hat.«


Nicht das Datum der Schlacht von Cannae zu wissen ist wichtig bei der Lektüre des Livius und Plutarch, sondern die Charaktere Scipios und Hannibals zu kennen; nicht das kalte historische Faktum bedeutet ihm etwas, sondern sein menschlicher, sein seelischer Gehalt. So wird der reife Mann später seinen Schullehrern, die ihm selbst nichts als Regeln eindrillen wollten, eine schlechte Note und gleichzeitig eine gute Lektion erteilen. »Unsere Lehrer«, so sagt er in seinen späteren Jahren, »sollten nur das beurteilen, was ein Schüler durch das Zeugnis seines Lebens, nicht durch sein bloßes Gedächtnis gewonnen hat. Laßt den jungen Menschen alles, was er liest, prüfen und sieben und ihn nichts bloß auf Treu und Glauben oder Autorität hinnehmen. Gerade die verschiedensten Meinungen sollten ihm vorgelegt werden. Ist er fähig, so wird er seine Wahl treffen, wenn nicht, im Zweifel bleiben. Wer aber nur anderen folgt, der folgt keiner Sache, findet keine Sache, und sucht sogar keine Sache.«


Eine solche freigeistige Erziehung vermochten die guten Lehrer, obwohl sich unter ihnen ausgezeichnete und sogar berühmte Humanisten befanden, dem eigenwilligen Knaben nicht zu geben. Und so wird er ohne Dank von seiner Schule Abschied nehmen. Er verläßt sie »ohne ein Ergebnis, das ich noch jetzt in Rechnung stellen könnte«, wie er dann später sagt.


Wie Montaigne mit seinen Lehrern, so dürften auch diese mit ihrem Schüler nicht sonderlich zufrieden gewesen sein. Denn abgesehen von jenem inneren Widerstand gegen jedes Buchwissen, Schulwissen, Kopfwissen, gegen jede Disziplin und Ordnung, fehlte Montaigne – wie so vielen anderen hervorragenden Naturen, in denen die geistige Intensität in voller Kraft erst nach der Pubertät erwacht – eine rasche und geschmeidige Auffassungsgabe. Dieser später so wache, bewegliche und neugierige Geist ist in jenen Entwicklungsjahren in einer merkwürdigen Dumpfheit befangen. Es ist eine gewisse Trägheit, die auf ihm lastet:


»Ich war zwar von guter Gesundheit, und meiner Natur nach immer sanft und umgänglich, aber ich war damals so schwerfällig, schlaff und schläfrig, daß man mich aus meinem Müßiggang nicht herausreißen konnte, nicht einmal wenn man mich zum Spielen bringen wollte.«


Seine Fähigkeit des scharfen Beobachtens ist zwar schon vorhanden, aber gleichsam nur in potentiellem Zustand und in seltenen Augenblicken:


»Was ich sah, das beobachtete ich gut, und unter der Decke jenes schwerfälligen Naturells wuchsen in mir schon kühne Gedanken und Ansichten, die weit über mein Alter hinausgingen.«


Aber diese glücklichen Augenblicke wirken nur nach innen. Sie machen sich den Lehrern kaum bemerkbar, und Montaigne wirft ihnen keineswegs vor, ihn unterschätzt zu haben, sondern gibt seiner Jugend ein hartes Zeugnis:


»Mein Geist war träge und bewegte sich nur so weit vorwärts, wie man ihn anspornte; mein Begriffsvermögen entwickelte sich erst spät; meine Erfindungsgabe war matt, und vor allem litt ich an einer unglaublichen Schwäche des Gedächtnisses.«


Niemandem aber wird die Schule mehr zur Qual als den Begabten, deren Anlagen sie mit ihren trockenen Methoden nicht aufzulockern und fruchtbar zu machen weiß. Und wenn Montaigne diesem Gefängnis seiner Jugend heil entkommen ist, so war es nur, weil er wie so viele andere – Balzac hat es im »Louis Lambert« am schönsten geschildert – den heimlichen Tröster und Helfer findet: das dichterische Buch neben dem Schulbuch. Wie Louis Lambert kann er, einmal diesem Zauber der freien Lektüre verfallen, nicht mehr enden. Der junge Montaigne liest begeistert die Metamorphosen des Ovid, Virgils Aeneis, die Dramen des Plautus in der Originalsprache, die seine eigentliche Muttersprache ist. Und dieses Verständnis der klassischen Werke sowie seine Meisterschaft in der Behandlung des gesprochenen lateinischen Wortes bringt den schlechten und schläfrigen Schüler im Kollegium auf sonderbare Weise wieder zu Ehren. Einer seiner Lehrer, George Buchanan, der später in der Geschichte Schottlands eine bedeutsame Rolle spielen wird, ist der Verfasser damals hochgeachteter lateinischer Tragödien, und in diesen sowie in anderen lateinischen Theaterstücken tritt Montaigne mit viel Glück bei den Schulaufführungen als Schauspieler auf. Er übertrifft alle anderen durch die Modulationsfähigkeit seiner Stimme und die früh erworbene Meisterschaft in der lateinischen Sprache. Mit dreizehn Jahren ist die Erziehung des Unerziehbaren äußerlich schon abgeschlossen, und von nun ab wird Montaigne sein Leben lang sein eigner Lehrer und Schüler sein.


Nach der Schule, dem Kollegium, scheint dem Dreizehnjährigen noch eine gewisse Erholungszeit im väterlichen Hause gewährt worden zu sein, ehe er an der Universität Toulouse, oder vielleicht Paris Rechtswissenschaften studierte. Jedenfalls betrachtet er selbst mit dem zwanzigsten Jahre seine Entwicklung als endgültig abgeschlossen:


»Was mich anbelangt, so glaube ich, daß unsere Seele mit zwanzig Jahren bereits das geworden ist, was sie werden soll, und daß sie dann schon alle Anlagen erkennen läßt, die ihr gegeben sind… Es steht für mich fest, daß von diesem Zeitpunkt ab sowohl mein Geist wie mein Körper eher abgenommen als zugenommen haben, eher zurückgeblieben als fortgeschritten sind.«


Von diesem Montaigne der Zeit seiner zum ersten Male gesammelten Frische und Kraft ist uns kein Porträt erhalten. Aber er hat sich selbst zeit seines Lebens immer wieder mit solcher Sorgsamkeit, Lust und Schärfe beschrieben, daß man sich im Vertrauen auf seine Wahrheitsliebe eine zureichende physiognomische Vorstellung machen kann. Von Statur ist Montaigne, wie sein Vater, auffallend klein, ein Umstand, den er selbst als Nachteil empfindet und beklagt, weil diese wenigen Zoll unter dem Mittelmaß ihn einerseits auffällig machen und andererseits die Autorität seines Auftretens vermindern. Aber es bleibt genug übrig, um den jungen Edelmann wohlansehnlich zu machen. Der feste, gesunde Körper, der zarte Schnitt des Gesichtes, sein schmales Oval mit feingezogener Nase, in dem jede Linie hübsch geschwungen ist, die klare Stirn, die schön gewölbten Augenbrauen, der saftige Mund über und unter dem kastanienbraunen Bärtchen, das ihn wie mit heimlicher Absicht verschattet – das ist das Bild, das der junge Montaigne der Welt bietet. Die Augen, auffallend durch ihren starken, spähenden Glanz, dürften damals noch nicht den leicht melancholischen Blick gezeigt haben, der in den Porträts späterer Tage zu bemerken ist. Nach seinem eigenen Bericht war er dem Temperament nach, wenn auch nicht gerade lebendig und fröhlich, so doch wenigstens ruhig und ausgeglichen. Für die ritterlichen Tugenden, für Sport und Spiel fehlte ihm die körperliche Agilität und Vitalität seines Vaters, der noch mit sechzig Jahren, bloß auf seinen Daumen gestützt, sich im Sprung über den Tisch schwingen kann und im Sturm, immer drei Stufen auf einmal, die Treppen seines Schlosses emporläuft.


»Beweglich und geschickt bin ich nie gewesen. In der Musik oder im Singen oder Spielen eines Instrumentes konnte man mir nie etwas beibringen; ich hatte keine Begabung dafür. Beim Tanzen, Ballspiel oder Ringen brachte ich es nie über das Mittelmaß hinaus; beim Schwimmen, im Sprung über Hindernisse oder im Weitsprung und im Fechten versagte ich ganz. Meine Finger sind so ungeschickt, daß ich selbst nicht lesen kann, was ich geschrieben habe; ich kann nicht einmal einen Brief anständig zusammenfalten. Ich könnte mir nie eine Schreibfeder schneiden oder mein Pferd satteln, einen Falken fliegen lassen oder mit Hunden, Vögeln und Pferden umgehen.«


Sein Sinn ist mehr auf Geselligkeit gerichtet, und dieser widmet er sich dann auch, neben der Freude an Frauen, die ihn nach seiner eignen Aussage von frühester Stunde an und ausgiebig verlockt haben. Dank seiner besonders lebendigen Phantasie faßt er leicht auf. Ohne ein Stutzer zu sein – er bekennt, daß er dank einer gewissen Nonchalance, der sein Naturell zuneigt, zu den Leuten gehört, deren reiche Kleider doch immer etwas traurige Figur auf ihren Schultern machen –, sucht er Umgang und Kameradschaft. Und seine rechte Lust ist Diskussion, aber Diskussion gleichsam als Florettspiel, nicht aus Streitsucht oder Ressentiment. Über dem heißen gascognischen Blut, das ihn allerdings manchmal zu raschen, leidenschaftlichen Ausbrüchen treibt, wacht von Anfang an der klare, von Natur aus temperierte Verstand. Montaigne, den jede Roheit entsetzt, jede Brutalität anekelt, fühlt sich beim bloßen Anblick des Leidens bei anderen »physisch gepeinigt«. Der junge Montaigne, vor dem Stadium seiner erlernten und erdachten Weisheit, besitzt nichts als die instinktive Weisheit, das Leben und sich selbst in diesem Leben zu lieben. Noch ist nichts in ihm entschieden, kein Ziel sichtbar, dem er entgegenstrebt, keine Begabung, die sich deutlich oder herrisch kundgibt. Unschlüssig blickt der Zwanzigjährige mit seinen neugierigen Augen in die Welt, um zu sehen, was sie ihm, was er ihr zu geben hat.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.