Paul Verlaines Leben


1922


Das Leben Paul Verlaines gilt, dank mancher übertreibenden Legende, einer jüngeren Generation als äußerst romantisch, er selbst, der »pauvre Lélian«, als der erste Bohémien, ein zynischer Verächter der Bürgerliteratur, Kraftgenie und Empörer. Nichts war er weniger als solch eine Aufrührernatur: einzig Unkraft war seine Kraft, Widerstandslosigkeit seine Magie. Ins banalste Provinzbürgertum hineingeboren, hat er, einmal losgerissen von Amt und Haus, statt Vagantenfreude immer nur Heimweh gehabt nach den eigenen vier Wänden, nach Weib und Kind, dem Kirchenglauben der ersten Kommunion, nach Zärtlichkeit und Versöhnung, Heimweh sogar nach dem Gefängnis, weil selbst dies noch eine Art Heimstatt für den widerwillig Schweifenden gewesen war. Nicht wie Rimbaud, sein Verführer und Begleiter in den Strotterjahren, atmet er, ein echter Prinz Vogelfrei, nur wohl auf fremder Streu, in fremder Luft: Verlaine blieb zeitlebens Bohémien wider Willen, Literat mit Selbstekel, Alkoholiker mit lyrischem Katzenjammer. Drei-, vier-, fünfmal, immer wieder versucht er sich aus dem grünen Absinthschlamm herauszuarbeiten ans brav bürgerliche Ufer. Bald will er Landwirt werden, bald Lehrer, bald wieder Redakteur oder gar Magistratsbeamter, immer möchte er ins gerade, stille, geordnete Leben zurück: es fehlt dem Deklassierten einzig die Kraft, nicht der Wille zum Rückwärts in die Bourgeoisie. Einmal ins Rollen geraten, aus seinem bürgerlichen Scharnier gelöst, stürzt er unaufhaltsam ins Leere hinein; denn gerade den Schwachen kann, weil ihm wider den Sturz kein Widerstand wächst, nicht die stärkste Macht mehr halten.


Diese äußerste seelische und moralische Kraftlosigkeit bei stärkster dichterischer Kraft – das ist das Besondere in Verlaines Lebensformel. Sein Schicksal hat pittoreske Details, aber im Wesenhaften nur eine einzige Wendung: jenen typischen Durchbruch, der das Zentrum fast jeder Künstlerbiographie darstellt. Irgendwo packt – man gleite nur alle Biographien aller wahrhaft Großen durch – in der Mitte der Jugend oder der Mitte des Lebens das Schicksal den schöpferischen Menschen und reißt ihn aus seinem Winkel, aus seiner Sicherung gewaltsam los und schleudert ihn, einen Federball, zum Spiel irgendwohin ins Unbekannte. Alle diese Menschen haben diese Flucht, diesen Sturz – manchmal scheinbar selbstgewollt, in Wahrheit immer schicksalsgewollt – aus einer Enge, einer Eingewöhntheit, einem Angewachsensein heraus in eine Stunde, die sie ganz nach außen stellt, manchmal an den Pranger, manchmal in die Einsamkeit, aber immer Stirn an Stirn gegen ihre ganze Zeitwelt. So stürmt eines Tags der wohlbestallte Hofkapellmeister Richard Wagner auf die Barrikade und muß dann flüchten, Schiller wieder bricht aus der Karlsschule; so läßt plötzlich der Minister Goethe in Karlsbad den Wagen anspannen und jagt nach Italien in eine freie ungebundene Existenz, so reist Lenau nach Amerika, Shelley nach Italien, Byron nach Griechenland, so läßt einer, der immer zögerte und längst den Ruf gehört, so läßt der achtzigjährige Tolstoi fiebernd und todkrank noch das Schloß und flüchtet auf der Troika in der Winternacht. Alle, alle Großen haben diese plötzliche Flucht aus ihrer eigenen, bürgerlichen Behaglichkeit wie aus einem Kerker, alles die plötzliche Auf-eine-Karte-Setzen der ganzen Existenz um eines heißen, urmächtigen – und wie weisen! – Triebes willen, der den Dichter zum Ganzen treibt, ins Ewig-Außenhafte, wo er Zeit und Welt wie von fremdem Sterne sieht.


Dem Starken ist dieser Ausbruch, dieser Durchbruch bloß Krise und dann Genesung. Die Schwachen unter den Dichtern verbluten daran. Dante schafft im Exil die ›Commedia‹, Cervantes im Kerker den ›Don Quichotte‹, Goethe, Wagner, Schiller, Dostojewski, sie kehren heim mit aufgesprungenen Blicken, mit verhundertfachter Kraft. Ihnen wird der Durchbruch Weg zum tiefsten Ich, ihr Sturz einer ins Weltall hinein. Die Schwachen aber fallen ins Leere: losgelöst von dem Bürgerlich-Konventionellen, das sie einengte und doch mit diesem Anpressen hielt (wie ein stürzendes Pferd sich oft an der Deichsel hält), rutschen all die sensitiven, die morbiden Naturen, diese Empörer nicht aus Temperament, sondern aus Nervosität, aus Schwäche, aus Ungeduld, rutschen die Grabbes, die Günthers, Wildes, Verlaines immer hilfloser den schiefen Abhang hinab, ihr Leben zerrinnt wie ihr Dichten. Es ist Frauenart, ist sentimentaler Irrtum,1 das wahrhaft Große mit dem bloß Ergreifenden zu verwechseln: in Wahrheit darf Verlaines Leben wohl tragisch und im tiefsten erschütternd genannt werden, doch wäre es gewaltsam, dies Verflackern schon als Lebenskunstwerk, als biographische Tragödie werten zu wollen. Nirgends ist dieser Lebensgang dramatisch emporgestuft, er hat keinen Helden, kein Ringen und kein Widerspiel: es ist einzig ein Zerbrechen, Zerbröckeln, ein Abgleiten und Verschlammen, eine Dekadenz, ein Absturz. An keiner Stelle wird Verlaines Leben sublim, an keiner Stelle beispielhaft groß; immer beharrt es in kleinmenschlichen Maßen, rührend durch Unkraft, erschütternd bloß durch Schwäche, beseligend einzig durch Melodie. Kein Heldendenkmal aus Marmor und Erz heißt Paul Verlaine: nur ein tragisch weiches Stück heißer Menschheit, das die Faust des Schicksals zu einer flüchtigen und doch unvergeßlichen Geste des Leidens geknetet hat.


Paul Marie Verlaine – seines zweiten Vornamens besinnt er sich erst zur Zeit der Konversion – ist am 30. März 1844 als Sohn eines französischen Geniehauptmanns aus dem Lothringischen geboren. Sein Vater, der Waterloo noch mitgemacht hatte, führt eine reiche Erbin heim, gibt dann bald nach gut französischer Rentnerart die Militärstellung auf und zieht mit Frau und Kind nach Paris, wo er 1865 starb, nicht ohne zuvor einen beträchtlichen Teil des Vermögens verspekuliert zu haben. Aber es bleibt noch immer genug zu einer kleinen bürgerlichen Existenz, zu bequemer Behaglichkeit, in der der sensitive, nervöse Knabe aufwächst, von seiner Mutter und einer Cousine verzärtelt und verzogen. Ein paar Jahre im Pensionat machen aus dem schamhaft-zutraulichen Kind einen kleinen Pariser Gamin: das Routinierte, Witzige, Leichtfertige und Schmutzige, das dann am Ende seines Lebens in den Versen durchbricht, ist Infektion jener Schlafsaalgemeinschaft von 1860. Gleichzeitig beginnt aber auch der Dichter, beginnt – typisch genug für den weibischen, femininen Charakter Verlaines – gleichzeitig (und nicht zufällig gleichzeitig) mit der Pubertät als ein früher Erguß schöpferischer Männlichkeit und jünglinghafter Melancholie. Die meisten der ›Poèmes Saturniens‹ stammen noch von der Schulbank: dank des Druckkostenbeitrages, den die gute Cousine Elisa vorstreckt, können sie bei Lemerre – seltsamerweise am gleichen Tage wie François Coppées Erstling – erscheinen und haben bei der Presse einen »joli succès de hostilité«.


Gedichteschreiben betrachtete damals und betrachtet noch heute der französische Dichter im Gegensatz zum deutschen durchaus noch nicht als materielle Grundlage einer Existenz: kein einziger hat je ernstlich versucht, von guter lyrischer Literatur zu leben. Und so beschließt, nach einem kurzen Studienintermezzo, auch Verlaine im Einverständnis mit seiner Familie, einen bürgerlichen Beruf zu erwählen, und zwar wie die meisten französischen jungen Dichter geht er in ein Staatsbureau, weil der Dienst dort nicht sehr gefährlich ist: drei Stunden Sesselwärmen, ein wenig plaudern und Papier verschmieren, täuscht nach außen eine Anstrengung vor, läßt aber reichlich Zeit, herumzustreichen, literarische Cénacles zu frequentieren und sich der Dichtung hemmungslos zu widmen. Eine kleine Rente, das Ideal des französischen Bürgers, ist dem Poeten durch sein väterliches Erbe gesichert, von Ambition ist er nicht sonderlich geplagt: so lebt der junge Paul Verlaine heiter, im behäbigen Wohlstand, ganz normal, ganz bürgerlich. Alles scheint für ihn gesichert und geregelt. Er stellt das typische Bild des französischen jungen Dichters dar, der irgendwo in einem Bureau sanft faulenzend mit schönen Gedichten beginnt, um dann nach dreißig Jahren des Dichtens und Trachtens mit der Ehrenlegion in die Akademie einzurücken, den sanften Weg, den auch alle seine älteren Genossen und Jugendfreunde, Anatole France, François Coppée voran, wacker gegangen sind.


Ein Einziges in diesem braven, bürgerlichen, still-dichterischen Leben ist Gefahr: die frühe Gewöhnung an den Alkohol in allen Formen. Verlaine, der Schwache, sich selbst immer Nachgebende, kann bei keinem Kaffeehaus, keinem Schank vorbei, ohne nicht rasch einen Absinth, einen Branntwein, einen Curaçao zur Anfeuerung zu nehmen, und die Trunkenheit treibt dann aus dem nervösen zarten Menschen eine sprunghaft böse Brutalität heraus. Er wird dann plötzlich zänkisch, prügelt seine Freunde, wie Gottfried Keller in seinen Berliner Jahren, und allmählich schwemmt der Absinth in stiller beharrlicher Arbeit alles Sanfte, Zarte aus dem schwachen Menschen heraus und entfremdet ihn sich selbst. Nach dem Tode seiner Cousine Elisa hat er zum erstenmal eine ganz heftige Krise; zwei Tage rührt er aus Trauer keine Speisen an, aber aus Trauer trinkt er auch jene zwei Tage und zwei Nächte ununterbrochen und muß sich als Trunkenbold einen Rüffel seines Vorgesetzten gefallen lassen. »Le seul vice impardonnable«, das einzige unverzeihliche Laster seines Lebens hat er selbst seine Trunkenheit und seine Trinkwut genannt. Und sie allein hat ihm den Boden unter den Füßen langsam weggeschwemmt.


Auch das erste große Erlebnis, seine Liebe, ist noch ganz bürgerlich. Auf Besuch bei einem Freunde lernt er ein junges Mädchen, kennen, Mathilde Manté, sechzehnjährig, hold, blond, zart, ein Sinnbild von Unschuld und Jungfräulichkeit. Verlaine, in seiner Jugend häßlich wie ein Affe, scheu, timid und lasziv zugleich, ein Romantiker, der seine käuflichen Abenteuer sich nur immer rasch wie einen Alkohol an der Straßenecke holen mußte, sieht in dem weißen Mädchen sofort die Heilige, die Erretterin, die Erlöserin. Er läßt das Trinken, wird ein braver bürgerlicher Werber, der zu den Eltern geht und respektvoll Verlobung feiert. Wie ein Gymnasiast dichtet er zärtlich und getreulich in Briefen die Verehrte an, nur daß es eben nicht Verse eines Gymnasiasten sind, sondern jene herrlichen Brautgedichte, die dann sein schönstes, sein reinstes Jugendbuch ›La bonne Chanson‹ vereint. In einem Augenblick verschmilzt sich da das Heimlich-Sinnliche, das Dumpfe seines Wesens mit einer reinen Leidenschaft, sordiniert vom Tannhäuserwahn einer befreiten Seele: restlos ist hier die alte und oft geheuchelte Melancholie in Melodie aufgelöst.


Aber in die Idylle hinein donnern die preußischen Kanonen. Der Krieg von 1870 bricht aus, und rasch, um einer möglichen, vom Verliebten durchaus nicht ersehnten Einberufung zuvorzukommen, macht er Hochzeit, während die Deutschen schon hinter Sedan stehen und – ein anderes rotes Symbol – die Petroleuse Louise Michel bei seiner Trauung Beistand leistet.


Die Ehe gerät nicht gut, die unter so schlimmen Auspizien geschlossen wurde. Dazu kommen noch kleine Krisen und Katastrophen. Gleichgültig gegen Politik, hat sich Verlaine doch verleiten lassen, während der Kommune Zeitungsausschnitte für die revolutionäre Regierung zu kollationieren, statt in sein Magistratsamt zu gehen. Nach der Niederwerfung der Revolte ist es ihm nicht recht behaglich mehr. Er könnte wohl noch zurück in sein Amt, aber er hat »assez du bural« genug vom Bureau. Er will nicht mehr. In solcher Zeit der Umwälzung knistert die Unruhe quer bis in alle einzelnen Existenzen (wie haben wir selbst dies in unserer Epoche erlebt!); der wilde Wind von Freiheit, der durch die Welt weht, zündet ihn an. Verlaine fühlt sich nicht mehr wohl in seinem Hause, bei seinen Schwiegereltern. Er fühlt sich nicht mehr wohl in seinem Beruf: aus Ärger trinkt er, im Trunke wird er brutal, die Mißhelligkeiten mehren sich, nur mühsam hält der Hausstand – der bald durch einen Dritten, den Sohn Verlaines, ergänzt werden sollte – zusammen. Alles in ihm drängt nach Ausbruch, Durchbruch, es gärt, so wie es in Goethe gärte die letzten langweiligen Schranzenjahre vor der Flucht nach Italien. Er möchte fort, irgendwohin, aber er hat keine Kraft zum Abstoß, Schwächling, der er war und der sich nie freimachen konnte weder zum Guten noch zum Bösen. Erst ein anderer muß ihn von sich selbst wegstoßen.


Im Februar 1871 erhält er plötzlich einen Brief von einer kleinen Provinzstadt Charlesville, ziemlich knabenhaft und ungelenk unterschrieben von einem gewissen Arthur Rimbaud. Aber beigelegt ein paar Gedichte, die Verlaine taumeln machen vor Bewunderung. Aus diesen Zeilen explodiert eine Wortgewalt, funkeln Bilder so phantastisch, wie kein zweiter Lebender sie auch nur zu träumen gewagt: Elektrizität schlägt ihm entgegen, eine Urkraft, fremd und schicksalhaft. Verlaine zeigt die Verse den Freunden. Sie teilen die Bewunderung, zum erstenmal wird das Gedicht ›Le bateau ivre‹, dieser herrlichste Hymnus eines Weltherzens, gelesen, und in einem drängenden leidenschaftlichen Brief lädt Verlaine den Unbekannten ein, eiligst nach Paris zu kommen: »Venez, chère grande âme, on vous attend, on vous désire.« Und Rimbaud kommt, kein Mann, wie sie meinen, sondern ein junger Bursch von merkwürdiger Dämonie körperlicher Kraft, ein Vautrin-Typ mit einem verderbten Knabengesicht und roten gewalttätigen Fäusten. Finster, unfreundlich, mürrisch zu den Menschen, nur in der Trunkenheit und im Verse aufschießend zu purpurnen Ekstasen, setzt er sich zu den Frauen an den Tisch, ißt wie ein Berserker und spricht kein Wort. Dreimal war er von der Schulbank schon nach Paris durchgebrannt, dreimal hat man ihn zurückgejagt, nun ist sein harter dämonischer Wille daran, sich ehern festzubeißen. Für Verlaine ist dieser Meteor eine Beglückung. Hier findet er endlich den Freund von geistiger Überlegenheit und männlicher Kraft, der ihn aufpeitscht, der ihn stärkt und von sich selbst losreißt: Rimbaud, der große Amoralist, lehrt ihn, als Siebzehnjähriger schon radikaler als der letzte Nietzsche, die Anarchie, die Verachtung der Literatur, Verachtung der Familie, Verachtung der Gesetze, Verachtung des Christentums. Er reißt ihn mit seinen harten, höhnischen, straffen und doch urmächtigen Worten aus seiner weichen Erde heraus. Er entwurzelt ihn. Zunächst treiben sie sich noch gemeinsam in Paris herum und trinken und reden, reden und trinken, nur daß Rimbaud, das Genie, der urkräftige und der überkräftige dämonische Mensch, trinkt, um sich freier zu fühlen, um seinem Übermaß im Rausche gemäßer zu sein, indes Verlaine trinkt aus Angst, aus Reue, aus Melancholie, aus Schwäche. Allmählich gewinnt Rimbaud über den älteren Freund eine magische, eine dämonische Macht, er wird der »infernal époux«, der teuflische Gatte, der Verlaine unterjocht wie eine Frau, und eines Tages im Jahre 1872 brechen sie gemeinsam auf. Verlaine läßt Weib und Kind und beginnt mit dem Freund ein Landstraßendasein quer durch Belgien und England. Immer tiefer wird die Unterjochung: inwieweit unterirdische sexuelle Momente diese Freundschaft durchzogen haben, wird für immer Konjektur bleiben und geht auch die Welt schließlich nichts an; nach außen hin aber äußert sich immer herrischer die despotische Gewalt des zornigen Knaben über den weichen Mann. Wie einen Sträfling an der Kette hält er Verlaine in seinem eisernen Willen gefangen, das Erbe vom Vater her vertun diese sinnlosen Jahre fast ganz in Schenken und Kneipen bei Ale und Porter. Endlich rafft sich der Schwache auf: im stinkenden Nebel Londons überfällt Verlaine plötzlich Heimweh, Heimweh nach dem bürgerlichen warmen Haus, nach seiner Frau, der er durch seine Mutter vorschlagen läßt, auf einem Gut jetzt mit ihm wieder zu wohnen, nach seinem Kind, nach Ruhe und gesicherter Existenz. Wie als Schulbub aus jener Pension entflieht er seinem Kerkermeister aus London, läßt Rimbaud dort allein ohne einen Farthing zurück und eilt nach Brüssel, seine Mutter zu treffen, die ihm Botschaft von seiner Frau bringen soll.


Aber sie bringt schlechte Botschaft. Die Frau Verlaines denkt nicht mehr daran, mit dem Straßenstrotter und Kneipenbruder eine eheliche Gemeinschaft wieder aufzunehmen. Und da sieht sich der schwache verlassene Mensch wieder allein, er, der nicht zum Guten und nicht zum Bösen einen Schritt ohne Hilfe, ohne Freund, ohne Frauen tun kann. Sofort sendet er ein Telegramm an den Kameraden, an den geliebten Peiniger, an den Verwalter seines Willens und bestellt ihn nach Brüssel. Rimbaud kommt, Verlaine erwartet ihn in Gesellschaft seiner Mutter, angetrunken wie gewöhnlich, überreizt von Enttäuschung und Erregung. Und wie nun Rimbaud sich zwar bereit erklärt, zurückzufahren, aber zuvor Geld fordert, mit harter Faust auf den Tisch hämmert, Geld, Geld, Geld fordert, da packt Verlaine plötzlich eine trunkene Wut, er reißt den Revolver aus der Tasche und schießt zweimal auf Rimbaud, den er nur leicht verletzt. Rimbaud ergreift die Flucht auf die Straße, Verlaine, entsetzt über seine eigene Tat, eilt ihm nach, um sich zu entschuldigen, und erreicht ihn auf dem offenen Boulevard. Eine mißverständliche Handbewegung läßt Rimbaud glauben, er wolle noch einmal schießen, er schreit um Hilfe, Verlaine wird gepackt, und nun hilft nichts mehr gegen das unerbittliche belgische Gesetz. Paul Verlaine, der größte Dichter Frankreichs, wird verurteilt wegen »körperlicher Verletzung« zu zwei Jahren Gefängnis, abzubüßen in Mons, einer kleinen wallonischen Provinzstadt, vom Jahre 1873 bis 1875.


Im Gefängnis nun ist jene profunde Verwandlung Verlaines vor sich gegangen, die eine Genesung seiner ganzen innern Unruhe zu verbürgen schien. Vor allem wirkte die Entziehung der Spirituosen wohltätig. Das Gehirn, bisher gleichsam umwölkt von feuchtem Dampf und Dunst, erwacht aus seiner alkoholischen Dämmerung: das Ferne wird nah, das Ferne scheint schön. Die Kindheit taucht wieder auf, Träume von Unschuld, der ersten Jugend, Träume, die sich in der ungewohnten Stille zu kristallenen Gedichten formen.


Der einzige Mann, den er sehen darf, ist der Priester, und mit dem ungeheuren Hingebungsbedürfnis, mit jenem rührenden Zwang zum Anvertrauen, der Verlaine zum subjektivsten aller neuen Dichter macht, gibt der von allen Verlassene sich »le cœur plus veuf que toutes les veuves« der Wollust der Beichte hin. Endlich kann er, der Reuelüstling, das Übermaß seiner Schuld, seiner Anklage aus sich heraus abstoßen, endlich findet er wieder für sein verlorenes, verirrtes Leben eine Autorität. Verlaine, der verderbte Pariser, beichtet nach Jahren zum erstenmal, er empfängt die Kommunion und wird wieder gläubig: in der weißen Gefängniszelle von Mons tritt der »guote suendaere« ein in die Reihen der großen katholischen Dichter und rührt in manchen Augenblicken an die Gewalt der Mystiker. Eine neue Kraft der Konzentration ist in ihm entstanden: religiöse Ekstase überwindet zum erstenmal die neurotische Schwäche, Erotik vergeistigt sich zur Inbrunst, Leidenschaft zu Gottesliebe. Die Verse aus ›Sagesse‹, die hier entstehen, sowie die letzten ›Romances sans paroles‹, die er hier vollendet, bedeuten seine größten dichterischen Augenblicke, und man kann es verstehen, wenn er in späteren Versen dann dieses Gefängnis sehnsüchtig das »magische Schloß« nennt, »wo seine Seele gestaltet ward«, und immer wieder zurückklagt nach dieser Stunde der Reinheit und des Glaubens.


Unendliches schenkt ihm das Schicksal in diesen zwei Jahren, das belgische Gericht aber nicht einen Tag der verhängten Strafe. Am 16. Januar 1875 wird er entlassen. An der Tür erwartet ihn keiner seiner Freunde, nur die Mutter, die immer Getreue, seine alte Mutter.


Kaum in der Welt, kaum von dem harten Halt der vier Wände gelöst, kommt Verlaine wieder ins Schwanken. Seine Frau hat während seiner Gefängnishaft die Scheidung erzwungen, die Freunde in Paris haben ihn vergessen; allein zu leben fühlt er sich zu schwach. Die erste Bewegung ist unwillkürlich wieder dem Dämon seines Lebens zu, Jean Arthur Rimbaud, mit dem er trotz allem und allem in brieflichem Verkehr geblieben war. Er schreibt ihm, und anscheinend muß in dem Briefe auch ein schüchterner Bekehrungsversuch unterlaufen sein, denn Rimbaud, der damals gerade in Deutschland Sprachunterricht gibt, antwortet höhnisch, der »Loyola« möge ihn nur in Stuttgart besuchen. Verlaine reist hin und versucht die Bekehrung: leider in der Gaststube, einem wenig geeigneten Lokal für Proselyten und Propheten. Neophyt der eine, Atheist der andere, haben sie das eine noch gemein – die Leidenschaft für den Trunk, und so sprechen und trinken sie zusammen bis in die tiefe Nacht. Zeuge des Bekehrungsversuches ist niemand gewesen: man kennt nur sein tragisches Ende. Im Heimwandern geraten die beiden Trunkenen in Streit, und am Ufer des Neckar, im flutenden Mondlicht der Mitternacht schlagen die beiden – ein grandioser Augenblick der Literaturgeschichte! – schlagen die beiden größten Dichter Frankreichs mit Stöcken aufeinander los. Der Kampf dauerte nicht lang. Rimbaud, dieser athletische, kräftige Bursche, entledigt sich leicht des nervösen, in Trunkenheit schwankenden Verlaine. Ein Hieb über den Kopf wirft ihn hin, blutig und ohnmächtig bleibt er am Ufer liegen.


Es war ihre letzte Begegnung. Dann beginnt jene grandiose Odyssee Rimbauds2 durch die ganze Welt in unbekannte Erdteile, dieses Amoklaufen gegen das Schicksal, bis auch ihn dann nach zwanzig Jahren die Welle zerschmettert wieder zurück nach Frankreich wirft. Verlaine aber kehrt sofort nach Paris zurück, dann nach London als Sprachlehrer, versucht es mit dem Landleben, macht vergebliche Versuche wieder zurück in die bürgerliche Welt, aber sie mag den Verbrauchten nicht mehr. Sein Meisterwerk ›Sagesse‹ erscheint 1881 bei einem katholischen Verleger oder eigentlich Devotionalienhändler Palmé: kein Mensch kümmert sich darum, weder die Literatur noch die Gläubigen, und allmählich schwemmt der Alkohol die Frömmigkeit aus Verlaines Dichtung wieder weg. Die greise Mutter macht noch vergebliche Versuche, ihn zu retten; 1885 kauft sie ein Gut, um mit ihrem Sohn ein zurückgezogenes Leben zu beginnen, aber der Haltlose versäuft sich in den bäuerlichen Kabaretts und begeht dann in der Trunkenheit sein letztes, sein schmählichstes Delikt: er wird gewalttätig gegen seine fünfundsiebzigjährige Mutter und deshalb vom Tribunal zu Vouziers zu einem Monat »wegen Gewalttätigkeit und gefährlicher Drohung« verurteilt.


Als er diesmal aus dem Gefängnis kommt, erwartet ihn nicht mehr seine Mutter. Auch sie ist seiner müde geworden, auch sie. Ein Jahr später stirbt sie dahin.


Nun geht das Leben Paul Verlaines rasch abwärts. Mit der Mutter verliert er den letzten Halt. Er hat kein Heim, keine Stütze, der letzte Rest des Vermögens ist aufgezehrt – »et tout le reste est littérature«, der Rest ist Literatur.


Bald ist er eine typische Figur im Lateinischen Viertel, der alte Mann mit dem faunischen Gesicht, der den Hut quer über den nackten Schädel trägt und immer ein Rudel von Schmarotzern um sich hat. Sein eines Bein lahmt, stoßweise stapft er mit seinem Stock von Café zu Café, immer umringt von seinem Schwarm Huren, Literaten und Studenten. Mit jedem sitzt er am Tisch, jedem verkauft er für zwanzig Francs gern eine Widmung in seinem nächsten Buch, jeder wird für einen Absinth sein Freund. Nicht dem Priester mehr, sondern jedem Reporter, jedem Neugierigen beichtet er am Kaffeehaustisch bereitwillig sein Leben, weint und duselt reumütig vor sich hin, solange der Rausch noch milde ist, tobt und weint, klirrt mit dem Stock auf die Platte, sobald er tüchtig geladen hat. Und zwischendurch schreibt er Gedichte – ach, was für schlechte Gedichte! – ganz so, wie man gerade will, pornographische, katholische, homosexuelle und zart lyrische, läuft damit rasch hinüber zum Verleger Vanier am Quai, der ihm ein oder zwei silberne Hundertsousstücke als Vorschuß pro Gedicht gibt. Geht es ihm schlecht, wird es ihm zu kalt im Zimmer und drängt ihn zu eklig das Geschmeiß der Literaten und Huren, die an ihm schmarotzen, so flüchtet er ins Hospital, seine zweite Heimat. Dort kennen ihn die Ärzte, die Studenten und erlauben ihm aus einer gewissen Kameraderie, länger seinen Rheumatismus zu pflegen, als es nötig wäre. Im Spitalgewande, mit weißer Haube empfängt er dann majestätisch Besuche, schreibt Gedichte oder kleine Eitelkeiten für die Zeitung. Eines Tages wird ihm die Ruhe wieder zu dumm, die Zunge brennt ihm nach Alkohol, er stolpert wieder hinaus auf die Gasse und schleppt sich von Tisch zu Tisch. Vor Aschermittwoch kommt dann noch die Fastnachtskomödie; als Leconte de Lisle stirbt, veranstalteten junge Leute eine literarische Kundgebung und eine neue Königswahl. Mit ungeheurer Majorität wird Verlaine vom Quartier Latin zum »prince des poètes« gewählt. Halb als Königs-, halb als Narrenkrone trägt er stolz die neue Würde, denkt sogar einen Augenblick daran, sich der Akademie zu präsentieren, aber rechtzeitig winken die Freunde diesem unglücklichen Wahne ab. So bleibt er drüben am »Boul Mich« bei der Jugend, die ihn vergöttert und verhöhnt zugleich, immer kürzer werden die Aufenthalte im Café, immer länger die im Hospital. Und eines Tages, im Januar 1896, liegt sein kranker verbrauchter Leib im Sterben auf dem Bette einer zweifelhaften Frauensperson in der Rue Descartes, der berüchtigten Eugénie Krantz, die es durch Jahre verstand, ihm das letzte Geld herauszulocken und ihn dabei mit allen seinen Kameraden zu betrügen. Wie ein Strolch stirbt er auf einem fremden Hurenbett.


Und dann sind sie plötzlich mit einemmal wieder da, die alten Freunde von der Literatur, die so ängstlich ausbogen, wenn sie dem Trunkenen auf dem Boulevard begegneten, mit einemmal sind sie wieder da, die Würdigen, die settled poets, die Herren der Akademie, François Coppée und Maurice Barrès. Schöne Reden werden gehalten, schwungvolle Ansprachen getauscht, und unter Blumen und Kränzen und Worten verschwindet der arme Kadaver dieses schwachen, gequälten Menschenkindes, vergeht das Irdische des großen Dichters in der Gruft von Batignolles. La commedia è finita …


Von diesem seinem tragischen und durchaus nicht heroischen Leben hat Verlaine nichts verschwiegen. Er war als Dichter in Goethes Sinn eine durchaus kommunikative Natur, er liebte sich selbst zu erzählen in Versen und Prosa, und sein Beichtbedürfnis war unendlich. Es ging sogar oft über die Wahrheit hinaus bis zur Karikatur, zur Übertreibung und in den Exhibitionismus hinein; aber er mußte sich erzählen, sich erklären, sich entschuldigen, denn jede Seele, der es selbst an Willenskraft, an ethischer Autorität fehlt, muß sich notwendig in Anklagen, Bitten und Gebeten an ein Etwas außerhalb ihrer selbst wenden, an die Menschen, an Gott, an die Frauen, an das grüne Gift. Überall suchte der Haltlose Hilfe, überall hat der Dichter sich entschuldigt, sich erklärt, überall sich angeklagt. Seine ganzen Gedichte sind darum, gleichfalls in Goethes Sinn, Bruchstücke einer einzigen großen Konfession. In seinen Versen kann man Schritt um Schritt Entfaltung, Aufstieg, Krise und Abbruch seines Lebens wie an einer Blüte Blatt für Blatt verfolgen, und in gewissem Sinn sind – nochmals wie bei Goethe – seine Gedichte in ihrer ganzen Tiefe und Reinheit, in ihrer vollen Menschlichkeit nur erst reflektiert auf seine Biographie erkennbar.


Neben dieser eigentlichen Konfession in Versen, seinen Gedichten, hat Verlaine noch eine Reihe selbstbiographischer Schriften verfaßt, die der vorliegende Band3 zusammenstellt; Freundeshand (Cazals) ergänzt die letzten Tage. Sie haben im höheren künstlerischen Sinn nur den Wert einer Paraphrase, sind gewissermaßen bloß der Kanevas für seine Gedichte, von dessen Grund sich jene stärker abheben und farbiger leuchten. Ihre Haupttugend ist heitre Offenheit, die nichts verbirgt, nichts verschönert, die ohne Anmaßung in einer gewissen lockeren, schlenderigen Art von sich erzählt, ohne jemals zu versuchen, dies schlecht gelebte Leben als liebenswert und heldenhaft hinzustellen. Auch dies Bekenntnis, ganz wie das seiner Gedichte, zeigt ihn als den rührend schwachen Menschen, der ganz Spielball jedem Hauch des Schicksals war, jeder Stimmung eigen, jedem Gefühle hörig, aber darum auch ganz Dichter, ganz von sich gelöster Mensch, ganz Melodie.




1 Ich habe ihn selbst begangen in einer jugendlichen, heute 1921 vergriffenen Biographie Verlaines (Schuster & Löffler, 1904).


2 Von der in meiner Ausgabe Arthur Rimbaud (Insel-Verlag 1921) mehr erzählt ist.


3 der ›Gesammelten Werke‹, 1922

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