Tolstoi als religiöser und sozialer Denker


1937


Am 27. Juni 1883 schreibt Turgenjew, neben Tolstoi damals der bedeutendste lebende russische Dichter, einen erschütternden Brief nach Jasnaja Poljana an seinen Freund Tolstoi. Seit einigen Jahren hat er mit Befremdung bemerkt, daß Tolstoi, den er als den größten Künstler seiner Nation verehrt, sich von der Literatur abgewandt hat und sich einer »mystischen Ethik« nähert und in ihr zu verlieren droht, daß gerade er, der wie kein anderer die Natur und den Menschen darzustellen wußte, auf seinem Tisch nun nichts liegen hat als Bibel und theologische Traktate. Die Sorge bedrängt ihn, daß Tolstoi ebenso wie Gogol seine entscheidenden Schöpferjahre in religiösen Spekulationen, für die Welt sinnlos, verschwenden könnte. So greift er, sterbenskrank, zur Feder oder vielmehr zum Bleistift – denn seine todesmatten Hände können die Feder nicht mehr halten – und wendet sich an den größten Genius seines Heimatlandes mit einer erschütternden Beschwörung. Es sei die letzte und aufrichtige Bitte eines Sterbenden, schreibt er ihm. »Kehren Sie zur Literatur zurück! Dies ist Ihre eigentliche Gabe. Großer Dichter unseres russischen Landes, hören Sie meine Bitte!«


Diesen ergreifenden Ruf eines Sterbenden – der Brief bricht in der Mitte ab, und Turgenjew schreibt, ihm versage die Kraft – hat Tolstoi nicht sofort beantwortet, und als er endlich antworten will, ist es schon zu spät. Turgenjew ist gestorben, ohne seinen Wunsch erhört zu wissen. Aber wahrscheinlich wäre es Tolstoi schwer gefallen, dem Freunde zu antworten, denn nicht Eitelkeit, nicht spekulative Neugier haben ihn auf diese Bahn des Grübelns und Gottsuchens gedrängt, sondern er fühlt sich dahin gezogen, ohne seinen Willen und sogar gegen seinen Willen. Tolstoi, der wie kein anderer das Sinnliche dieser Welt gesehen und durchfühlt, Erdenmensch und erdgebunden, hatte vordem sein ganzes Leben lang niemals Neigung zur Metaphysik gezeigt. Er war nie Denker aus elementarem Denktrieb oder Denklust gewesen, das Sinnliche der Dinge, nicht ihr Sinn, hatte ihn vor allem in seiner epischen Kunst beschäftigt. Nicht freiwillig also hat er diese Wendung ins Spekulative unternommen, sondern er hat plötzlich einen Stoß empfangen, einen Stoß von irgendwoher aus dem Dunkel, der diesen festen, starken, gesunden Mann, der bisher aufrecht und selbstbewußt durch das Leben geschritten ist, mit einmal taumeln läßt und mit ängstlich verkrampften Händen nach einem Halt, nach einer Stütze suchen.


Dieser innere Schock, den Tolstoi etwa in seinem fünfzigsten Jahre erfährt, hat keinen Namen und eigentlich auch keine sichtbare Ursache. Alles, was man Voraussetzung eines glücklichen Lebens nennen kann, ist ihm gerade in diesem Zeitpunkt wunderbar erfüllt. Tolstoi ist gesund, körperlich sogar ungewöhnlich kräftig, er ist geistig frisch, künstlerisch unverbraucht. Er hat keine materiellen Sorgen als Herr eines großen Gutes, er hat Ansehen als Abkömmling einer der vornehmsten Adelsfamilien und noch mehr als der größte, über den ganzen Erdkreis berühmte Schriftsteller russischer Sprache. Sein Familienleben – er hat Frau und Kinder – ist völlig harmonisch, und keine äußere Ursache zu irgendeiner Unzufriedenheit mit dem Leben ist zu entdecken.


Und plötzlich kommt dieser Stoß aus dem Dunkel. Tolstoi spürt, daß ihm etwas Furchtbares zugestoßen ist. »Das Leben blieb stehen und wurde unheimlich.« Er tastet sich gleichsam selbst ab und fragt, was ihm geschehen ist, warum plötzlich diese Schwermut, diese Angstzustände ihn überfallen, warum ihn nichts mehr freut, nichts mehr erschüttert. Er spürt nur, daß die Arbeit ihn anwidert, die Frau ihm fremd wird, die Kinder gleichgültig. Ein Ekel vor dem Leben, taedium vitae, hat ihn überfallen, und er verschließt sein Jagdgewehr im Schrank, um es nicht in Verzweiflung gegen sich zu wenden. »Zum ersten Male hatte er damals klar erkannt« – so schildert er diesen Zustand in seinem Spiegelbild, dem Lewin der Anna Karenina, »daß jeden Menschen und auch ihn in Zukunft nichts erwartete als Leiden, Tod und ewiges Vergängnis, und da hatte er entschieden, daß er so nicht leben könnte, entweder mußte er eine Erklärung des Lebens finden oder er mußte sich erschießen.«


Diese innere Erschütterung, die Tolstoi zum Grübler, zum Denker, zum Lebenslehrer gemacht hat, mit Namen zu benennen, hat keinen Sinn. Wahrscheinlich war sie nur ein klimakterischer Zustand, Angst vor dem Alter, Angst vor dem Tod, eine neurasthenische Depression, die sich in einen vorübergehenden Lähmungszustand verwandelte. Aber es gehört zum Wesen des geistigen Menschen und vor allem des Künstlers, daß er seine inneren Krisen beobachtet und zu überwinden sucht. Zunächst beginnt nur eine namenlose Unruhe Tolstoi zu ergreifen. Er will wissen, was mit ihm geschehen ist und warum das Leben, das ihm bisher so sinnvoll, so reich, so üppig, so vielfältig erschienen, mit einmal schal und sinnlos geworden ist. Und wie in der herrlichen Novelle sein Iwan Iljitsch, da er zum erstenmal die Kralle des Todes im eigenen Leibe fühlt, sich erschreckt fragt: »Vielleicht habe ich nicht so gelebt, wie ich leben sollte«, beginnt Tolstoi jetzt, Tag für Tag, sich nach seinem Leben und nach dem Sinn des Lebens zu fragen – Wahrheitssucher und Philosoph nicht aus ursprünglicher Denklust und geistiger Neugierde, sondern aus Selbsterhaltungstrieb, aus Verzweiflung. Sein Denken ist wie bei Pascal Philosophie vor oder aus einem Abgrund, aus dem »gouffre«, Lebenserforschung aus Angst vor dem Tod, vor dem Nichts. Es gibt ein sonderbares Blatt Tolstois aus jenen Tagen, ein Blatt Papier, auf dem er sich die sechs »unbekannten Fragen« aufgeschrieben hat, die er zu beantworten hat.


a) Wozu leben?


b) Welche Ursache hat meine Existenz und die jedes andern?


c) Welchen Zweck hat mein Dasein und jedes andere?


d) Was bedeutet jene Spaltung in Gut und Böse, welche ich in mir fühle, und wozu ist sie da?


e) Wie soll ich leben?


f) Was ist der Tod – wie kann ich mich retten?


Diese Fragen zu beantworten, wie er, wie die andern »richtig« leben sollten, ist für die nächsten dreißig Jahre – mehr als das Dichterische – der Sinn und die Aufgabe Tolstois geworden.


Die erste Etappe dieses Suchens nach dem »Sinn des Lebens« ergibt sich durchaus logisch. Tolstoi, der trotz einzelnen nihilistischen Anwandlungen, die hauptsächlich in der Geschichtsphilosophie von ›Krieg und Frieden‹ zum Ausdruck gekommen waren, nie ein Skeptiker gewesen war, der im äußeren und inneren Sinne sorglos frei, genießerisch und arbeitsam seine Jahre verbracht hatte, wendet sich als plötzlicher Adept der Philosophie zunächst an die Autoritäten, um deren Meinung zu hören, wozu und wofür man lebt. Er beginnt philosophische Bücher zu lesen, kreuz und quer, Schopenhauer und Plato, Kant und Pascal, um sich den »Sinn des Lebens« von ihnen erklären zu lassen. Aber weder die Philosophen noch die Wissenschaften geben ihm Antwort. Tolstoi findet mit Unbehagen bei diesen Weisen, daß ihre Meinungen immer nur dort »genau und klar sind, wo sie sich nicht auf unmittelbare Fragen des Lebens beziehen«, daß sie sich aber jeder Antwort enthalten, sobald man von ihnen entscheidenden Rat und Hilfe will, und niemand unter ihnen das ihm einzig Wichtige ihm erläutern kann, »welche zeitliche, ursächliche und räumliche Bedeutung hat mein Leben?« Und so wendet er sich – zweite Phase – von den Philosophen ab und nun den Religionen zu, um sich bei ihnen Trost zu suchen. Das »Wissen« hat sich ihm verweigert, so sucht er einen »Glauben« und betet: »Schenke mir, Herr, einen Glauben, und laß mich den andern helfen, ihn zu finden.«


In jener Zeit innerer Verstörtheit ist also Tolstoi noch um keine überpersönliche Lehre bemüht, kein Initiator, kein Revolutionär im geistigen Sinne, er will nur sich selbst, dem unsicher gewordenen Individuum Leo Tolstoi, einen Weg, ein Ziel finden, sich selbst den seelischen Frieden zurückerobern. Er will sich nach seinem eigenen Wort nur »retten« vor dem inneren Nihilismus, einen Sinn finden für die Sinnlosigkeit des Daseins. Er denkt damals noch nicht im entferntesten daran, einen neuen Glauben zu proklamieren und will sich auch keineswegs von der altererbten Religion, vom orthodoxen Christentum entfernen. Im Gegenteil, er nähert sich, nachdem er seit seinem sechzehnten Lebensjahr aufgehört hat, zu beten, Kirchen zu besuchen und sich zum Abendmahl vorzubereiten, wieder der Kirche. Er bemüht sich, strenggläubig zu sein, er hält alle ihre Gebote und Vorschriften ein, er fastet, pilgert in die Klöster, wirft sich auf die Knie vor den Ikonen, diskutiert mit Bischöfen und Popen und Sektierern, und vor allem studiert er das Evangelium.


Und nun geschieht, was immer unruhigen Suchern der Wahrheit geschieht. Er findet, daß das Evangelium mit seinen Gesetzen und Geboten nicht mehr beachtet wird und, was die russisch-orthodoxe Kirche als Christi Lehre predigt, keineswegs mehr die ursprüngliche, die »wahre« Lehre Christi ist; damit entdeckt er sich auch eine erste Aufgabe: das Evangelium in seinem eigentlichen Sinne auszulegen und allen andern dieses Christentum »als eine neue Lebensauffassung, nicht als mystische Lehre« zu predigen. Aus dem Suchenden ist ein Bekennender, aus dem Bekennenden ein Prophet geworden, und vom Propheten bis zum Zeloten wird kein weiter Schritt mehr sein. Aus einer persönlichen Verzweiflung beginnt eine autoritäre Lehre sich zu formen, Reformation des ganzen geistigen und sittlichen Denkens und überdies eine neue Soziologie; die ursprüngliche geängstigte Frage eines einzelnen Menschen: »Wozu lebe ich und wie soll ich leben?« hat sich allmählich in ein Postulat an die ganze Menschheit »So sollt ihr leben!« verwandelt.


Aus tausendjähriger Erfahrung hat nun die Kirche eine besondere Witterung für die Gefahr, welche jede eigenmächtige Auslegung des Evangeliums bringt. Sie weiß, daß jeder, der einmal beginnt, sein Leben nach dem Buchstaben der Bibel zu formen, mit den Normen der offiziellen Kirche und den Geboten des Staates notwendigerweise in Konflikt geraten muß. Gleich das erste prinzipielle Buch Tolstois ›Meine Beichte‹ wird von der Zensur, das zweite ›Mein Glaube‹ vom heiligen Synod verboten, und so sehr die kirchliche Behörde aus Respekt vor dem großen Schriftsteller sich auch scheut, zu der äußersten Maßregel zu schreiten, muß sie schließlich doch über Tolstoi den Kirchenbann verhängen und ihn exkommunizieren. Denn, aufgewühlt bis in die Tiefen seines Wesens, hat Tolstoi begonnen, alle die Fundamente zu unterhöhlen, auf denen die Kirche, der Staat, die zeitlich gültige Ordnung ruhen; wie die Waldenser, die Albigenser, die Wiedertäufer, die Bauernprediger der Revolution, wie alle, die das Christentum zum Urchristentum wieder zurückführen und einzig nach Wort und Buchstaben der Bibel leben wollten, ist Tolstoi von nun ab unaufhaltsam auf dem Wege, der entschlossenste Staatsfeind, der leidenschaftlichste Anarchist und Antikollektivist zu werden, den die Neuzeit kennt. Gemäß seiner Kraft, seiner Entschlossenheit, seiner Zähigkeit und der Unbändigkeit seines Muts geht er einerseits weiter als die eifrigsten Reformatoren wie Luther und Calvin, andererseits im soziologischen Sinne weiter als die verwegensten Anarchisten, als Stirner und seine Schule. Bald hat die moderne Kultur, die zeitgenössische Gesellschaft mit all ihrem Recht und Unrecht im neunzehnten Jahrhundert keinen grimmigeren und keinen gefährlicheren Gegner gefunden als den größten Dichter ihrer Zeit und niemanden, der gesellschaftskritisch destruktiver gewirkt hat als er, der künstlerisch vordem der größte Gestalter seiner Epoche war.


Die Kirche und der Staat aber kennen die Gefahr solcher entschlossener Einzelgänger, sie wissen, daß auch die reinsten ideologischen Untersuchungen allmählich ins Praktische übergreifen und daß gerade die Ehrlichsten, die Begabtesten unter den Weltverbesserern die meiste Verwirrung auf Erden stiften. Sie wissen, daß das Urchristentum auf ein Gottesreich zielt und nicht auf ein irdisches, daß seine Gebote im staatlichen Sinn zum Teil subversive, den Staat negierende sind, weil der Gläubige Christus über Caesar, das Gottesreich über das irdische zu stellen verpflichtet ist und darum notwendigerweise mit den Pflichten des »Untertanen«, mit dem Gesetz und Gefüge des Staats in Konflikt geraten muß. Aber Tolstoi wird erst allmählich gewahr, in welches Dickicht von Problemen sein Suchen und Tasten ihn führen wird. Er meint zuerst nichts zu beginnen, als sein eigenes, privates Leben in Ordnung, seine Seele in Ruhe zu bringen, indem er sein individuelles Verhalten den Geboten des Evangeliums möglichst anzupassen sucht; er beabsichtigt nichts, als in Frieden mit Gott, in Frieden mit sich selbst zu leben. Aber unbewußt erweitert sich die ursprüngliche Frage: »Was war falsch in meinem Leben?« zur allgemeinen: »Was ist falsch in unser aller Leben?« und wird dadurch Kritik an der Zeit, Kritik an der Gegenwart. Er beginnt um sich zu blicken und entdeckt – was insbesondere im damaligen Rußland nicht schwer war zu entdecken – die Ungleichheit der sozialen Verhältnisse, den Kontrast zwischen arm und reich, zwischen Luxus und Elend, er sieht neben seinen privaten, persönlichen Irrtümern das allgemeine Unrecht seiner Standesgenossen und erkennt es als seine erste Pflicht, mit seinen ganzen Kräften diesem Unrecht zu steuern. Auch hier beginnt er ganz langsam; lange ehe er – die Bahn wird diesen unerbittlich harten, unheimlich scharfsichtigen Mann immer weiter führen – zum Anarchisten, zum elementaren Revolutionär sich steigert, wird er zunächst Philanthrop und Liberalist. Ein zufälliger Aufenthalt in Moskau 1881 bringt ihn zum erstenmal der sozialen Frage näher: in seinem Buch ›Was sollen wir tun?‹ schildert er in erschütternder Form diese erste Begegnung mit dem Massenelend der Großstadt. Selbstverständlich hatte er mit seinem hellen Auge auf seinen Reisen und Wanderungen tausendmal schon Armut vorher gesehen, aber es war nur die Einzelarmut gewesen der Dörfer und des Landes, nicht die konzentrierte, die proletarisierte Armut der Industriestädte, die Armut als Zeitprodukt, als gleichsam maschinelles Produkt einer Maschinenkultur: gemäß seiner Bibeleinstellung sucht Tolstoi zunächst durch Gaben und Spenden, durch Organisation der Wohltätigkeit dem Elend abzuhelfen, aber er erkennt bald die Vergeblichkeit jeder Einzelaktion und »daß Geld allein hier nicht helfen könne, die tragischen Existenzen dieser Leute zu verändern«; eine wirkliche Änderung kann nur durch eine totale Umstellung des ganzen gegenwärtigen gesellschaftlichen Systems erreicht werden. So schreibt er die feurigen Warnungsworte an die Wand der Zeit: »Zwischen uns, den Reichen und den Armen, steht eine Wand von falscher Erziehung, und bevor wir den Armen helfen können, müssen wir erst diese Wand niederreißen. Zwanghaft kam ich zum Schlusse, daß unser Reichtum die wahre Ursache des Elends der Armen ist.« Etwas ist falsch in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung, das ist ihm in innerster Seele schmerzlich klar geworden, und von dieser Stunde an hat Tolstoi ein einziges Ziel: die Menschen zu belehren, zu warnen, zu erziehen, daß sie das ungeheure Unrecht, das durch die Schichtung der Menschen in derart abgesonderte Klassen geschieht, aus eigenem Willen wieder gutzumachen sich bemühen.


Aus eigenem Willen und aus einer reinen moralischen Erkenntnis – hier beginnt der Tolstoianismus –, denn Tolstoi zielt nicht auf eine gewaltsame, sondern auf eine sittliche Revolution, welche ehebaldigst diese Nivellierung vollziehen und damit der Menschheit die andere, die blutige Rebellion ersparen soll. Eine Revolution vom Gewissen her, eine Revolution durch einen freiwilligen Verzicht der Reichen auf ihren Reichtum, der Unbeschäftigten auf ihre Untätigkeit, und die baldige Neuschaffung einer Arbeitsteilung in dem natürlichen, gottgewollten Sinne, daß keiner einen übermäßigen Anteil an der Arbeit des andern haben dürfe, und alle nur gleiche Bedürfnisse; Luxus ist von nun ab für ihn nur eine Giftblüte im Sumpfe des Reichtums und muß um der Gleichheit zwischen den Menschen willen ausgerottet werden. Aus dieser Erkenntnis eröffnet Tolstoi hundertmal erbitterter als Karl Marx und Proudhon seinen Kampf gegen das Eigentum. »Besitz ist heutzutage die Wurzel alles Bösen. Er ist die Ursache des Leidens derjenigen, die besitzen und derjenigen, die nicht besitzen. Und die Gefahr des Zusammenstoßes ist unvermeidlich zwischen denen, die Überfluß haben und denen, die in Armut leben.« Alles Böse beginnt mit dem Besitz, und solange der Staat das Prinzip des Besitzes noch anerkennt, handelt er im Sinne Tolstois ebenso unchristlich wie unsozial und macht sich – da Besitz für Tolstoi Schuld gegen andere darstellt – zum Mitschuldigen und Hauptschuldigen. »Staaten und Regierungen intrigieren und gehen in den Krieg um Eigentum, bald um die Ufer des Rheins, die Länder in Afrika, bald um China und den Balkan; die Bankleute, die Händler, die Fabrikanten und Landbesitzer arbeiten, planen und quälen sich und die andern nur um Besitz. Die Beamten kämpfen, betrügen, unterdrücken und leiden nur zugunsten des Besitzes. Unsere Gerichte, unsere Polizei verteidigen den Besitz. Unsere Strafkolonien und Gefängnisse, alle die Greuel unserer sogenannten Unterdrückung des Verbrechens existieren nur zum Schutze des Eigentums.«


Es gibt also im Sinne Tolstois nur einen einzigen mächtigen Hehler, der alle Ungerechtigkeit der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung schützt, und dieser Verbrecher ist der Staat. Nur um das Eigentum zu schützen, ist er nach seiner Meinung erfunden worden, nur zu diesem Zwecke hat er sein vielgliedriges System der Gewalt aufgerichtet mit Gesetzen, Staatsanwälten, Gefängnissen, Richtern, Polizisten, Armeen. Aber als das fürchterlichste und gottloseste Vergehen des Staates betrachtet Tolstoi das erst in unserem Jahrhundert erfundene, die allgemeine Wehrpflicht. Nichts bedeutet ihm seine solche Herausforderung des »christlichen Menschen«, die Satzung Christi, die Gebote des Evangeliums zu verraten, als daß er sich dem staatlichen Befehl fügt, ein Mordwerkzeug sich in die Hand zwingen läßt, um einen völlig unbekannten Menschen zu töten, um irgendeiner zufälligen Parole willen – Vaterland, Freiheit, Staat –, einer Parole, die, wie Tolstoi immer wieder eifert, nichts anderes verbirgt als den Willen, ein Eigentum zu schützen, das ihm nicht selber gehört, und die Idee des Eigentums zu der eines höheren und sittlichen Rechts gewaltsam zu erheben. Hunderte und Hunderte Seiten hat Tolstoi geschrieben, um den Widerspruch darzulegen, der darin liegt, daß bei dem heutigen Zustand einer sogenannten Kultur (in der er nur einen Deckmantel der inneren Entsittlichung erblickt) Menschen gezwungen werden können, auf staatlichen Befehl sich gegenseitig abzuschlachten – gegen Gottes Gebot und gegen das innere sittliche Gebot –, weil damit »ein Mensch gegen seinen Willen in eine Stellung gebracht wird, die seinem Bewußtsein widerstrebt«.


So kommt Tolstoi – aus dem Sucher des Evangeliums ist endgültig der radikale Anarchist geworden – zu dem Schluß, daß es Pflicht ist jedes sittlich denkenden Menschen, dem Staate Widerstand zu leisten, wenn er von ihm »Unchristliches«, also Militärpflicht fordert, und zwar Widerstand nicht durch Gewalt, sondern durch non-resistance, und außerdem, daß er sich freiwillig lossagen soll von jeder Tätigkeit, die auf Ausnützung und Ausbeutung fremder Arbeit beruht. Der ehrliche Mensch hat nicht patriotisch, sondern human zu denken und zu handeln; unablässig von neuem weist Tolstoi auf das heiligste Recht des Individuums hin, Dinge, obzwar sie gesetzlich erlaubt oder sogar anbefohlen sind, kraft seiner inneren Überzeugung abzulehnen, zum Refraktär zu werden gegen alle Satzungen des Staates, die er nicht als sittlich anerkennt. Darum rät er dem »christlichen Menschen«, möglichst sich allen Einrichtungen und Institutionen zu entziehen, keinen Gerichtsdienst zu leisten, keine Ämter anzunehmen, um seine Seele rein zu erhalten. Immer wieder ermutigt Tolstoi den einzelnen, sich nicht einschüchtern zu lassen durch das falsche, das antimoralische Prinzip der Gewalt, auch wenn sie sich Staatsgewalt nennt, denn der Staat in seiner gegenwärtigen Form ist an sich der Verteidiger, Anwalt und Büttel einer latenten Ungerechtigkeit; und selbst die anarchischen Verbrechen, welche einzelne begehen, scheinen Tolstoi nicht so sittlich verderblich, wie die scheinbar wohlgeordneten und human sich gebärdenden Institutionen dieses Erzfeinds. »Diebe, Räuber, Mörder, Betrüger sind ein Beispiel für das, was man nicht tun darf, und wecken in dem Menschen Abscheu vor dem Bösen. Die Menschen aber, die Taten des Diebstahls, des Raubes, des Mordens, der Züchtigung verüben und sie durch religiöse, wissenschaftliche, liberale Rechtfertigung beschönigen, die es als Grundbesitzer, Kaufleute, Fabrikanten tun, rufen die andern zur Nachahmung ihrer Taten auf und tun nicht bloß denen Böses, die darunter leiden, sondern Tausenden und Millionen Menschen, die sie entsittlichen, indem sie für diese Menschen den Unterschied zwischen gut und böse aufheben… ein einziges Todesurteil, das von Menschen vollzogen wird, die sich nicht unter Einwirkung der Leidenschaft befinden, von wohlhabenden, gebildeten Menschen mit Zustimmung und unter Teilnahme christlicher Seelenhirten, entsittlicht und vertiert die Menschen mehr als Hunderte und Tausende von Morden, die von arbeitenden, ungebildeten Menschen begangen werden und meist im Überschwang der Leidenschaft… Jeder Krieg, auch der kürzeste, mit allen den Krieg begleitenden Verlusten, Diebstählen, geduldeten Ausschweifungen, Räubereien, Morden, mit der vermeintlichen Rechtfertigung ihrer Notwendigkeit und Gerechtigkeit, mit der Lobpreisung und Verherrlichung der Kriegstaten, mit Gebeten für die Feldzeichen, für das Vaterland und mit der Heuchelei der Sorge für die Verwundeten, entsittlicht in einem Jahre die Menschen mehr als Millionen Räubereien, Brandstiftereien, Mordtaten, die im Lauf von Hunderten Jahren von einzelnen Menschen unter dem Einfluß der Leidenschaft begangen werden.« Der Staat also, die gegenwärtige Gesellschaftsordnung, ist der Hauptschuldige, der wahre Antichrist, die Personifikation des Bösen, und Tolstoi schleudert ihm sein erbittertstes »Ecrasez l’infâme« entgegen.


Wenn aber der Staat als Träger des menschlichen Zusammenlebens das schlechthin »Böse« ist, die sinnfälligste Form des Antichrist auf Erden, so ist es nach Tolstoi selbstverständliche Pflicht des »christlichen Menschen«, sich sowohl den Forderungen als den Verlockungen dieses Teufelsspuks zu entziehen. Rußland muß den freien Christen genau so indifferent sein wie Frankreich oder England, er darf nicht in Nationen, sondern nur vom Allmenschlichen aus denken. So wie aus der orthodoxen Kirche tritt darum Tolstoi seelisch aus dem Staatsverband aus, indem er erklärt: »Ich kann nicht Staaten oder Nationen anerkennen oder an Streitigkeiten zwischen ihnen teilnehmen, weder indem ich mich schriftlich dazu äußere noch indem ich einem einzelnen Staat diene. Ich kann an allen Dingen nicht teilhaben, die auf dem Unterschied zwischen Staaten fußen, wie Zollhäusern, Steuereintreibungen, Herstellung von Explosivstoffen und Waffen oder irgendwelchen Kriegsvorbereitungen.« Der »christliche Mensch« darf keinen Vorteil zu ziehen suchen aus staatlichen Institutionen, er darf nicht versuchen, unter dem Schutze des Staates reich zu werden oder dank seiner Protektion Karriere zu machen. Er darf keine Gerichte anrufen, keine Industrieprodukte benutzen, nichts in seinem Leben verwerten, was aus fremder Arbeit stammt. Er darf kein Eigentum besitzen, soll es vermeiden, Geld in die Hand zu nehmen, er soll keine Eisenbahn benutzen, keine Fahrräder, niemals teilnehmen an Wahlen oder öffentliche Ämter bekleiden. Er darf keinen Eid der Treue schwören, weder dem Zaren noch irgendeiner anderen Instanz, weil er mit seinem Gehorsam niemand anderem verpflichtet ist als Gott und dessen Wort, wie es in den Evangelien ausgesprochen ist, und er darf keinen anderen Richter anerkennen als sein eigenes Gewissen. Der »christliche Mensch« im Sinne Tolstois – man könnte eigentlich immer dafür »der reine Anarchist« setzen – hat den Staat zu negieren, er hat sittlich außerhalb dieser unsittlichen Institution zu leben; einzig dieses rein passive, rein negative, apathische, alles Leiden willig akzeptierende Verhalten unterscheidet ihn grundlegend vom politischen Revolutionär, der die Staatsordnung haßt, statt sie zu ignorieren.


Man übersehe also nicht den prinzipiellen Antagonismus zwischen Tolstoi und Lenin: ebenso streng und entschieden wie die gegenwärtige Gesellschaftsordnung selbst verurteilt der Tolstoianismus jede gewalttätige Auflehnung gegen diese Gesellschaftsordnung, weil die Revolution sich des Bösen – der Gewalt – gegen das Böse bedienen muß. Den Teufel darf man nicht durch Beelzebub bekämpfen. Gemäß ihrem obersten und innersten Grundsatz »Widerstrebet dem Übel nicht durch Gewalt« statuiert die Lehre Tolstois den passiven, den individualistischen Widerstand als die einzig erlaubte Kampfform gegenüber der aktiven, der revolutionären. Der »christliche Mensch« hat zu leiden und jedes Unrecht, das ihm vom Staate geschieht, hinzunehmen, ohne es darum jemals anzuerkennen. Nie darf er Gewalt brauchen, um die Gewalt zu bekämpfen, weil er durch seine eigene Gewalttätigkeit das Prinzip des Bösen und die Gewalt als erlaubt anerkennen würde: der Tolstoische Revolutionär schlägt niemals zu, er läßt sich schlagen, er strebt keine äußere Machtposition an, läßt sich aber von seiner inneren Position der Gewaltlosigkeit durch keine Gewalt abdrängen. Er hat die »Macht«, den »Staat« nicht zu erobern, sondern links liegen zu lassen als etwas Gleichgültiges, dem er nicht innerlich zugehört, und dessen »Untertan« zu werden niemand ihn gegen sein Gewissen zwingen kann.


Sehr deutlich zieht also Tolstoi den Trennungsstrich zwischen seiner religiösen, seiner urchristlichen Auflehnung gegen jede Autorität und dem professionellen, dem aktivistischen Klassenkampf. »Wenn wir Revolutionären begegnen, täuschen wir uns häufig in der Meinung, daß wir und sie einander berühren. Sie und auch wir rufen: kein Staat, kein Eigentum, keine Ungerechtigkeit, und vieles andere. Dennoch besteht da ein großer Unterschied: für den Christen gibt es keinen Staat – jene aber wollen den Staat vernichten. Für den Christen gibt es kein Eigentum – jene wollen es abschaffen. Für den Christen sind alle gleich – sie wollen die Ungleichheit zerstören. Die Revolutionäre kämpfen mit der Regierung von außen, das Christentum kämpft aber gar nicht, es zerstört die Fundamente des Staates von innen.« Wenn Tausende und immer mehr, jeder von seiner eigenen Person und Überzeugung aus, sich nicht unterwerfen und sich lieber nach Sibirien verschicken, mit Knuten schlagen und in Gefängnisse werfen lassen, so erreichen sie nach Tolstois Meinung durch ihre heroische Passivität mehr als die Revolutionäre durch solidarische Gewalt. Aus diesem Grunde wird die religiöse Revolution durch genaue Befolgung der non-résistance auf die Dauer für den Staat gefährlicher und zersetzender als Aufstände und Geheimbündeleien. Um die Weltordnung zu ändern, müssen die Menschen selbst geändert werden. Was also Tolstoi erträumt, ist die Revolution von innen, die Revolution nicht der Waffen, sondern des unerschütterlichen und zu jedem Leiden bereiten Gewissens: eine Revolution der Seelen und nicht der Fäuste.


Diese »Antistaatslehre« Tolstois – man denkt an Luthers Traktat von der »Freiheit eines Christenmenschen« – ist an sich von einer großartigen Einlinigkeit und Stoßkraft. Der Bruch innerhalb dieses Systems beginnt erst, sobald Tolstoi seine Selbstbestimmungsforderung in eine positive Staatslehre umzudrehen sucht. Schließlich lebt der Mensch nicht im luftleeren Raum und jenseits seines Jahrhunderts; wo Millionen Individuen zusammengeschichtet sind, Berufe und Begabungen sich im täglichen Verkehr überschneiden, muß – selbst wenn man den Verbrecher »Staat« ausschaltet –, ein gewisses Regulativ der Lebensordnung gefunden und damit dem bisher »Falschen« das »Richtige«, dem Bösen ein Gutes entgegengestellt werden. Und nun erweist es sich zum tausendsten Mal in der Geschichte der Menschheit, um wieviel schwerer im Soziologischen Aufbau ist als Kritik. Von dem Augenblick, wo Tolstoi von der Diagnose zur Therapie übergeht, wo er statt der Negierung und Verdammung der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung Vorschläge einer zukünftigen besseren Menschengemeinschaft macht, werden seine Begriffe vollständig nebulos, seine Gedanken konfus. Denn an Stelle einer stabilen, normierten Staatsordnung mit Autoritäten und Gesetzen und ihren ausübenden Organen empfiehlt Tolstoi – man staunt, dies von einem Menschenkenner zu hören, der wie kaum einer alle Tiefen der irdischen Seele durchforscht hat – als Kohäsionsmittel aller widerstreitenden Interessen ganz simpel »die« Liebe, »die« Brüderlichkeit, »den« Glauben, »das Leben in Christo«. Die ungeheure Kluft, die heute zwischen den besitzenden, den kulturell verwöhnten und den besitzlosen Klassen besteht, kann nach Tolstoi nur überbrückt werden, wenn sich freiwillig die besitzenden Klassen aller ihrer Vorrechte entäußern und nicht mehr wie bisher an das Leben so große Forderungen stellen. Der Reiche soll seinen Reichtum abgeben, der Intellektuelle seinen Hochmut preisgeben, der Künstler bei seinen Werken ausschließlich auf Verständlichkeit für die große Masse sehen, jeder nur von seiner eigenen Arbeit leben, ohne mehr davon zu empfangen, als er für diese primitive Form des Lebens benötigt. Die soziale Nivellierung soll – dies Tolstois Zentralgedanke – nicht von unten her erfolgen, wie es die Revolutionäre wollen, indem sie mit Gewalt den Besitzenden ihr Eigentum wegnehmen, sondern von oben herab durch eine spontane Konzession der Besitzenden. Daß bei einem solchen Niederstieg zu bäuerlichen und primitiven Lebensformen viele unserer Kulturwerte verlorengehen, ist Tolstoi vollkommen klar, und er hat versucht, in seiner Schrift über die Kunst diesen Verzicht uns leichter zu machen, indem er die literarische und musikalische Leistung unserer größten Künstler, selbst Shakespeares und Beethovens, entwertete, weil sie für das Volk nicht genug verständlich seien. Nichts erscheint ihm wichtiger, als den furchtbaren Zwiespalt zwischen arm und reich, der heute die Welt vergiftet, zu beseitigen. Denn sobald einmal durch gleichmäßige Bedürfnisse oder vielmehr gleichmäßige Bedürfnislosigkeit die Einheit unter den Menschen wieder hergestellt ist, können seiner Meinung nach die bösen Instinkte des Neides und des Hasses keine Angriffsobjekte mehr finden. Es wird überflüssig sein, besondere Autoritäten zu schaffen und Gewalt anzuwenden, um sie aufrecht zu erhalten. Das wirkliche Gottesreich auf Erden wird beginnen, sobald alle Überordnungen und Unterordnungen beseitigt sind und die Menschen wieder gelernt haben, eine einzige brüderliche Gemeinschaft zu bilden.


So verlockend waren diese Thesen in einem Land der äußersten sozialen Kontraste, so mächtig die Autorität Tolstois in seiner Zeit, daß sie in vielen Menschen den Wunsch erregten, diese tolstoianische Gesellschaftslehre praktisch zu verwirklichen. An einigen Orten versuchten Leute, die Probe aufs Exempel zu machen und gründeten Kolonien auf dem Prinzip des Nicht-Eigentums und der Nichtanwendung von Gewalt. Aber verhängnisvollerweise endeten diese Versuche als Enttäuschungen, und nicht einmal innerhalb seines eigenen Hauses, seiner eigenen Familie gelang es Tolstoi, die Grundprinzipien des Tolstoianismus durchzusetzen. Jahrelang bemühte er sich, sein privates Leben in Einklang mit seinen Theorien zu bringen; er verzichtete auf die geliebte Jagd, um keine Tiere zu töten, er vermied es möglichst, die Eisenbahn zu benützen, er überwies den Ertrag seiner Schriften seiner Familie oder wohltätigen Zwecken, er lehnte jede Fleischnahrung ab, weil sie die gewaltsame Tötung von lebenden Wesen voraussetzte. Er pflügte selbst auf dem Feld, ging in grobem Bauernrock und hämmerte sich mit eigener Hand die Sohlen an die Schuhe.


Aber er vermochte den Widerstand der Wirklichkeit gegen seine Ideen nicht zu besiegen, und – dies die tiefste Tragödie seines Lebens – gerade bei seinen nächsten Menschen, gerade innerhalb seiner Familie am wenigsten. Seine Frau entfremdete sich ihm, die Kinder begriffen nicht, warum gerade sie um der Theoreme ihres Vaters willen wie Stallmägde und Bauernsöhne auferzogen werden sollten, seine Sekretäre und Übersetzer schlugen sich wie trunkene Kutscher um das »Eigentum« an Tolstois Schriften herum; nicht ein einziger in seiner Nähe nahm das Leben dieses herrlichen Heiden als ein wahrhaft christliches an, und schließlich wurde ihm der Kontrast zwischen seiner eigenen Überzeugung und dem Gegenwillen seiner Umgebung so schmerzlich, daß er aus dem eigenen Hause flüchtete und, einsam und in seinen heiligsten Absichten enttäuscht, in einer kleinen Bahnstation in einem fremden Bette starb. Gerade um der Unbeugsamkeit seiner Überzeugung, der Konzessionslosigkeit seiner Ideen willen, mußte sein Versuch, mit einem Ruck die Weltordnung zu verändern, scheitern – wie immer der ideale Gedanke innerhalb der irdischen Welt.


Immerhin: es bliebe billige Nachsprecherei, hochmütig festzustellen, daß Tolstois soziales und religiöses Gedankensystem in unserer realen Welt als Ganzes ebensowenig zu verwirklichen war wie die Staatsutopie Platos und die Gesellschaftsordnung Jean Jacques Rousseaus. Und es ist ebenso spottleicht zu entdecken, daß seine theoretischen Schriften nur an einzelnen Stellen den Glanz und die Überzeugungskraft seiner dichterischen ausstrahlen; es genügt, ein oder zwei seiner Volkserzählungen, in denen er die gleichen Ideen abwandelt, mit dem eifernden Schreiton seiner theoretischen Schriften zu vergleichen, um den Unterschied zu fühlen. In den Volkserzählungen, deren schönste in der Bibel stehen könnten neben den Legenden von Hiob und Ruth, ist er knapp, bildnerisch, erfindungsreich, während er in seiner Philosophie leicht ins Weitschweifige, Emphatische gerät und überdies manchmal peinlich wirkt durch die diktatorische Anmaßung, als hätte er, Leo Tolstoi, seit 1880 Jahren als erster das Evangelium »richtig« gelesen und niemand anderer vor ihm die Probleme der menschlichen Gemeinschaft kritisch durchgedacht. Oft ist man geneigt, der Beschwörung Turgenjews Recht zu geben, der Tolstoi von den weitschweifigen Traktaten ›Was sollen wir tun?‹, ›Das Reich Gottes ist in uns‹ und den unfruchtbaren Bibelexegesen zurückweisen wollte in das Reich dichterischer Gestaltung, wo er nicht bloß einer unter vielen Grüblern, sondern der unbestrittene Meister, der erhabenste Gestalter seines Volks, ja seines Jahrhunderts war. Dennoch wäre es ungerecht, die gewaltigen, ja sogar welthistorischen Wirkungen zu verkennen, welche die Welt Tolstois Lebenslehren verdankt, und man übertreibt keineswegs mit der Feststellung, daß von keinem denkerischen Werk seiner Zeitgenossen, nicht von Karl Marx und nicht von Nietzsche, ähnliche Erschütterungen für Millionen und Millionen Menschen ausgegangen sind – freilich in die verschiedensten Richtungen. Wie aus dem Herzen des Paradieses die Ströme in die gerade entgegengesetzten Richtungen fließen, so haben Tolstois Gedanken merkwürdigerweise gerade die feindlichsten geistigen Bewegungen des zwanzigsten Jahrhunderts befruchtet. Nichts wäre wahrscheinlich ihm ferner gewesen als der systematische Bolschewismus, der die Zerschmetterung des Gegners als erste Forderung setzte (während er Ausgleich durch Liebe forderte), der dem Staat (dem Beelzebub Tolstois) eine nie geahnte Autorität über den einzelnen verlieh und mit seiner Zentralisierung aller Gewalt, mit seinem Atheismus, seiner Kollektivierung und Industrialisierung, seinem Willen, die Massen aus ihrer Dumpfheit emporzuheben, just das Gegenteil statuierte von seinem »So sollt ihr leben!« Trotzdem hat keiner der russischen Revolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts Lenin und Trotzki so sehr die Wege geebnet wie dieser gräfliche Antirevolutionär, der als erster dem Zaren Trotz geboten und, vom Bannstrahl des heiligen Synods verfolgt, die Kirche verlassen hatte, der jede bestehende Autorität mit Axtschlägen zertrümmerte und den sozialen Ausgleich als Vorbedingung einer neuen besseren Weltordnung setzte; von der Zensur verboten, waren seine Werke in Abschriften in Hunderttausende Hände gelangt und hatten die Forderung der Aufhebung des Eigentums bereits zu einer Zeit zum Gemeingut gemacht, da die grimmigsten unter den Sozialrevolutionären sich noch bescheiden mit liberalistischen Verbesserungen und Reformen begnügen wollten. Kein Buch und kein Mensch hat so sehr dazu beigetragen, Rußland radikal zu machen, wie Tolstois Radikalismus des Denkens, keiner hat so sehr seine Landsleute ermutigt, vor keiner Verwegenheit zurückzuschrecken; trotz aller inneren Gegensätzlichkeit gebührt ihm ein Denkmal auf dem Roten Platz. Denn wie Rousseau Ahnherr der französischen, ist Tolstoi (wahrscheinlich ebenso sehr gegen seinen Willen wie jener andere Erzindividualist) der »Prodromos«, der wahre Ahnherr der russischen, der Weltrevolution gewesen.


Aber sonderbarerweise hat gleichzeitig seine Lehre auf andere Millionen Menschen im genauen Gegensinne gewirkt. Während die Russen aus Tolstois Lehre das Radikale übernehmen, übernimmt am andern Weltende, in Indien, Gandhi, der Nichtchrist, daraus das Apostolat des Urchristentums, die These der non-resistance und organisiert als erster mit seinen dreihundert Millionen Menschen die Technik des passiven Widerstands. Er gebraucht in diesem Kampf auch all die andern unblutigen Waffen, die Tolstoi als die einzig erlaubten anempfohlen hat: die Abkehr von der Industrie, die Heimarbeit, die Erringung innerer und politischer Unabhängigkeit durch äußerste Einschränkung der äußeren Bedürfnisse. Hunderte von Millionen also – jene in der aktiven Revolution Rußlands und jene in der passiven Indiens – haben Gedanken dieses reaktionären Revolutionärs oder revoltierenden Reaktionärs sich zu eigen gemacht und verwirklicht – wenn auch in einem Sinn, den ihr Schöpfer verworfen oder verleugnet hätte.


Aber Ideen haben in sich selbst keine Richtung. Erst wenn die Zeit sie ergreift, werden sie von ihr fortgerissen wie das Segel vom Wind. Ideen sind in sich selbst nur motorische Kräfte, Bewegung erschaffend, ohne zu wissen, zu welchem Ziele diese Bewegung, die Erregung führt. Es bleibt gleichgültig, wie viel von ihnen anfechtbar sein mag – da zweifellos Tolstois Ideen Zeitgeschichte, Weltgeschichte in weitesten Dimensionen gezeitigt haben, gehören seine theoretischen Schriften mit allen ihren Widersprüchen ein für allemal zum wichtigsten geistigen und sozialen Bestand unserer Zeit, und vieles vermögen sie heute noch dem einzelnen zu geben. Wer für den Pazifismus kämpft und für friedliche Verständigung zwischen den Menschen, wird kaum ein anderes so ergiebiges und systematisches Arsenal mit Waffen gegen den Krieg finden. Wer gegen die heute übliche Vergottung des Staates als der angeblich einzig gültigen Zielrichtung unseres Denkens und Strebens sich innerlich auflehnt und diesen Götzendienst der völligen Selbstaufopferung mitzumachen sich weigert, wird sich wunderbar bestärkt finden von diesem »fuoruscito« aller Vaterländerei. Jeder Staatsmann, jeder Soziologe wird in Tolstois gründlicher Kritik unseres Zeitalters prophetisch vorausschauende Erkenntnisse entdecken, jeder Künstler sich angefeuert fühlen von dem vorbildlichen Wirken dieses mächtigen Dichters, der sich die Seele zerquälte, um für alle zu denken und gegen das Unrecht auf Erden mit der Kraft seines Wortes zu streiten. Immer ist es Wollust, einen überragenden Künstler auch als moralisches Beispiel empfinden zu können, als einen Mann, der, statt kraft seines eigenen Ruhmes zu herrschen, sich zum Diener der Humanität macht und in seinem Ringen um das wahre Ethos von allen Autoritäten der Erde nur einer einzigen sich unterwirft: seinem eigenen, unbestechlichen Gewissen.

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