Romain Rolland. Geheimnis der Produktion
Notizen zu einem Vortrag
Oft haben mich Freunde aus einem redlichen Erstaunen gefragt, wie es möglich sei, daß ein einzelner Mensch das beinahe Wunderbare vollbringe, gleichzeitig als Dichter, Historiker, Soziologe und Musikgelehrter mit gleicher Intensität wirksam zu sein. Und tatsächlich, was ist seltener geworden in unserer immer mehr spezialisierten Zeit als der universale, der im zwanzigsten Jahrhundert noch enzyklopädische Mensch. Wie faßt ein einzelnes Leben dies zusammen, wie bemeistert wiederum ein einzelner Tag solche unermüdliche Vielfalt des Lernens und Lesens in allen Sprachen, diesen pausenlosen Wechsel von Drama, Roman, Essay, Rede und Brief und musiktheoretischer Durchdringung – so fragen Freunde immer wieder erstaunt mich, den immer selbst wieder Erstaunten. Darum will ich’s versuchen, vielen zugleich eine Antwort (oder mindestens den Einstieg zu einer Antwort) zu formen.
Wie bei allen künstlerischen Naturen, so stammt auch bei Rolland die großartige Sonderheit des Geistes aus einer Sonderheit des Leibes, aus einem Geheimnis der Physis. Rolland kommt aus einer Familie von Schlaflosen. Und in ihm, dem letzten, feinsten, zartesten Sproß hat sich diese Unbedürftigkeit der Ruhe, diese unablässige Wachheit fast ins Maladive, ins Gefährliche gesteigert. Seit vierzig Jahren, seit der Studienzeit schläft Rolland kaum mehr als vier Stunden jede Nacht – so hat der arbeitsame Tag bei ihm zwanzig volle Stunden für das immer helle, immer wache, immer klare Auge, das im Schauen, Schreiben und Schürfen nie ermüdet, indes der schwache Körper längst jede Anstrengung scheut und oft sogar kürzestem Spaziergang sich weigert. Aber die blaue Pupille, dieser sternhaft klare Kristall verliert niemals seine Lichtkraft an träumerische Schwäche oder matte Undeutlichkeit: ein echt französisches Auge, jenem spitzfacettierten, immer funkelnden Voltaires gleich, trinkt es sein Feuer aus Landschaft, Leidenschaft und jedem geistigen Licht, unermüdlich wach, immer gerade und klar jeden Gegenstand nach innen zeichnend. Und mit der gleichen Helligkeit und Durchleuchtung, mit der die Erkenntnisse der leiblichen und moralischen Welt durch dieses kristallische Auge dringen, bleiben sie innen bewahrt: auch dort gibt es niemals ein Zwielicht, ein Verstaubtes und Verschattetes, eine Unordnung und Vermengung, auch da ewige Bereitschaft, magische Ordnung, Wachheit des Vergangenen bei äußerster Wachsamkeit in die Gegenwart. Rollands Gedächtnis vergißt niemals eine Tatsache, einen Namen, eine Zahl, ein Gespräch – in dem taghellen Raum, oder besser in dieser taghell durchlichteten Flucht von Gedächtnisräumen, die erlebte Jahrzehnte und daneben noch die Jahrhunderte der Geschichte umfassen, liegt das intellektuelle Material ständig bereit. Wo immer ein Gespräch anklopft, springt magische Türe auf, von welcher Seite immer man fragt, gleich ist man innen im Gespräch: blitzschnell hergetragen wie auf zauberisches Geheiß reihen sich die Erinnerungen dieser intellektuellen Schatzkammer. Und er selbst, der ruhelose Zwanzig-Stunden-Werker wandert unablässig aus einer Sphäre in die andere, unablässig unterwegs mit einem äußerlich fast immer ruhenden Leib, der sich oft tagelang nicht den vier Wänden entringt; und jeder Abend endet noch mit einer letzten Zwiesprache im Tagebuch: da wandert der Geist noch einmal das ganze Labyrinth bewußt zurück, das er tagsüber absichtslos durchschritten.
Solche Wachheit eines Menschen ist Gnade. Aber sie ist auch Qual, denn all dies Nichtvergessenkönnen, dieses von einem ins andere Erinnertsein verbrennt ein Leben mit zuviel Licht. Und eigentlich wäre Rolands Existenz ein Gefangensein in einem gläsernen Sturz von Intellektualität, ein zu stark Durchlichtetsein von Erkennen, hätte dieses Auge, dieses unerhört klare, immer wache, kaum je ruhende Auge nicht von innen her eine Beruhigung, einen entspannenden Traum: die Musik. Nur sie, die Musik, sordiniert die allzuhohe Geistigkeit dieses Mannes und der Künstler in ihm tritt immer erst vor, wenn sich seine erstaunliche Intellektualität mit der Subtilität seines musikalischen Sinnes ausgleicht. Immer ist Romain Rolland dort am höchsten Künstler, wo sich diese Durchdringung am vollkommensten verwirklicht: man lese daraufhin einmal den ›Jean Christophe‹. Manche Seiten scheinen mir dann das Musikalischste, was je in französischer Sprache gesagt ward, ja kaum Sprache mehr, sondern ganz Fluidum, ganz eine das Wort überströmende Melodie – manche wiederum, wo zu spät, zu vergeßlich die Musik eintritt, wo nicht schon der erste Satz, von der Stimmgabel berührt, aufschwingt, wirken beinahe hart, stockig, zeitungshaft und kalt. Immer braucht Romain Rolland den Impuls, den ethischen oder musikalischen. Darum ist er niemals Artist, denn er vermag kaum zu bessern oder zu verändern. Selten nimmt er sich auch dazu Zeit, denn zuviel stürzt durch diese überwachen Augen, diesen immer wachen, immer fragenden spähenden Verstand in eine ewig wache Seele. Immer, trotz Zwanzig-Stunden-Arbeit des Tages, hat er abends das Gefühl, nicht genug gesagt, nicht genug gesehen zu haben. Das Wort ist ihm zu träge, die Feder zu langsam, die Übermittlung der Schrift zu schwerfällig. Und heute, in seinem sechzigsten Jahre, hat er noch immer Besorgnis erst am Anfange zu sein und nur ein Fragment jener Fülle ausgesagt zu haben, die ihm die gegenwärtige und die historische Welt bedeutet.
Darum mißt Rollands Künstlertum bei weitem nicht sein ganzes Maß aus. Reiner Dichter ist er ja nur in den Stunden seiner Musik. Aber der Raum ringsum, er ist noch erfüllt mit hundertfachen Erkenntnissen und tausendfältigem Wissen, mit Horchen und Verstehen, mit Helfen und immer wacher Anteilnahme, mit den kostbarsten Elementen der Menschlichkeit: alles was wir von ihm an Geschriebenem kennen, alle diese zwanzig oder dreißig Bände drücken ihn nur fragmentarisch aus, denn kein Mensch unserer Welt (ich bin mir bewußt hier nicht zu übertreiben) hat mehr Weite und geistige Bewegung in sich als dieser einzig Wache und Wachsame. Und da innere Bewegung, mag sie auch noch so verborgen sich entfalten, immer wieder Bewegung ins Äußere schafft, so geht vielleicht von keinem unserer Zeitgenossen nach soviel Seiten und in solche Entfernung (bis tief nach Japan und in die buddhistische Welt) sittliche Strahlung aus. Nie hat Rolland sich ganz und endgültig zusammengefaßt in eine Lehre, ein Buch, eine Gestalt und dies widerspräche auch vollkommen seiner biologischen Wesensform, die ganz Bewegung und Strahlung ist, ein Verteilen seiner selbst vielmehr als ein Zusammenfassen. Sein Wesen ist nicht in seinem Sein, sondern in seiner Wirkung – seine Größe nicht im Innern, sondern im Welthaften, nicht im Ruhen, sondern im Strömen – darum faßt ihn nicht ein einzelnes Wort, sondern nur das Gefühl kann seine Einzigkeit begreifen.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.