Romain Rolland


1926


Wenn ich den verehrten Namen Romain Rollands heute vor Ihnen anrufe, so geschieht das nicht in dem Sinne, um sein gedrucktes Buchwerk vor Ihnen zu rühmen, sondern ich möchte, daß wenigstens ein Schimmer oder ein Schatten seiner lebendigen Lebensgestalt bei uns hier eintrete und für eine Stunde in diesem Raum mit uns sei. Denn Gestalt – darauf kommt es uns ja heute an! Bücher, gedruckte Bücher haben wir genug; unsere Welt ist erstickt, erdrückt von Papier. Von jeder Plakatsäule, von jedem Zeitungs- und Buchladen treten Namen uns entgegen. Jeder will gehört sein, jeder fordert Aufmerksamkeit, jeder ist eine Frage an uns. Aber eine Zeit wie diese, eine unruhige, verwirrte Zeit will Antwort, sie will Antwort von einem Menschen, sie will bestärkt sein, und dazu braucht sie Gestalt. Vergessen wir es doch nicht: dieser Krieg hat nicht nur Städte zerstört und Landschaften verwüstet, sondern er hat auch in den Menschen selbst, in jedem von uns Gläubigkeit zerstört. Wie aus einem Gefäß, das zerbrochen wird, der Inhalt ausrinnt, so ist mit den festen Formen des Staates, mit den geistigen Ideologien der alten Zeit auch das Innere, das Gläubige in uns weggeschwunden, und jeder von uns muß trachten, aus dieser Gläubigkeit einen neuen Lebensglauben an eine neue Zeit in sich zu erneuern. Sie sehen ja an tausend Beispielen, wie die Menschen zu diesem Behufe immer auf Gestalt hindrängen. Sie sehen: die einen gehen zu Rudolf Steiner, die anderen gehen zum Grafen Keyserling und die dritten gehen zu Freud, die vierten – ich weiß nicht zu welchen Namen und zu welchen Menschen. Aber immer fühlen sie eines, nämlich, daß die wahre Bestärkung nicht von einem Buch kommen kann, sondern nur von einem Menschen, von einem Lebensbeispiel.


Ein solches Lebensbeispiel, eine solche Bestärkung ist vielleicht von keinem Menschen unserer Tage in so weiter Wirkung ausgegangen wie von Romain Rolland. Denn so wie wir hier in diesem Räume im Zeichen seines Namens versammelt sind, so sind in Frankreich, in England, überall bis ganz weit hinüber nach Asien, nach Japan Hunderttausende und Millionen Menschen, die von dem Atmosphärischen seines Wesens, von dem Gestalthaften im Innersten berührt worden sind, und zwar ist diese Wirkung, so einheitlich sie ist, eine so bestärkende sie ist, doch eine unendlich vielfache. Aus der Art seines Wesens, aus einem Buch, das jetzt die Zeugnisse seiner Freunde über Rolland sammelt, geht es bei den Franzosen hervor, deren manche erzählen, wie sie zum erstenmal den »Jean Christophe« in die Hand bekamen und ihre Jugend damit plötzlich einen neuen Elan, einen Sinn, eine Leidenschaft, eine Spannung erhielt. Dann sind wieder ganz andere Menschen, die überhaupt nie den »Jean Christophe« gelesen hatten, die nur im Kriege in einem gewissen Augenblicke in sich eine innere Stimme spürten – sie war noch ganz unterdrückt und stumm –, es sei nicht alles so, wie es die Zeitungen, die Menschen sagen und sie hätten vielleicht eine kleine Unsicherheit in allen ihren Äußerungen. Da erschienen diese ersten Aufsätze Rollands im Kriege, die Aufsätze eines Menschen, von dem sie gar nichts wußten, und plötzlich spürten sie sich bestärkt, in ihrem inneren Gefühl befreit. Wieder andere Menschen hatten als Studenten auf der Sorbonne den Professor der Musikgeschichte Romain Rolland gehört und erzählten ihr Leben lang, wie stark dieser Musikprofessor auf ihre innere Spannung, auf ihr jugendliches unsicheres Gefühl gewirkt, wie er ihnen überhaupt erst die Idee der Kunst beigebracht habe. Und so gehen wieder neue Wirkungen von seinen Biographien aus. Dann gibt es Menschen, die sich vielleicht in einer Stunde der Unruhe, der Unsicherheit, der Seelennot an Rolland gewandt und einen Brief von ihm bekommen haben. Wieder war genau die gleiche Wirkung da, die im letzten darin besteht, daß die Gläubigkeit – nennen wir es Idealismus –, die Idealität durch diesen Menschen Romain Rolland in ihnen gesteigert wurde.


Nun wäre ich aber in Verlegenheit, wenn ich sagen wollte, worin eigentlich diese Gläubigkeit oder dieser Glaube Rollands besteht. Es gibt keinen Rollandimus, es gibt nicht eine Formel dafür, die man niederschreiben und aussagen kann. Es ist bei Rolland mehr als vielleicht bei anderen Dichtern ein merkwürdiger Einklang von Werkwirkung und Gestaltwirkung. Man spürt, daß eines sich in das andere einordnet, man spürt gerade aus dieser Zweiheit den einheitlichen Schlag des in sich selber klaren und seines Zieles sicheren Menschen. Deshalb möchte ich zu Ihnen vielmehr als von Büchern – denn Bücher können Sie ja immer lesen – von seiner Gestalt sprechen und von der Gestaltung seiner selbst, wie Nietzsche sagt, daß man wird, was man ist. Ich möchte Ihnen den Lebenslauf Rollands darlegen, die Summe seiner Kräfte, geordnet aus Werk und Leben, und dies in dem Sinne Schoppenhauers, der einmal das Wort gesagt hat: »Das Höchste, was der Mensch erreichen kann, ist ein heroischer Lebenslauf.« In diesem Sinne des Heroismus möchte ich vor Ihnen das Wesentlichste aus dem Leben Rollands darstellen, nicht ins einzelne verfallend, sondern möglichst nur im Sinne der Prädestination, der Vorbedeutung für den Menschen, der dann selbst ein Menschenhelfender und Weitwirkender geworden ist.


Daß Romain Rolland vor 60 Jahren geboren wurde, sagt die Stunde. Es geschah in Clamecy, einem kleinen französischen Dorf. Er machte die normale Schule durch. Aber eine Neigung, eine persönlichste, deutet schon früh auf den verbindenden, auf den umfassenden, auf den europäischen Menschen hin, die Neigung zur Musik. Wer aber musikalisch in der innersten Seele seines Lebens angelegt ist – nicht in der Technik, sondern eben in der innersten Seele –, der hat ein tiefverborgenes und immer aus sich wieder neu herauswirkendes Verlangen nach Harmonie. Romain Rolland ist ein solcher im tiefsten musikalischer Mensch. Die Musik hat ihn zuerst gelehrt, alle Völker als eine Einheit des Gefühls zu betrachten. Aber er faßt die Musik nicht auf nur mit dem Gefühl, sondern auch mit der Intelligenz, mit dem Fleiß, mit der Leidenschaft. Sie wird sein Studium. Rolland studiert Musikgeschichte und wird dann mit 22 Jahren nach Rom gesandt, um dort dank eines Stipendiums sich zu vervollkommnen. In Rom beginnt nun jene Weiterentfaltung des jungen Franzosen ins Europäische. Er lernt an den großen Denkmälern, an Leonardo, an Michelangelo die Größe Italiens kennen. Er sieht Italien in seiner größten Form in der vergangenen Kunst und in der Schönheit der Landschaft, in der Musik. Und schon liebt er, der Franzose, nun eine zweite Welt. Aber zu dem großen Dreiklang, den eigentlich unsere europäische Kultur darstellt, fehlt noch die dritte Stimme, fehlt Deutschland. Jedoch das Schicksal sendet denen, die es auserlesen hat, immer seine Boten entgegen, und so entsteht das Merkwürdige, daß Rolland, der Deutschland nie betreten hatte, sich gerade in Italien zu Deutschland findet. Er lernt dort eine siebzigjährige Frau kennen – Sie kennen ihren Namen –: Malvida v. Meysenbug, eine der letzten Goethedeutschen, eine jener Deutschen, für die nicht 1870, sondern 1832, der Tod Goethes, und vielleicht wieder 1848 die größten Erlebnisse waren, Malvida v. Meysenbug, die aufgewachsen war in den höchsten Regionen des Geistes durch die Freundschaft mit Richard Wagner, mit Nietzsche, mit Herzen, mit Mazzini. Diese ganz alte Frau war die letzte Siegelbewahrerin und Vertraute der großen Ideen der letzten beiden Menschen, die über Deutschland hinaus weltwirkende Geister gewesen waren, der großen Ideen Wagners und Friedrich Nietzsches. Mit dieser alten Frau verbindet den 22jährigen Rolland eine Freundschaft, wie sie sonst eigentlich nur in Büchern vorkommt, eine rührende, zarte, vertrauende Freundschaft. Dies also ist in ihm vorgebildet: die Nationen zu sehen nicht von unten her, von der Atmosphäre der Touristik, von den kleinen Hotels, von Widrigkeiten und Begegnungen des Zufalls, sondern von oben her, aus der Vision der großen Menschen, der entscheidenden und schöpferischen Naturen. Er hat gelernt, heroisch zu sehen, jede Nation in ihrer Elite. Dieser Glaube ist ihm geblieben, unveränderlich geblieben, der Glaube, daß für jede Nation immer nur ihre Höchstleistung gegenüber der Welt oder sagen wir gegenüber Gott einzuschätzen und einzusetzen ist, nicht die zufällige Emanation der Politik und der Stunde. Noch ist er dann für einen Abend in Bayreuth, in des kurz vorher gestorbenen Richard Wagners Loge. Er steht mit Malvida und Cosima Wagner an Richard Wagners Grab, er hört den Parsifal, und direkt aus dieser heroischen Atmosphäre kommt dann der junge Student wieder nach Frankreich zurück. Er kommt nach Frankreich zurück und sein erster Eindruck ist ein Erschrecken. Er sieht den Betrieb, das, was er »la foire sur la place«, die Geschäftigkeit, nennt, die Geschäftigkeit an den Universitäten, bei den Künstlern. Er sieht dahinter in der ganzen Jugend eine merkwürdige Atmosphäre der Gedrücktheit, deren Ursache er sofort erkennt. Es ist noch immer der Nachklang der Niederlage. Denn jede Niederlage hat ja zunächst die Macht, ein Volk irgendwie in seiner Gläubigkeit ich deutete es schon früher an – irre zu machen. Die jungen Menschen haben die größte Kraftanstrengung von Wochen, Monaten und Jahren eingesetzt, um ein Ziel zu erreichen. Sie haben ihr Bestes hergegeben, und es hat gar nichts genützt. Sie sind von irgendeiner höheren Macht zerschlagen und zerschmettert worden, und das erzeugt natürlich einen Choc. Es heißt: wozu waren wir tapfer, wozu haben wir uns bemüht, wozu haben wir aus unserer Seele das Beste und Letzte hergegeben? Das erschafft jene Atmosphäre der Gedrücktheit und Unsicherheit. Dazu kommt, daß sich das in der Literatur merkwürdig widerspiegelt. Wer sind damals die Menschen Frankreichs? Emile Zola, Anatole France, Renan! Ich will gewiß hier nicht vergleichen und schon gar nicht versuchen, ein Wort gegen diese großen und wirklich schöpferischen Künstler zu sprechen; ich möchte nur in dem Sinne der Zeit sagen, daß eine Kunst wie die des Zola, des Maupassant, der grausigsten Wirklichkeit, der Darstellung der Realität in ihrer ganzen Härte eine solche Jugend nicht begreifen kann, ebenso wenig der weise lächelnde, ein wenig ironische, skeptische Anatole France oder der kühl resignierte, klassische Renan. Die Jugend brauchte damals und das spürte ebenso Maurice Barres irgend etwas, einen Impetus. Barres wirft es hinaus und sagt: Revanche, ein neuer Krieg, Nationalgefühl, neue Kraft! Rolland aber möchte die Kraft von innen her; er möchte die Niederlage, die Gedrücktheit in den Seelen anders überwinden; er möchte die Leute durch die Kunst erheben und anfeuern. Schon ist er eigentlich dazu bereit, da tritt in sein Leben ein merkwürdiges Geschehnis, das für sein Schicksal entscheidend geworden ist. Er hatte nämlich eben, wie ich sagte, die Absicht gehabt, durch die Kunst das Volk, die Jugend zu fassen und zu erheben. Da erscheint ein Buch von Tolstoi, jene Schrift, in der Tolstoi sagt, daß Beethoven ein Schädling sei, der zur Sinnlichkeit verführe, daß Shakespeare ein schlechter Dichter sei, weil er das Volk nicht zum Mitleid erziehe. Also gerade Tolstoi, in dem Rolland den reinsten und edelsten Menschen der Zeit verehrt, verbietet ihm die Kunst. In diesem innersten Zwiespalt entschließt sich Rolland nun zu einer vollkommen aussichtslosen Handlung. Der Student setzt sich nämlich eines Abends an seinen Tisch und schreibt in seiner Verzweiflung und Seelennot an Tolstoi einen Brief, er solle ihm helfen, er solle ihm einen Rat geben, er solle ihm erklären, wie er sich aus dieser Situation retten könne. Rolland nimmt den Brief, wirft ihn in den Postkasten und denkt an keine Antwort. Es vergehen auch Wochen, und es kommt keine Antwort. Aber einmal, als der Student, der junge Mensch abends in sein Zimmer tritt, liegt auf dem Tisch ein Brief oder vielmehr ein kleines Paket mit einem Brief von 38 Seiten in französischer Sprache, den Tolstoi ihm geschrieben hat und der mit den Worten »Cher frère«, »Teurer Bruder«, beginnt. Dieser Brief war für Rolland eigentlich die Lebensentscheidung. Ich meine das nicht im Sinne dessen, was in dem Brief stand, der ja jetzt auch veröffentlicht worden ist – was darin stand, war eigentlich gleichgültig –, sondern im Sinne der Tatsache, daß ein fremder Mensch, der beschäftigtste Mensch seiner Zeit zwei Tage aus seinem Leben nahm, um irgendeinem ganz wildfremden Menschen, der in Seelennot war, zu helfen. Diese Tatsache hat Rolland bis ins Tiefste erschüttert. Denn fassen wir uns selbst ans Herz: wer von uns hat das getan, wer von uns hat zwei Tage seines Lebens einfach aus dem Kalender herausgerissen für irgendeinen tausend Meilen entfernten Menschen, der einem einen Brief geschrieben? Und dieser Mensch, der das tut, ist zugleich der berühmteste Mann seiner Zeit, der Mann, dem jede Zeile mit Gold aufgewogen wird, der eigentlich das herrische und pathetische Recht gehabt hätte, zu sagen: »Ich habe keine Zeit, meine Zeit ist zu kostbar.« Das ist die Erschütterung, die Rolland erfährt, daß er sieht, daß gerade dem größten Dichter, dem großen Dichter durch die Macht, die ihm von den Menschen zurückgegeben wird, auch eine Verantwortung aufgeladen ist, eine Verantwortung, die er um den Preis seiner äußersten Energie und Selbstverschwendung erfüllen muß, die Verantwortung, daß ein großer Dichter irgend etwas verrät, wenn er nicht zugleich immer absolut menschlich handelt, daß er ein Ideal, eine Idee, die in Millionen von Menschen besteht – die Idee, daß der wissendste Mensch auch der hilfreichste und der gütigste sein muß –, durch Egoismus zerstört. Rolland weiß von diesem Augenblick an, daß, wenn er wahrhaft Dichter und Künstler sein will, er es nur in dem Sinne eines helfenden Menschen sein kann, daß er seine ganze Existenz aufbieten muß und sie in ein Apostolat der Güte und des Helfens, der Bereitschaft verwandeln muß. Von diesem Tage an ist eigentlich jener Rolland entstanden, den wir als den großen Helfenden und als den Tröster verehren. Ich will nicht mystische Worte von irgendeiner Transsubstantiation machen, ich will nicht sprechen von einem geheimnisvollen Übergang der Seele Tolstois in die seinige. Aber aus diesem einen Brief der Tröstung sind gewiß Tausende und Tausende Briefe Rollands geworden, und so hat sich atmosphärisch, ganz weit weg von den gedruckten Büchern, die von Tolstoi und von Rolland erschienen sind, etwas in der Welt verbreitet, was Tausenden von Menschen eine Hilfe und eine Rettung geworden ist.


Mit dieser erneuten Kraft tritt Rolland wieder an sein Werk. Er meint nun, seine Aufgabe zu erkennen, die Aufgabe, zu helfen, und er will der Jugend, vor allem der französischen, eine neue Kraft geben. Wie das anfangen? Rolland denkt verzeihen Sie den Irrtum; er ist 25 Jahre alt – an das Theater. Er meint: da in Paris gehen jeden Abend 20.000 oder 30.000 Menschen in die Theater, um irgend etwas zu sehen und sich zu amüsieren, um etwas sich vorspielen zu lassen; hier muß man sie überfallen, hier muß man diese Menschen, die ja gleichgültig und indifferent, nur um irgend etwas zu sehen und zu hören, ins Theater kommen, heimtückisch anfassen und sie mit sich reißen in eine Idee des Höheren hinein, in eine Leidenschaft. Er möchte für das Volk, für die ganze Nation ein Theater der Energie und der Kraft aufbauen. Was Rolland damals wollte, diese Idee drückt sich am besten aus durch ein Vergangenes. Er möchte ein Theater schaffen, wie es Schiller gegeben hat. Ich weiß: über Schiller sind die Meinungen geteilt. Die Psychologie seiner Stücke scheint ziemlich fadenscheinig und veraltet zu sein; man kennt die Defekte, die Einzelheiten, man spottet manchmal sogar darüber. Aber etwas ist in dem Schillerschen Theater gewesen, was seitdem nie mehr in der Nation wiedergekommen ist, nämlich eine Befeuerung der Lebensenergie. Es ist irgendeine Idealität, eine Kraft von dem Schillerschen Theater ausgeströmt auf die Tausende von jungen Leuten, die zuhörten, eine Begeisterung, nicht für den prominenten Schauspieler, nicht für den Regisseur, der die Kulissen anders stellt, als man sie bisher gestellt hat, sondern Begeisterung für die Begeisterung selbst. Und diese Idealität, die Schiller in das Theater gebracht hat, war ja schöpferisch. Sie hat vielleicht die Befreiungskriege gemacht, andererseits 1848. Sie hat die ganze Nation für einige Zeit mit einem Element der Energie durchsetzt. Ein solches Element der Energie möchte Rolland dem Theater wieder einfügen. Er versucht es mit dem Volke. Er begründet mit Jaurès ein »Theater des Volkes«. Aber kaum daß sie bei den Vorbereitungen sind, bemerkt er: es gibt ja gar keine Stücke für dieses Theater, es gibt nur Stücke mit erotischen Problemen, Stücke mit Amüsement, historische Darstellungen, aber nichts, was stärken könnte. Da beschließt dieser ganz junge Mensch mit seiner Liebe zum Aussichtslosen sofort, sich selber ein Theater zu schaffen. Er schreibt in wenigen Jahren zehn, fünfzehn Stücke, die bestimmt sind, diesen Zweck zu erfüllen, und er wählt die Motive hauptsächlich aus der stärksten Energiequelle Frankreichs, aus seiner Revolution. Nun, diese Stücke – manche kennen Sie ja davon; sie sind auf den Bühnen gespielt worden – hatten damals gar keinen Erfolg. Sie interessierten keinen Menschen. Sie behandelten nämlich Probleme, die absolut inaktuell waren. In einer friedlichen Zeit ist ja alles so schön nebeneinander geordnet! Man kann guter Patriot sein und gleichzeitig Europäer. Man kann seinem Gewissen gehorchen und gleichzeitig dem Staate. Im Frieden liegen alle diese Dinge wunderschön und rein nebeneinander und greifen im Mechanismus schön zusammen; es entstehen keine Reibungen. Aber jetzt nach diesem Kriege erhalten plötzlich alle diese Dinge, diese Probleme, ob man in einer gewissen Stunde dem Vaterland, der Allgemeinheit gehorchen müsse oder seinem Gewissen, ob man die Gerechtigkeit im Dienste der Nation höherstellen müsse als den Erfolg, alle diese Dinge, die in Rollands Dramen abgewandelt sind, für uns eine ganz merkwürdige Aktualität. Sie waren eben ihrer Zeit ideell voraus. Aber damals – ich sagte es ja – hatten sie gar keinen Erfolg. Die Bemühungen von Jahren und Jahren waren vollkommen vergebens, und mit etwa 32 Jahren hat Rolland das Gefühl, den ganzen Aufwand seines Lebens vergeblich vertan zu haben. Er versucht es gleich noch einmal. Er sucht eine andere Gemeinschaft, eine andere Befeuerung. Er sagt sich aus dem Gefühl der Enttäuschung heraus: so wie ich enttäuscht bin an der realen Welt, so sind ja Millionen enttäuscht, da einer, dort einer in einem Zimmer, in einem Dorf, in einer Stadt, und sie wissen nichts voneinander; sie muß man jetzt verbinden, diese vielen einsamen, enttäuschten Menschen muß man vereinen zu einer neuen Form der Gemeinschaft, ihnen muß man Trost bringen. Sie sehen immer die Idee des Tröstens und Helfens hinter seinem Werk stehen. Da beschließt er, jene »Heroischen Biographien« zu schreiben, um zu zeigen, wie ein Beethoven, wie ein Michelangelo, wie alle diese Menschen ureinsam gegen die Welt standen und aus dieser Einsamkeit eine höhere Kraft erzielten.


Aber auch diese Biographienreihe wird abgebrochen. Wieder ist Rolland am Ende einer großen Tätigkeit ohne den geringsten Erfolg. Aber gerade aus dieser Enttäuschung – und es ist ja so wesentlich für Rolland, daß er immer aus seinen Enttäuschungen das Äußerste herausholt – gewinnt Rolland den neuen Anstieg. Er sagt: noch einmal es versuchen, noch einmal in reiferem Alter, mit weiteren umfassenderen Kräften! Und so beginnt er den »Jean Christophe«. Die meisten von Ihnen werden ja diesen Roman kennen. Ich brauche ihn nicht zu rühmen, ich brauche ihn nicht zu erklären. Seine Gestalten sind lebendig geworden für Unzählige. Seine Mahnung, seine Liebe zur Musik hat viele Seelen beschwingt, und dieses Buch und seine Menschen sind wahrhaft geworden für unendlich viele Gestalten. Aber die wirkliche Größe, die allereigentlichste Größe dieses Buches liegt für mich gar nicht in dem Geschriebenen des Werkes. Ich sehe die wirkliche, moralische, ethische Größe des Werkes darin, daß es überhaupt entstanden ist. Denn bedenken Sie: der Rolland, der dieses Buch schreibt, ist etwa 35 Jahre alt und vollkommen unbekannt als Schriftsteller. Er gilt als Professor der Universität; aber er hat nicht den geringsten literarischen Namen, keinen Verleger, gar nichts. Und da beginnt er einen zehnbändigen Roman, also eine vollkommen aussichtslose Sache. Es besteht keine Aussicht, daß ein Roman, der zehn Bände umfaßt, jemals, wenn er schon beendet würde, nun auch wirklich gedruckt und veröffentlicht werden könnte. Dazu erschwert sich Rolland noch mit Absicht die Sache. Er stellt nämlich als den Helden in die Mitte des Romans einen Deutschen. Nun, daß man in dem Frankreich von damals einen Deutschen in einen Roman stellte, war schon vorgekommen; aber dann geschah es nur als kleine Nebenfigur, als teils lächerlich, teils ernst genommene kleine, skurrile, episodische Menschen. Aber nun gerade einen Deutschen hinzustellen als die Inkarnation des neuen Beethoven, als den Typus des großen, überragenden, schöpferischen Menschen, das verurteilte von allem Anfang an den Roman zu völliger Erfolglosigkeit in Frankreich. Es war, wie ich wiederhole, nicht die mindeste Hoffnung da, daß die ungeheuere Arbeit, die Rolland an diesen Roman gewandt hatte – denn die Vorarbeiten gehen auf 15 Jahre zurück –, jemals eine Aussicht auf Erfolg hätte. Und das dritte – man soll immer klar über die Dinge reden – ist das Geld. Denn den wirklichen Enthusiasmus eines Künstlers und seiner Aufopferung erkennt man ja doch in den meisten Fällen am deutlichsten, sinnlichsten und sichtbarsten an der Geldfrage. Rolland hatte mit dem ganzen »Jean Christophe« nie Aussicht, jemals Geld zu verdienen. Die ersten Bände erscheinen in einer kleinen Revue, in den »Cahiers de la Quinzaine«, wo er für die ersten sechs, acht Bände nicht einen Centime Honorar bekommen hat. Auch der ganze Roman hat ihm ebenso wie seine fünfzehn Dramen gar nichts eingebracht. Ohne Klage, ohne den mindesten Versuch, eine so ungeheuere Arbeit für sich auszumünzen, hat Rolland den »Jean Christophe« unternommen. Gerade diese Idealität scheint mir immer ein moralisches Ereignis zu sein. Denn es gibt für mein Empfinden kein großes Kunstwerk oder fast keines, in dem nicht irgendwo das Aussichtslose eingebaut wäre. Wenn Wagner, dem es recht übel ging, gerade eine Tetralogie beginnt ohne jede Aussicht, daß dieses Werk, das den technischen Errungenschaften seiner Zeit voraus war, jemals an einer normalen mittleren Bühne gespielt werden könne, so ist das ein heroischer Akt, der von der wirklichen Mission, die er in sich fühlte, mehr überzeugt als alle Äußerungen und oft selbst das Kunstwerk. Aber es geschah etwas Überraschendes. »Jean Christophe« wurde ein Erfolg. Es war ganz merkwürdig – dies fällt noch in die Zeit meiner Erinnerung –, wie es allmählich begann. Zuerst war es ein kleines Auf merksam werden einzelner Menschen, dann entstand eine Gemeinde. Es begann in Spanien, dann war es wieder in Italien, – irgendwo waren es ein paar Menschen, die langsam spürten: hier wächst etwas auf, was ganz anders ist, etwas, was uns alle angeht, ein europäisches Werk, ein Werk, das sich nicht mit den Italienern oder den Franzosen, nicht mit einer Literatur befaßt, sondern mit unserer gemeinsamen Nation, mit unserem europäischen Schicksal. Tatsächlich ist ja aus diesem Werke zum erstenmal die europäische Idee Rollands vollkommen sichtbar geworden, der Gedanke, daß wir die Nationen nicht immer sehen sollen an den kleinen Zufälligkeiten und Ereignissen, sondern stets in ihrer obersten und reinsten Gestalt, in »Jean Christophe«, in Johann Christof, dem Deutschen mit seinem Ungestüm, seinem Gotteswillen und seiner unbändigen Liebe zur Kunst, zu seinem bis zur Leidenschaft, Raserei und Ungerechtigkeit vorgetriebenen Kunstegoismus, mit seiner Liebe, seinem Fanatismus zum Metaphysischen, das ja in aller Kunst liegt. Und ihm zur Seite der schwächlichere, zartere Franzose Olivier, der ebenso unbedingt ist in einem anderen Sinne, in der Klarheit des Geistes, in der innersten Gerechtigkeit, in dem Widerstand gegen die Leidenschaft! Aber beide fühlen, daß sie einander ergänzen; beide lieben sie einander und fördern sich durch ihre Vertrautheit. Dann kommt noch als dritter Klang, als dritte Gestalt schließlich Grazia dazu, ein Italien der Schönheit, der sanften Sinnlichkeit, der Harmonie. So wollte Rolland, daß sich die Nationen gegenseitig sehen, und die Besten unter ihnen haben sich auch in diesem Buche erkannt und geeint.


Für einen Augenblick hat nun Rolland wirklich die Höhe erreicht. Es ist wie eine Ruhe, wie ein Entspanntsein in ihm, und da schreibt er auch aus dieser Entspanntheit, aus dieser Leichtigkeit heraus zum erstenmal ein heiteres, übermütiges Buch, den »Meister Breugnon«. Aber was er aufgebaut hat, diese ganze europäische Idee, plötzlich, innerhalb von zwei knappen Tagen ist diese Idee, die er gestaltet hat, durch den Krieg vernichtet. Plötzlich, über Nacht, gibt es keine europäische Einheit mehr, kein gegenseitiges Verstehen, kein gegenseitiges Verstehendürfen, und so wird der höchste Erfolg Rollands eigentlich seine tiefste Enttäuschung. Hier beginnt dann seine wirkliche, heroische Tat; denn er muß den »Jean Christophe«, sein Lebenswerk, noch einmal schaffen. Was als Buch momentan zerstört ist, das muß er noch einmal in einer anderen Materie gestalten, nämlich im Leben. Er muß durch die Tat noch einmal dieselbe Gesinnung bezeugen, die er vordem als Künstler mit seinem Wort gestaltet hat: der ethische Mensch muß nun den künstlerischen bestätigen. Das ist nun die Leistung Rollands gewesen, die wir als seine heroischste betrachten, daß er dieses Europa, das damals während des Krieges nicht bestand und das gesetzlich nicht bestehen durfte, in jenem Inneren, das gesetzmäßig nicht zu erreichen war, aufrechterhalten und gestaltet hat. Das war seine wahrste Leistung. Denn wenn man so mit raschen Worten, um irgendeinen Menschen in eine Formel einzufangen, gewöhnlich meint, Rolland sei Pazifist – Pazifist im Sinne eines Menschen, der nicht mag, daß man sich schlägt, der den kriegerischen Verwicklungen im Sinne eines Quietismus bequem ausweicht –, so ist das vollkommen falsch. Ist jemand eine heroische und kämpferische Natur gewesen, so Romain Rolland. Alle seine Bücher, was sind sie denn? Was ist denn dieser »Jean Christophe«? Worum geht es? Es wird gekämpft von allen Menschen, vom ersten Blatt bis zum letzten. Jean Christophe und Olivier sind Kämpfer um eine Idee; sie entwickeln sich ihre Möglichkeiten erst am Widerstand. Es gibt keine quietistischen Naturen in den Werken Rollands, und er selbst hat nichts vom Quietismus gehalten. Er ist damals in Widerstand zu der ganzen Welt getreten. Was war aber eigentlich sein Werk damals? Es ist merkwürdig! Ich habe erst jüngst dieses berühmte Buch »Au dessus de la mêlée«, »Über dem Getümmel«, das ja das Zeugnis, das Dokument dieses Kampfes ist, mir wieder angesehen, und ich war eigentlich erstaunt, wie wenig Aufregendes darin steht. Wie kommt es, daß dieses Buch so aufregen konnte? Das sind doch Dinge, die heute alle Leute, alle Staatsmänner in jeder Stunde sagen, die kein Mensch irgendwie als unklug oder als besonders kühn empfinden wird. Aber wir müssen uns eben darauf besinnen und das wird der hohe dokumentarische Wert dieses Werkes sein –, daß ein solcher Aufsatz jene ersten hundert Gegenschriften hervorgerufen hat, daß mit Veröffentlichung einer solchen Schrift damals ein Mensch für sein Vaterland und für die meisten anderen Länder vollkommen erledigt war. Die ersten Aufsätze Rollands konnten noch gerade in einem neutralen Lande in der Zeitung erscheinen. Dann kam ein Augenblick, etwa um 1917, wo nicht einmal das »Journal de Genève«, also eine vollkommen neutrale Zeitung, es mehr wagte, diese Artikel aufzunehmen, so daß sie in ganz kleinen Revuen, so z.B. in der »Friedenswarte« des zu früh verstorbenen A.H. Fried erscheinen mußten. Rolland hatte keine andere Möglichkeit. Er war von dem ungeheueren Schweigen wie erdrückt. Aber an der Wirkung auf Unzählige, die diese paar uns heute belanglos erscheinenden Aufsätze hatten, wird eine spätere Zeit erst erkennen, wie arm jene Kriegszeit an wirklichen Worten gewesen ist. Es war unter dem Getöse der Kanonen, der Maschinengewehre, unter dem Geschmetter der Zeitungen überall eigentlich ein ganz gedrücktes und beängstigendes Schweigen, ein Schweigen auch von Millionen Menschen, die damals, als diese ersten Aufsätze wie eine Stimmgabel anklangen, sich sofort zu regen begannen.


Was war nun in diesen Aufsätzen? Was wollte Rolland eigentlich? Was sagte er, das damals so erregte? Das Erste war, daß er auf dem Standpunkt der Individualität stehe, wir zwar Staatsbürger und dem Staate hingegeben seien, daß wir ihm zu folgen hätten in allem, was er uns befehle – der Staat kann über unser Vermögen, über unser Leben vermögen –, daß aber in uns selbst ein letzter Punkt ist. Das ist das, was Goethe einmal in einem Brief die Zitadelle nennt, die er verteidigt und die niemals von einem Fremden betreten werden darf. Dies ist das Gewissen, jene Zitadelle, jene letzte Instanz, die sich nicht auf Befehl zwingen läßt, weder zum Haß noch zur Liebe. Rolland weigerte sich zu hassen, einen Kollektivhaß auf sich zu nehmen. Er betrachtete es als unverlierbare Menschenpflicht, auszuwählen, wen er hasse und wen er liebe, und nicht auf einen Ruck eine ganze Nation oder ganze Nationen, unter denen er teuerste Freunde hatte, plötzlich mit einem Stoß von sich zu werfen. Das Zweite war, daß Rolland das Dogma von der Allheilkraft des Sieges nicht teilte. Er glaubte nicht, daß der bloße Sieg schon genügt, um eine Nation gerechter zu machen, um sie besser zu machen. Er hatte ein tiefes Mißtrauen gegen jede Form des Sieges, weil für ihn, wie er einmal sagte, die Weltgeschichte nichts anderes darstellt als den immer wieder erneuten Beweis, daß die Sieger ihre Macht mißbrauchen. Für seine Idee ist der Sieg ebenso sehr eine moralische Gefahr wie die Niederlage, und er wiederholt damit nur ein schärferes Wort Nietzsches, der gleichfalls jede Gewaltform im Geistigen ablehnte. Dies war im wesentlichen das, was Rolland von den anderen isolierte, das Mißtrauen vor allem, daß ein Sieg die eine oder die andere Nation Europas endgültig beglücken könnte, weil er immer Europa als eine Einheit betrachtete und diesen Krieg als eine Art Peloponnesischen Krieg, wo die griechischen Stämme einander befeindeten und schwächten, während Mazedonien und Rom schon warteten, um dann die Geschwächten zu überfallen und die Beute einzuheimsen.


Diesem Skeptizismus gegen den Sieg hat die Zeit recht gegeben. Sie hat Rolland und alle, die damals dachten, es würde sofort aus diesem ungeheueren Erlebnis, aus dieser Erschütterung und Qual irgendeine neue Geistigkeit, eine neue Brüderlichkeit, ein Bedürfnis nach Einheit und Menschlichkeit entstehen, schwer enttäuscht, und einen Augenblick hat es geschienen, als wollte sich Rolland aus dieser Enttäuschung über all die Kräfte, von denen er sich eine Erhöhung, eine Milderung der tragischen Lage erhofft hatte, von der Wirklichkeit in die Kunst ganz zurückziehen. Aber auch aus dieser Enttäuschung hat er wieder eine Kraft gewonnen und hat noch einmal nach dem Kriege in einem Werk, in einer heroischen Biographie Europa zeigen wollen, wo die Möglichkeiten eines Aufschwungs aus unserer Verwirrung sind. Das war sein Buch über Gandhi. Diesen indischen Kämpfer und kleinen Advokaten kannte niemand in Deutschland, niemand in Frankreich, niemand in der Welt. Und doch führte er den erbittertsten Kampf eines Millionenvolkes gegen das stärkste Reich der Erde, gegen das englische. Aber es war ein Kampf, der nicht in der Gewalt bestand, sondern in der Verweigerung des Dienstes, nicht in einem Haß, sondern in einer ruhig abwartenden und eben durch diese Milde um so gefährlicheren Kraft, gefährlicher als jede plötzliche Leidenschaft. Er wollte zeigen, wie es möglich ist, große Entscheidungen der Geschichte durch eine andere Form der Energie herbeizuführen, ohne daß menschliches Blut von Millionen fließen müsse. Zu diesem Behufe hat Rolland zum erstenmal auf den großen Kampf Gandhis gegen das englische Reich hingedeutet. Und seltsam, wie ein Leben, das sich zur Kunstform entfaltet, immer seine Kreise zurückzieht! Als Rolland dieses Buch geschrieben hatte, ein Jahr später, erfuhr er ein Seltsames, nämlich, daß so, wie er vor etwa 25 oder 30 Jahren aus Paris einen Brief an Tolstoi geschickt hatte und Tolstoi ihn in seinem Lebenskampf bestärkte, damals aus Afrika, aus der Natal-Kolonie dieser kleine indische Advokat sich in einer ähnlichen Seelennot an Tolstoi gewandt hatte und daß Tolstoi in der gleichen Weise Gandhi durch einen Brief geholfen hatte. So begegnen sich plötzlich vom Orient zum Occident zwei Naturen, die in ganz anderen Sphären tätig sind, in einer Idee, in einem Gedanken oder eigentlich in einem Menschen. Daraus ersehen wir die ungeheuere Gewalt, die im Unsichtbaren die moralische Erscheinung einer Natur immer wieder im Irdischen hervorzubringen vermag.


Diese Flucht hinüber, diese Wendung von Europa in den Orient hinüber, in eine neue Sphäre, um neue Kraft zu holen, ist noch eine letzte Erweiterung, noch eine letzte Erhöhung Rollands, und sie scheint im ersten Augenblick fast ohne Beispiel. Aber sie hat ihr Gleichnis: denn die Geschichte, die Geschichte der Menschen, die Geschichte des Geistes ist ja nicht eine kalte Registratorin von Tatsachen, nicht eine nüchterne Nachschreiberin, sondern die Geschichte ist eine große Künstlerin. Wie jeder Künstler hat sie die höchste Freude am Gleichnis. Sie findet zu allem ihr Gleichnis, eine erhabene Analogie. So auch in diesem Falle. Lassen Sie mich da einen Augenblick an eine andere Gestalt erinnern, die uns teuer ist, an Johann Wolfgang Goethe, an Goethe etwa im gleichen Lebensalter, in seinem 60. Jahr. Er hatte immer dem Geistigen hingegeben gelebt, in allen Dingen Zusammenhänge gesehen und das Leben betrachtet; aber nie war ihm jene äußerste Krise nahegekommen. Knapp vor seinem 60. Jahr, in dem gleichen Alter – es ist merkwürdig, wie analogisch die Geschichte wirkt –, stürzt plötzlich die Wirklichkeit auf ihn ein. Nach der Schlacht bei Jena flutet die geschlagene preußische Armee durch die Straßen. Er sieht zum erstenmal, wie die Soldaten die Verwundeten auf Karren zurückschleppen, er sieht die über die Niederlage erbitterten Offiziere, er sieht die Not, das Elend des ganzen Volkes, und gleich darauf die einrückenden Franzosen, den Übermut der Offiziere. Sie wissen: französische Soldaten brechen ein, zerschlagen mit dem Kolben seine Tür und bedrohen sein Leben. Dann kommt noch der ganze Feldzug, es kommt noch die Erniedrigung der Fürsten, die zu Napoleon kommen, um sich nur ja in der allgemeinen Not ihr eigenes Fürstentum zu sichern. Und was tut Goethe in jenem Jahr? Man hat es ihm so oft vorgeworfen, aber man hat es nicht verstanden. Gerade in jenen Jahren befaßt er sich mit chinesischen Weisen, mit der Weisheit des Ostens, mit persischen Gedichten. Das hat man immer oder oft zum mindesten als eine Gleichgültigkeit gegen die Zeit angesehen. Aber es war eine notwendige Rettung für den Geist; denn der Geist ist ja ein freies Element. Er kann nur in der Schwebe leben. Drückt ihn die Zeit zu hart, dann flüchtet er hinaus in die Zeiten. Werden die Menschen tollwütig, bedrängen sie ihn, dann flüchtet er empor in die Idee der Menschheit. Gerade in diesen Jahren, aus diesem Erlebnis heraus erhebt sich Goethe mehr in diese ungeheuere Schau, die Europa weit überflügelt, in diese Schau des Allvaterlandes, jene Sphäre, wo man, wie er einmal so wundervoll sagt, Glück und Unglück der Nationen wie sein eigenes erlebt. Er schafft sich über dem Vaterland, über der Zeit jene Sphäre, aus der er der Überblickende, der Beherrschende, der Freie und der Befreiende geworden ist. Dieses Allvaterland Goethes, dieses Weltvaterland, dieses Europa Rollands, das er erträumt, dieses Reich der Brüderlichkeit, das alle großen Künstler von Schiller bis herab auf unsere Zeit immer wieder gefordert haben – ich weiß, es ist nicht von heute und nicht von morgen. Aber lassen wir dieses Heut und Morgen den Tagelöhnern der Politik, allen denen, die daran hängen, und schreiben wir uns selbst den Bürgerbrief für jene noch nicht existierenden Reiche der Humanität. Vielleicht sind alle diese Dinge Träume; aber wenn von Träumen eine steigernde Kraft ausgeht, wenn wir fühlen, daß wir an solchen Träumen von Humanität, von einer höheren Einheit innerlich reifer, klarer und weitblickender werden, daß wir uns aus den kleinen Gehässigkeiten retten, dann sehe ich nicht ein, warum wir sie nicht träumen sollten. Wir müssen uns aus allem eine Kraft holen, die unseren Geist klarer macht, unsere Herzen humaner. Vor allem müssen wir, so glaube ich, auf die paar Menschen blicken, in denen wir etwas von dieser höheren, reineren und klareren Form, die wir von der zukünftigen Menschheit erhoffen, schon verwirklicht sehen, Menschen, die mit Einsatz ihrer ganzen Kraft nicht dieser Zeit allein leben und in ihrem Vorwärtsdrängen auch die anderen mit sich reißen. Einer von diesen Menschen ist für unsere Zeit gewiß Romain Rolland. Er hat Tausende getröstet, er hat Unzählige erhoben, er hat durch seinen Idealismus nicht in einem Lande, sondern in allen Ländern den Willen zur Einigung, die Neigung zur Verständigung und die Möglichkeit einer höheren Anschauung gefördert. Weil er dies gerade in der fürchterlichsten Stunde getan hat, die unsere Zeit erlebte, in einer fürchterlichen und hoffentlich nicht mehr wiederkehrenden Stunde, nun, darum, glaube ich, dürfen wir ihm heute Dank sagen an diesem festlich erleuchteten Tage.

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