7. Kapitel


Die Verteidigung der Zitadelle


In den ganzen Werken Montaignes habe ich nur eine einzige Formel und eine einzige starre Behauptung gefunden: »La plus grande chose au monde est savoir être à soi.« Nicht eine äußere Stellung, nicht der Vorzug des Geblüts, der Begabung machen den Adel des Menschen, sondern der Grad, in dem es ihm gelingt, sich seine Persönlichkeit zu bewahren und sein eigenes Leben zu leben. Darum ist für ihn die höchste Kunst unter den Künsten die der Selbsterhaltung: »Beginnen wir bei den Freien Künsten mit der Kunst, die uns frei macht«, und niemand hat sie besser geübt. Das scheint einerseits ein geringes Verlangen, denn nichts wäre auf den ersten Blick natürlicher, als daß der Mensch sich geneigt fühlte, er selber zu bleiben, das Leben »gemäß seiner natürlichen Anlage« zu führen. Aber in Wirklichkeit, wenn man näher hinblickt, was ist schwerer?


Um frei zu sein, darf man nicht verschuldet sein und nicht verstrickt, und wir sind verstrickt, an den Staat, an die Gemeinschaft, an die Familie; der Sprache, die wir sprechen, sind die Gedanken Untertan; der isolierte Mensch, der völlig freie, ist ein Phantom. Es ist unmöglich, im Vakuum zu leben. Wir sind bewußt oder unbewußt durch Erziehung Sklaven der Sitte, der Religion, der Anschauungen; wir atmen die Luft der Zeit.


Von all dem sich loszusagen, ist unmöglich. Montaigne weiß dies selbst, ein Mann, der im Leben seine Pflichten gegen Staat, Familie, Gesellschaft erfüllt, der Religion wenigstens äußerlich treu angehangen, die Umgangsformen geübt hat. Was Montaigne für sich sucht, ist nur, die Grenze zu finden. Wir dürfen uns nicht hergeben, wir dürfen uns nur »herleihen«. Es ist nötig, »die Freiheit unserer Seele sich aufzusparen und nicht auszuleihen, außer bei den seltenen Gelegenheiten, wo wir es klar für richtig halten«. Wir brauchen uns nicht von der Welt zu entfernen, nicht in eine Zelle zurückzuziehen. Aber wir haben einen Unterschied zu machen: wir mögen dies oder jenes lieben, aber mit nichts uns »ehelich verbinden« als mit uns selbst. Alles, was wir an Leidenschaften oder Begehrnissen haben, lehnt Montaigne nicht ab. Im Gegenteil, er rät uns immer, soviel zu genießen wie möglich, er ist ein diesseitiger Mensch, der keine Einschränkungen kennt; wen Politik freut, der soll Politik treiben, wer Bücher liebt, Bücher lesen, wer die Jagd liebt, soll jagen, wer sein Haus, Grund und Boden und Geld und die Dinge liebt, soll sich ihnen hingeben. Aber dies ist ihm das Wichtigste: man soll nehmen, soviel einem gefällt, und sich nicht von den Dingen nehmen lassen. »Im Haus, bei den Studien, bei der Jagd und jeder anderen Übung muß man bis zu den äußersten Grenzen des Genusses gehen, aber sich hüten, sie zu überschreiten, sonst beginnt sich der Schmerz einzumischen.« Man soll nicht durch Pflichtgefühl, durch Leidenschaft, durch Ehrgeiz sich weiter treiben lassen, als man eigentlich gehen wollte und will, man soll unablässig prüfen, wieviel die Dinge wert sind, und sie nicht überschätzen; man soll dort enden, wo das Behagen endet. Man soll den Kopf wach halten, sich nicht binden, nicht Sklave werden, frei sein.


Aber Montaigne macht keinerlei Vorschriften. Er gibt nur ein Beispiel, wie er es selbst versucht, sich unablässig von allem zu befreien, was ihn hemmt, stört, einschränkt. Man könnte versuchen, eine Tabelle aufzustellen:


Freisein von Eitelkeit und Stolz, dies vielleicht das Schwerste.


Sich nicht überheben.


Freisein von Furcht und Hoffnung, Glauben und Aberglauben. Frei von Überzeugungen und Parteien.


Freisein von Gewohnheiten: »Die Gewohnheit verbirgt uns das wahre Gesicht der Dinge.«


Frei von Ambitionen und jeder Form von Gier: »Die Ruhmsucht ist die nutzloseste, wertloseste und falscheste Münze, die in Umlauf ist.«


Frei von Familie und Umgebung. Frei von Fanatismus: »jedes Land glaubt, die vollkommenste Religion« zu besitzen, in allen Dingen an der Spitze zu stehen. Frei sein vom Schicksal. Wir sind seine Herren. Wir geben den Dingen Farbe und Gesicht.


Und die letzte Freiheit: vom Tode. Das Leben hängt vom Willen anderer ab, der Tod von unserem Willen: »La plus volontaire mort est la plus belle.«


Als den Menschen, der sich von allem loslöst, an nichts bindet, der im Leeren lebt und alles bezweifelt, hat man ihn sehen wollen. So hat ihn auch Pascal geschildert. Nichts ist falscher. Montaigne liebt unermeßlich das Leben. Die einzige Furcht, die er kannte, war die vor dem Tode. Und er liebt im Leben alles, wie es ist. »In der Natur ist nichts zwecklos, nicht einmal die Zwecklosigkeit. Nichts existiert im Weltall, was nicht an der rechten Stelle wäre.« Er liebt das Häßliche, weil es das Schöne sichtbar macht, das Laster, weil es die Tugend hervorhebt, die Dummheit und das Verbrechen. Alles ist gut, und Gott segnet die Vielfalt. Was der einfachste Mensch ihm sagt, ist wichtig, mit offnen Augen kann man von dem Dümmsten lernen, vom Analphabeten mehr als von dem Gelehrten. Er liebt die Seele, die in »mehreren Stockwerken zu Hause ist« und sich überall wohlfühlt, wo sie vom Schicksal hingestellt wird, den Menschen, der sich »mit seinem Nachbarn über sein Haus bereden kann, seine Jagd, seine Rechtsstreitigkeiten, der auch vergnüglich mit einem Tischler oder Gärtner sich unterhält«.


Falsch ist nur eines und verbrecherisch: diese vielfältige Welt in Doktrinen und Systeme einschließen zu wollen, falsch ist, andere Menschen abzulenken von ihrem freien Urteil, von dem, was sie wirklich wollen, und ihnen etwas aufzunötigen, was nicht in ihnen ist. Nur solche sind die Ehrfurchtslosen vor der Freiheit, und nichts hat Montaigne so sehr gehaßt wie die »frénésie«, die Tobsucht der geistigen Diktatoren, die ihre »Neuigkeiten« frech und eitel als die einzige und unumstößliche Wahrheit der Welt aufprägen wollen und denen das Blut von Hunderttausenden von Menschen gleichgültig ist, wenn sie nur recht behalten.


So mündet, wie immer eines freien Denkers Lebenshaltung, die Montaignes in Toleranz. Der für sich frei denken will, gibt jedem andern das Recht dazu, und niemand hat es höher geachtet als er. Er schrickt nicht zurück vor den Kannibalen, jenen Brasilianern, von denen er einem in Rouen begegnet, weil sie Menschen verzehrt haben. Ruhig und klar sagt er, er finde das viel unbeträchtlicher als lebendige Menschen zu foltern, zu martern und zu quälen. Es ist kein Glaube, keine Anschauung, die er von vornherein ablehnt, sein Urteil ist von keinem Vorurteil getrübt. »Ich verfalle keineswegs jenem üblichen Irrtum, einen andern nach meinem Bilde zu beurteilen.« Er warnt vor Heftigkeit und roher Gewalt, die wie nichts anderes eine an und für sich wohlgeratene Seele verderben und betäuben können.


Es ist wichtig, dies zu sehen, weil es ein Beweis dafür ist, daß der Mensch immer frei sein kann – zu jeder Zeit. Wenn Calvin Hexenprozesse befürwortet und einen Widersacher an langsamem Feuer verenden läßt, wenn Torquemada Hunderte auf den Scheiterhaufen schickt, so haben ihre Lobpreiser entschuldigend vermerkt, sie hätten nicht anders gekonnt, es sei unmöglich, sich völlig den Anschauungen seiner Zeit zu entziehen. Aber das Menschliche ist unveränderlich. Immer haben auch in Zeiten der Fanatiker die Humanen gelebt, zur Zeit des »Hexenhammers«, der »Chambre Ardente« und der Inquisition, und nicht einen Augenblick haben diese die Klarheit und Menschlichkeit eines Erasmus, eines Montaigne, eines Castellio verwirren können. Und während die anderen, die Professoren der Sorbonne, die Konzilien, die Legaten, die Zwinglis, Calvins das »Wir wissen die Wahrheit« verkünden, ist sein Wahrspruch der des »Was weiß ich?«. Während sie mit Rad und Verbannung das »So sollt Ihr leben!« erzwingen wollen, lautet sein Rat: Denkt Eure Gedanken, nicht meine! Lebt Euer Leben! Folgt mir nicht blind nach, bleibt frei! Wer für sich selbst frei denkt, ehrt alle Freiheit auf Erden.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.