4. Kapitel


Es ist ein entscheidendes Datum im Leben Montaignes, als 1568 sein Vater Pierre Eyquem stirbt. Denn bisher hatte er mit Vater, Mutter, Gattin, Brüdern und Schwestern in dem Schlosse gelebt, das er etwas emphatisch »das Schloß seiner Ahnen« nennt, ohne sich um Vermögen, Wirtschaft und Geschäfte zu kümmern. Durch den Tod seines Vaters wird er ein Erbe, und sogar ein reicher Erbe. Als dem Erstgeborenen fällt ihm der Titel zu und eine Rente von zehntausend Livres, aber damit auch die Last der Verantwortung für den ganzen Besitz. Die Mutter wird mit ihrer eingebrachten Mitgift abgefunden, und nun hat Montaigne, als major domus, als Haupt der Familie, die Pflicht, die hundert kleinen Geschäfte und täglichen Verrechnungen zu leiten oder wenigstens zu prüfen, er, der nur ungern für sein eignes Tun und Lassen verantwortlich sein will. Und nichts ist Montaigne widriger als eine regelmäßige Beschäftigung, die Pflichtgefühl, Ausdauer, Zähigkeit, Sorgsamkeit, also durchaus methodische Tugenden erfordert. Unbefangen gesteht er ein, wie wenig er sich bis zur Mitte seines Lebens um die Hauswirtschaft gekümmert hat. Der Herr über Güter, Wälder, Wiesen und Weingärten bekennt offen: »Ich kann eine Kornart nicht von der anderen unterscheiden, weder auf dem Felde noch im Speicher, wenn der Unterschied nicht ganz augenfällig ist. Ich weiß kaum, ob das Kohl oder Salat ist, was in meinem Garten steht. Ich kenne nicht einmal die Bezeichnungen für die wichtigsten Geräte der Landwirtschaft und das, was jedes Kind weiß. Kein Monat vergeht, ohne daß ich dabei ertappt werde, daß ich keine Ahnung habe, wozu der Sauerteig beim Brotbacken dient oder was da eigentlich vorgeht, wenn sie den Wein in der Kufe mischen.« Aber ebenso ungeeignet wie mit Spaten und Schaufel ist dieser neue Gutsbesitzer in seiner Gutskanzlei. »Ich kann mich nie dazu überwinden, die Kontrakte durchzulesen oder die Abmachungen zu überprüfen, die eigentlich notwendigerweise durch meine Hände gehen und von mir kontrolliert werden müßten. Nicht aus philosophischer Verachtung der weltlichen und vergänglichen Dinge – nein, es ist in Wahrheit eine unentschuldbare kindische Faulheit und Nachlässigkeit. Alles würde ich lieber tun, als einen solchen Kontrakt durchzulesen.«


An und für sich ist ihm das Erbe, das ihm zugefallen ist, willkommen, denn Montaigne liebt sein Vermögen, das ihm die innere Unabhängigkeit sichert. Aber er wünschte sie zu haben, ohne sich damit zu schaffen zu machen: »Es ist mir am liebsten, wenn meine Verluste oder Mißhelligkeiten in meinen Geschäften mir verborgen bleiben.« Kaum, daß ihm eine Tochter geboren ist, träumt er schon davon, daß ein Schwiegersohn ihm all diese Arbeit und Sorge abnehmen möge. Er möchte die Verwaltung so erledigen, wie er Politik treiben wollte und alles andere auf Erden: gelegentlich, wenn er gerade Lust dazu hat, und mit der linken Hand, ohne sich selbst zu beteiligen. Er erkennt, daß Besitz ein Danaergeschenk ist, das täglich und stündlich verteidigt werden will. »Ich würde noch immer ganz zufrieden sein, wenn ich das Leben, das ich jetzt führe, gegen ein einfacheres eintauschen könnte, das nicht so von geschäftlichen Beanspruchungen starrt.«


Um diese goldne Last, die ihm die Schulter drückt, leichter zu tragen, beschließt Montaigne, eine andere abzuwerfen. Der Ehrgeiz seines Vaters hat ihn ins öffentliche Leben gedrängt. Etwa fünfzehn Jahre ist er Beisitzer in der niederen Kammer des Parlaments gewesen und nicht weiter gekommen in seiner Karriere. Nun, nach dem Tode seines Vaters, stellt er die Frage an das Schicksal. Er läßt sich, nachdem er die ganze Zeit der zehnte Beisitzer der Chambre des Enquêtes gewesen ist, als Kandidat für den Aufstieg in die große Kammer aufstellen. Am 14. November 1569 beschließt die Kammer jedoch, Montaigne abzuweisen, unter dem Vorwand, daß sein Schwiegervater Präsident und ein Schwager bereits Rat der großen Kammer sei. Die Entscheidung fällt gegen ihn, aber im höheren Sinn für ihn aus, denn damit hat Montaigne einen Grund oder Vorwand, dem öffentlichen Dienst Valet zu sagen. Er legt seine Stellung nieder, oder vielmehr, er verkauft sie und dient von diesem Tage an der Öffentlichkeit nur mehr in seinem Sinne: gelegentlich und wenn eine besondere Aufgabe ihn lockt. Ob nicht auch geheime Gründe bei diesem Rückzug ins Privatleben mitgespielt haben, ist schwer zu mutmaßen. Jedenfalls muß Montaigne gespürt haben, daß die Zeit zu einer Entscheidung drängt, und er liebt keine Entscheidungen. Die öffentliche Atmosphäre ist von neuem vergiftet. Wieder haben die Protestanten zu den Waffen gegriffen und die Bartholomäusnacht ist nahe. Montaigne hat im Sinne seines Freundes La Boétie seine politische Aufgabe nur darin gesehen, im Sinne der Konzilianz und Toleranz zu wirken. Seiner Natur gemäß war er der geborene Vermittler zwischen den Parteien, und seine eigentliche Leistung im öffentlichen Dienst hat immer in solchen geheimen Vermittlungsverhandlungen bestanden. Aber die Zeit dafür ist nun vorbei; es kommt zu einem Entweder-Oder. Frankreich muß hugenottisch oder katholisch werden. Die nächsten Jahre werden ungeheure Verantwortung jedem aufbürden, der sich mit den Geschicken des Landes beschäftigt, und Montaigne ist der geschworene Feind jeder Verantwortung. Er will den Entscheidungen ausweichen. Als der Weise in einer Zeit des Fanatismus sucht er Rückzug und Flucht.


In seinem 38. Jahr hat sich Montaigne zurückgezogen. Er will niemandem mehr dienen als sich selbst. Er ist müde der Politik, der Öffentlichkeit, der Geschäfte. Es ist ein Augenblick der Desillusion. Er ist weniger als sein Vater, was äußeres Ansehen und Stellung im Leben anbetrifft. Er ist ein schlechterer Beamter gewesen, ein schlechterer Gatte, ein schlechterer Verwalter. Was ist er nun wirklich? Er hat das Gefühl, daß sein bisheriges Leben falsch war; er will jetzt richtig leben, nachdenken und nachsinnen. In den Büchern hofft er die Lösung für das Problem »Leben und Sterben« zu finden.


Und um sich gleichsam die Rückkehr in die Welt abzuschneiden, läßt er sich in lateinischer Sprache an der Wand seiner Bibliothek die Inschrift anbringen:


»Im Jahre des Herrn 1571, im Alter von 37 Jahren, am Vorabend der Kalenden des März, an seinem Geburtstag hat Michel de Montaigne, seit langem schon müde des Sklavendienstes am Hof und der Bürden öffentlicher Ämter, aber noch im Vollbesitz seiner Kräfte, beschlossen, sich an der jungfräulichen Brust der Musen auszuruhen. Hier, in Stille und Geborgenheit, wird er den sinkenden Ablauf eines Lebens vollenden, dessen größter Teil bereits vorübergegangen ist wenn das Schicksal ihm erlaubt, diesen Aufenthaltsort und den friedlichen Ruhesitz seiner Väter zu behalten. Er hat diesen Raum der Freiheit, der Stille und der Muße geweiht.«


Dieser Abschied soll mehr sein als ein Abschied vom Amt. Es soll eine Absage sein an die äußere Welt. Bisher hat er für andere gelebt, – jetzt will er für sich leben. Bisher hat er getan, was das Amt, der Hof, der Vater von ihm forderten – nun will er nur mehr tun, was ihm Freude macht. Wo er helfen wollte, konnte er nichts ausrichten; wo er aufstrebte, da versperrte man ihm den Weg; wo er raten wollte, hat man seinen Rat mißachtet. Er hat Erfahrungen gesammelt, nun will er ihren Sinn finden und die Wurzel aus der Summe ziehen. Michel de Montaigne hat achtunddreißig Jahre gelebt; nun will Michel de Montaigne wissen, wer eigentlich dieser Michel de Montaigne ist.


Aber auch dieser Rückzug in das eigene Haus, in das private Leben ist Montaigne nicht genug. Denn zwar gehört ihm das Haus nach Erbe und Recht, aber er fühlt, daß er eigentlich mehr dem Hause gehört als sich selbst. Da ist die Frau, da ist die Mutter, da sind die Kinder, die ihm alle nicht sonderlich wichtig sind – es gibt eine merkwürdige Stelle, wo er eingesteht, nicht recht zu wissen, wie viele seiner Kinder gestorben sind –, da sind die Angestellten, die Pächter, die Bauern, und all das will überdacht sein. Die Familie lebt nicht immer sehr friedlich zusammen; es ist ein volles Haus, und er will allein sein. All das ist ihm widerlich, störend, unbequem, und er denkt wie sein Vorbild La Boétie, von dem er als Tugend rühmt: »La Boétie hat während seines ganzen Lebens die Asche seines häuslichen Herdes verächtlich hinter sich gelassen.« Montaigne hat nicht auf den öffentlichen Dienst verzichtet, um jetzt als Familienvater täglich kleinere Sorgen um sich zu haben. Er will dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, aber nicht einen Tropfen mehr. Er will lesen, denken, genießen; er will sich nicht beschäftigen lassen, sondern sich selbst beschäftigen. Was Montaigne sucht, ist sein inneres Ich, das nicht dem Staat, der Familie, der Zeit, den Umständen, dem Gelde, dem Besitz gehören soll, jenes innere Ich, das Goethe die »Zitadelle« nannte, in die er niemandem Einlaß gewährte.


Der Weg aus dem Amt ins Haus war nur der erste Rückzug; jetzt zieht er sich vor der Familie, den Ansprüchen des Besitzes, den Geschäften zum zweiten Male zurück in die Zitadelle.


Diese Zitadelle, die Goethe nur symbolisch meint, schafft und baut sich Michel de Montaigne wirklich mit Steinen und Schloß und Riegel. Heute kann man sich kaum noch rekonstruieren, wie das Schloß Montaigne damals ausgesehen hat; es ist in späteren Zeiten mehrfach umgebaut worden, und 1882 hat ein Brand die Baulichkeiten völlig vernichtet, glücklicherweise mit Ausnahme jener »Zitadelle« Michel de Montaignes, seines berühmten Turms.


Als Michel de Montaigne das Haus übernimmt, findet er einen runden, hohen, festen Turm vor, den sein Vater anscheinend zu Befestigungszwecken angelegt hat. Im dunklen Erdgeschoß ist eine kleine Kapelle, in der ein halb verloschenes Fresco den heiligen Michael darstellt, wie er den Drachen niederzwingt. Eine enge Wendeltreppe führt zu einem runden Zimmer im ersten Stock, das Montaigne um seiner Abgeschlossenheit willen zu seinem Schlafzimmer erwählt. Aber erst das Stockwerk darüber, bisher der »nutzloseste Raum des ganzen Gebäudes«, eine Art Rumpelkammer, wird für ihn der wichtigste Ort im Hause. Aus ihm beschließt er eine Stätte der Meditation zu machen. Von diesem Zimmer aus hat er den Blick auf sein Haus, seine Felder. Wenn ihn die Neugier faßt, kann er sehen, was vorgeht, und alles überwachen. Aber niemand kann ihn überwachen, niemand ihn stören in dieser Abgeschlossenheit. Der Raum ist groß genug, um darin auf und ab zu gehen, und Montaigne sagt von sich, daß er nur bei körperlicher Bewegung gut denken kann. Er läßt die Bibliothek, die er von La Boétie geerbt hat, und seine eigene hier aufstellen. Die Deckenbalken werden mit 54 lateinischen Maximen bemalt, so daß sein Blick, wenn er müßig nach oben schweift, irgendein weises und beruhigendes Wort findet. Nur die letzte der 54 ist in französisch, sie lautet »Que sais-je?«. Nebenan befindet sich noch ein kleines Kabinett für den Winter, das er mit einigen Gemälden schmücken läßt, die dann übermalt wurden, weil sie etwas zu leichtfertig für den späteren Geschmack waren.


Diese Isolation mit ihren Inschriften hat etwas Pompöses, etwas Künstliches. Man hat das Gefühl, daß Montaigne sich damit selbst disziplinieren, zur Einsamkeit disziplinieren will. Da er sich nicht wie ein Einsiedler einem religiösen Gesetz, einem Eide unterwirft, will er sich selber festhalten und zwingen. Vielleicht weiß er selbst nicht, warum, aber es ist ein innerer Wille, der ihn treibt. Dieses Sich-Abschließen bedeutet einen Anfang. Jetzt, da er aufhört für die Außenwelt zu leben, beginnt das Leben schöpferischer Muße. Hier in seinem Turm wird Montaigne Montaigne.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.