6. Kapitel


Montaigne wird nicht müde, über sein schlechtes Gedächtnis zu klagen. Er empfindet es – gleichzeitig mit einer gewissen Trägheit – als den eigentlichen Defekt seines Wesens. Sein Verstand, seine Perzeptionskraft ist außerordentlich. Was er sieht, was er begreift, was er beobachtet, was er erkennt, das erfaßt er mit einem rapiden Falkenblick. Aber er ist dann zu bequem, wie er sich immer wieder vorwirft, diese Erkenntnisse systematisch zu ordnen, logisch auszubauen, und kaum gefaßt, verliert sich, vergißt sich wieder jeder Gedanke. Er vergißt die Bücher, die er gelesen hat, er hat kein Gedächtnis für Daten, er erinnert sich an wesentliche Lebensumstände nicht. Alles geht an ihm vorüber wie ein Strom und läßt nichts zurück, keine bestimmte Überzeugung, keine feste Ansicht, nichts Starres, nichts Bleibendes.


Diese Schwäche, die Montaigne so sehr bei sich beklagt, ist in Wirklichkeit seine Stärke. Sein Bei-nichts-stehen-Bleiben zwingt ihn, immer weiter zu gehen. Nichts ist für ihn abgetan. Er sitzt nicht auf seinen Erfahrungen, er erwirbt kein Kapital, von dem er zehrt, sondern sein Geist muß es sich immer wieder erobern. So wird sein Leben ein ständiger Erneuerungsprozeß: »Unablässig beginnen wir von neuem zu leben.« Die Wahrheiten, die er findet, sind im nächsten Jahr und oft schon im nächsten Monat nicht mehr Wahrheiten. Er muß von neuem suchen. So ergeben sich viele Widersprüche. Bald scheint er ein Epikuräer, bald ein Stoiker, bald ein Skeptiker. Er ist alles und nichts, immer ein anderer und immer derselbe, der Montaigne von 1550, 1560, 1570, 1580, der Montaigne von gestern noch.


Dieses Suchen ist Montaignes eigenste Lust, nicht das Finden. Er gehört nicht zu den Philosophen, die nach dem Stein der Weisen suchen, nach einer zweckdienlichen Formel. Er will kein Dogma, keine Lehre und hat ständig Angst vor starren Behauptungen: »Nichts kühn behaupten, nichts leichtfertig leugnen.« Er geht auf kein Ziel zu. Jeder Weg ist für seine »pensée vagabonde« der rechte. So ist er nichts weniger als ein Philosoph, es sei denn im Sinne des Sokrates, den er am meisten liebt, weil er nichts hinterlassen hat, kein Dogma, keine Lehre, kein Gesetz, kein System, nichts als eine Gestalt: der Mensch, der sich in allem und alles in sich sucht.


Wir danken vielleicht das Beste an Montaigne seinem unermüdlichen Suchertrieb, seiner Neugierlust, seinem schlechten Gedächtnis, und auch den Schriftsteller verdanken wir ihnen. Montaigne weiß, daß er die Gedanken vergißt, die er in einem Buche liest, und sogar die Gedanken, die ein Buch in ihm angeregt. Um sie festzuhalten, seine »songes«, seine »rêveries«, die sonst Welle über Welle überflutet werden, hat er nur ein Mittel: sie zu fixieren, am Rande eines Buches, auf dem letzten Blatt. Dann allmählich auf einzelnen Zetteln, wie sie ihm der Zufall bringt, ein »Mosaik ohne Bindung«, wie er sie selber nennt. Es sind Notizen, Erinnerungszeichen zuerst, und nicht viel mehr; nur allmählich versucht er einen gewissen Zusammenhang zwischen ihnen zu finden. Er versucht es mit dem Vorgefühl, nicht zum richtigen Ende zu kommen; meist schreibt er in einem Zug, und deshalb bewahren seine Sätze ihren spontanen Charakter.


Aber immer ist er überzeugt, daß sie nicht das Eigentliche sind. Schreiben und notieren ist ihm nur ein Nebenprodukt, ein Niederschlag – fast möchte man bösartig sagen, wie der Sand in seinem Harn, wie die Perle in der Auster. Das Hauptprodukt ist das Leben, von dem sie nur ein Splitter und Abfall sind: »mein Beruf, meine Kunst ist, zu leben«. Sie sind etwa, was eine Photographie für ein Kunstwerk sein kann, nicht mehr. Der Schriftsteller in ihm ist nur ein Schatten des Menschen, während wir sonst tausendfach bei Menschen staunen, wie groß ihre Schreibkunst, wie gering ihre Lebenskunst ist.


Er schreibt – er ist kein Schriftsteller. Das Schreiben ist ihm nur ein Ersatz. Neue Worte zu suchen, erscheint ihm ein »kindischer Ehrgeiz«. Der Sprache, der Rede sollen seine Sätze ähneln, sie sollen so einfach und simpel auf dem Papier stehen, wie sie aus dem Munde kommen, saftig, nervig, kurz, nicht zierlich und zugespitzt. Sie sollen nicht pedantisch und »mönchisch« sein, sondern eher »soldatisch«.


Weil aus zufälligem Anlaß jeder einzelne dieser Essais entstanden ist, aus einer Laune, aus einem Buch, aus einem Gespräch, einer Anekdote, darum scheinen sie zunächst ein bloßes Nebeneinander, und so hat sie Montaigne auch selbst empfunden. Er hat nie versucht, sie zu ordnen, sie zusammenzufassen. Aber allmählich entdeckt er, daß all diese Essais doch ein Gemeinsames haben, einen Mittelpunkt, einen Zusammenhang, eine Zielrichtung. Sie haben einen Punkt, von dem sie ausgehen oder auf den sie zurückführen, und immer denselben: das Ich. Erst scheint er nach Schmetterlingen zu haschen, nach dem Schatten an der Wand; nach und nach wird ihm klar, daß er etwas Bestimmtes sucht, zu einem bestimmten Zweck: sich selbst, daß er über das Leben nachdenkt in all seinen Formen, um richtig zu leben – aber richtig nur für sich selbst. Was ihm müßige Laune geschienen hat, offenbart allmählich seinen Sinn. Was immer er beschreibt: er beschreibt eigentlich nur die Reaktion seines Ichs auf dies und jenes. Die Essais haben einen einzigen Gegenstand, und er ist derselbe wie der seines Lebens: das »moi« oder vielmehr »mon essence«.


Er entdeckt sich als Aufgabe, denn »die Seele, die kein festes Ziel hat, verliert sich«. Als Aufgabe hat er sich gestellt, zu sich selbst aufrichtig zu sein, so wie er sich das als Pindars Weisheit notiert, »aufrichtig zu sein, ist der Beginn einer großen Tugend«. Kaum daß er dies entdeckt hat, beginnt die vormals fast spielerische Tätigkeit, das »amusement«, etwas Neues zu werden. Er wird zum Psychologen, er betreibt Autopsychologie. Wer bin ich, fragt er sich. Drei bis vier Menschen vor ihm haben sich diese Frage gestellt. Er erschrickt vor der Aufgabe, die er sich gestellt hat. Seine erste Entdeckung: es ist schwer zu sagen, wer man ist. Er versucht sich nach außen zu stellen, sich zu sehen »wie einen anderen«. Er belauscht, er beobachtet, er studiert sich, er wird, wie er sagt, »meine Metaphysik und Physik«. Er läßt sich nicht mehr aus dem Auge und sagt, daß er seit Jahren nichts unkontrolliert getan habe: »Ich weiß von keiner Bewegung mehr, die sich meinem Verstand verbirgt.« Er ist nicht mehr allein, er wird zwei. Und er entdeckt, daß dieses »amusement« kein Ende hat, daß dieses Ich nichts Starres ist, daß es sich wandelt, in Wellen, »ondulant«, daß der Montaigne von heute nicht dem von gestern gleicht. Er stellt fest, daß man also nur Phasen, Zustände, Einzelheiten entwickeln kann.


Aber jede Einzelheit ist wichtig; gerade die kleine, die flüchtige Geste lehrt mehr als die starre Haltung. Er nimmt sich unter die Zeitlupe. Er löst, was eine Einheit scheint, auf in eine Summe von Bewegungen, von Wandlungen. So wird er mit sich nicht fertig, so bleibt er ewig auf der Suche. Doch um sich zu verstehen, genügt es nicht, sich zu betrachten. Man sieht die Welt nicht, wenn man nur auf den eignen Nabel blickt. Darum liest er Geschichte, darum studiert er Philosophie, nicht um sich zu belehren, sich überzeugen zu lassen, sondern um zu sehen, wie andere Menschen gehandelt haben, um sein Ich neben andere zu stellen.


Er studiert die »reichen Seelen der Vergangenheit«, um sich ihnen zu vergleichen. Er studiert die Tugenden, die Laster, die Fehler und die Vorzüge, die Weisheit und die Kindischkeit der andern. Geschichte ist sein großes Lehrbuch, denn in den Aktionen offenbart sich, wie er sagt, der Mensch.


So ist es eigentlich nicht das Ich, das Selbst, das Montaigne sucht, er sucht gleichzeitig das Menschliche. Er unterscheidet genau, daß in jedem Menschen das Gemeinsame ist, und etwas Einmaliges: die Persönlichkeit, eine »essence«, eine Mischung, die unvergleichbar ist mit allen andern, geformt schon im zwanzigsten Lebensjahr. Und daneben das allgemein Menschliche, das, in dem jeder sich gleicht, jedes dieser gebrechlichen, begrenzten Wesen, die eingebannt sind in die großen Gesetze, eingeschlossen in die Spanne zwischen Geburt und Tod. So sucht er zweierlei. Er sucht das Ich, das Einmalige, Besondere, das Ich Montaigne, das er keineswegs als besonders außerordentlich, besonders interessant empfindet, aber das doch unvergleichlich ist und das er unbewußt der Welt erhalten will. Er sucht das Ich in uns, das seine eignen Manifestationen finden will, und dann das andere, das uns gemeinsam ist.


Wie Goethe die Urpflanze, so sucht er den Urmenschen, den Allmenschen, die reine Form, in der noch nichts ausgeprägt ist, die nicht entstellt ist von Vorurteilen und Vorteilen, von Sitten und Gesetzen. Es ist kein Zufall, daß ihn jene Brasilianer, die er in Rouen trifft, so faszinieren, die keinen Gott, keinen Führer, keine Religion, keine Sitte, keine Moral kennen. Er sieht in ihnen gleichsam den unverstellten, unverdorbenen Menschen, die reine Folie einerseits und dann die Schrift, mit der jeder einzelne Mensch sich auf dem leeren Blatt verewigt. Was Goethe sagt in seinen »Urworten« über die Persönlichkeit, ist das Seine:


Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.


Man hat dieses Suchen nach sich selbst, dieses sich immer an den Anfang und das Ende jeder Betrachtung stellen Montaignes Egoismus genannt, und insbesondere Pascal hat es als Hochmut, als Selbstgefälligkeit, ja sogar als Sünde, als seinen Ur-Defekt bezeichnet. Aber Montaignes Haltung bedeutet keine Abwendung von den andern, keinen Exhibitionismus wie bei Jean Jacques Rousseau. Nichts liegt ihm ferner als Selbstgefälligkeit und Selbstentzückung. Er ist kein Abgesonderter, kein Einsiedler, er sucht nicht, um sich zu zeigen, nicht um zu prunken, sondern für sich. Wenn er sagt, daß er sich unablässig analysiert, so betont er zugleich, daß er sich unaufhörlich tadelt. Er handelt aus einem Willen, seiner Natur entsprechend. Und wenn es ein Fehler ist, so gesteht er ihn willig ein. Wenn es wahr sein sollte, daß es eine Überheblichkeit ist, die Menschen mit seinem Ich zu behelligen, so leugnet er diese Eigenschaft nicht, weil er sie besitzt, auch wenn sie »krankhaft« sein sollte: »und ich darf diesen Fehler nicht verheimlichen; er ist bei mir nicht nur im Schwange, sondern mein Beruf.« Es ist seine Funktion, seine Begabung, auch seine Freude tausendmal mehr als seine Eitelkeit. Der Blick auf sein Ich hat ihn nicht fremd gemacht der Welt. Er ist nicht Diogenes, der in sein Faß kriecht, nicht Rousseau, der sich eingräbt in einen monomanischen Verfolgungswahnsinn. Es ist nichts, was ihn bitter macht oder von der Welt entfernen soll, die er liebt. »Ich liebe das Leben und nutze es so, wie es Gott gefallen hat, es uns zu geben.« Daß er sein Ich gepflegt hat, hat ihn nicht einsam gemacht, sondern ihm Tausende von Freunden gebracht. Wer sein eignes Leben schildert, lebt für alle Menschen, wer seine Zeit zum Ausdruck bringt, für alle Zeiten.


Es ist wahr: Montaigne hat sein Leben lang nichts andres getan als gefragt: wie lebe ich? Aber das Wunderbare, das Wohltätige bei ihm ist, daß er nie versucht hat, diese Frage in einen Imperativ zu verwandeln, dies »Wie lebe ich?« in ein »So sollst du leben!« Der Mann, der »Que sais-je?« auf seine Medaille als Wahlspruch prägen ließ, hat nichts mehr gehaßt als starre Behauptungen. Er hat nie versucht, andern anzuraten, was er für sich nicht genau wußte: »Dies hier ist nicht meine Lehre, es ist meine Bemühung um das Wissen, und es ist nicht die Weisheit anderer Leute, sondern die meine.« Mag ein anderer daraus irgendeinen Vorteil ziehen, so hat er nichts dawider. Mag das, was er sagt, Narrheit sein, Irrtum, es soll niemand daran Schaden nehmen. »Wenn ich mich zum Narren mache, so geht das auf meine Kosten und ohne Nachteil für irgend jemand, denn es ist eine Torheit, die in mir bleibt und keinerlei Folgen hat.«


Was er gesucht hat, hat er für sich gesucht. Was er gefunden hat, gilt für jeden andern genau so viel, als er davon nehmen will oder kann. Was in Freiheit gedacht ist, kann nie die Freiheit eines andern beschränken.

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