Jens Peter Jacobsens
1931
Niels Lyhne«, wie glühend, wie leidenschaftlich haben wir in den ersten wachen Jahren der Jugend dieses Buch geliebt: es ist der »Werther« unserer Generation gewesen. Unzählige Male haben wir diese melancholische Biographie gelesen, ganze Seiten davon auswendig gewußt, der dünne abgegriffene Reclamband hat uns in die Schule begleitet und spät abends in das Bett, und wenn ich heute noch manche Stelle darin aufschlage, so könnte ich sie sofort Wort für Wort auswendig weiterschreiben, so oft, so leidenschaftlich haben wir damals jene Szenen in unser Leben hineingelebt. Wir haben unsere Gefühle daran geformt und unseren Stil, es hat uns Bilder gegeben für unsere Träume und ein erstes lyrisches Vorgefühl der wahrhaften Welt: es ist nicht wegzudenken aus unserem Leben, aus unserer Jugend, dieses sonderbare, zarte, ein wenig schwindsüchtige und der stärkeren Gegenwart fast schon verschollene Buch. Aber gerade um dieser Sanftmut, dieser geheimen lyrischen Zärtlichkeit willen haben wir damals Jens Peter Jacobsen geliebt wie keinen andern. Er war uns der Dichter der Dichter, und kaum könnte ich mit Worten ausdrücken, wie hingebungsvoll unsere fast backfischartige Überschwenglichkeit für ihn sich gegenseitig überbot. Nur jüngst habe ich es wieder selbst gefühlt, als ich zwischen Büchern, in einem Winkel vergraben, eine staubige dänische Grammatik fand und zuerst nicht wußte, durch welchen Zufall sie in den Schrank geglitten war – dann aber erinnerte ich mich, beinahe mit einem Lächeln: wir hatten damals Dänisch lernen wollen, ein paar Freunde gemeinsam, einzig um »Niels Lyhne«, um Jens Peter Jacobsens Gedichte im Original lesen und damit noch einmal, noch stärker vergöttern zu können. So haben wir dieses Buch, so diesen Dichter geliebt.
Und wir standen nicht allein, wir Halbreifen, wir Knaben, wir tastende, unsichere Beginner, mit unserer Begeisterung. Die Besten Deutschlands, die ganze schöpferische Literatur um die Jahrhundertwende verfiel damals dem magischen Zauber des Nordens. Skandinavien bedeutete jener Generation, was der gestrigen Rußland, der heutigen vielleicht schon der Ferne Osten bedeutet: ein Neuland der Seele, einen Urquell noch ungeahnter Probleme. Ibsen, Björnson und Strindberg wirkten damals so urgewaltig, so umstürzend, so umrührend auf die geistige Generation wie heute Dostojewskij und Tolstoi auf die europäische Seele. Der junge Gerhart Hauptmann wäre undenkbar ohne Ibsen, der junge Rilke ohne Jacobsen: sieht man Malte Laurids Brigge tiefer in sein edles, schwermütiges Antlitz, so erkennt man darin unverkennbar seines Wahlvaters Niels Lyhne in aller Müdigkeit noch strahlendes Gesicht. Wie ein ungeheurer Windstoß freier, geistiger Luft war diese literarische Welle von Norden hergekommen, ein ganzes großes germanisches Geschlecht war, wie zur Zeit der Völkerwanderung, in die deutsche Literatur eingebrochen, eine starke, sieghafte Phalanx, von der heute nur noch der geistige Führer Georg Brandes und, als der letzte der Triarier, der spät gekommene Knut Hamsun innerhalb der Grenzen unseres geistigen Lebens stehen. Der Lärm all dieser Schlachten ist seitdem verschollen, und die einst so stürmisch erfochtenen Siege, wir verstehen sie heute nicht mehr ganz. Ein Ibsen-Stück wie »Nora«, der »Volksfeind«, das damals mit seinen berühmten Thesen die ganze deutsche Welt aufrüttelte, bedeutet uns kaum mehr als kaltes Theater, sein großer Heros des Gedankens erscheint uns bloß mehr als kalter Bühnengeometriker, die ethische Missionarin von einst, Ellen Key, einzig mehr als eine wunderbare, gütige Frau, Björnson und Strindberg sind für das neue Geschlecht, die neue Welt, nur mehr Schnee vom vergangenen Jahr – wie bei jeder Völkerwanderung haben sich die Eindringlinge im Laufe eines Jahrzehnts der erbgesessenen Kultur assimiliert, und man spürt sie kaum mehr als Fremde, als Eroberer in der Geistigkeit unserer Stunde. Der große Siegeslauf der skandinavischen Literatur, der über ganz Deutschland sich ergossen und erst an den Mauern der französischen Tradition zerschellte, ist zu Ende. Er ist Geschichte, Literaturgeschichte geworden und hat keine Macht mehr über das neue Geschlecht.
Aber Jacobsen, er, den wir am reinsten, am innigsten geliebt, er, der wie der Genius des Gedichtes unsere Jugend überschwebte, er, der Teuerste von allen – ist auch seine Magie dahin, auch sein Zauber entschwunden? Man hat Furcht vor der eigenen Frage, eine leise Angst um die eigene, so unsäglich reiche Empfindung von einst, die noch innen in uns verborgen ist, irgendein Bangen, ihr mit der schärferen Erkenntnis nun wehe zu tun, eine Angst, nun mit klarem Blick ein Buch wieder aufzuschlagen, das man mit brennenden Augen einst gelesen. Wird es nicht ein Abschied sein, eine letzte Begegnung, eine schmerzvolle Enttäuschung? Man soll Ehrfurcht haben vor den Träumen seiner Jugend, läßt Schiller seinen Helden sagen, aber die wahre Ehrfurcht darf nicht furchtsam sein. Zehn Jahre, fünfzehn Jahre vielleicht hatte ich es nicht gewagt, dieses Buch aufzuschlagen, aus dem Bangen, nun an eine Klarheit zu verlieren, was so schön als Erinnerung noch in einem dämmert und lange verborgen weiter geblüht. Aber Klarheit über alles selbst um den Preis eines innern Verlusts! Und mit zögernder Angst, dem Knaben in sich wehe zu tun, der irgendwo noch verschollen und verschüttet in uns weiterlebt, tastet man sich vorsichtig wieder in das früher geliebte Buch hinein.
Und wunderbar: es ist immer noch schön! Nicht mehr ganz so zauberhaft, so berauschend und rückhaltlos hinreißend wie einst, aber noch immer schön. Noch immer liegt dieses leise Aroma wie von jungen Fliederblüten auf seinen Blättern, diese geheime seelenhafte Luft – nur ein wenig blasser, ein wenig künstlicher, ein wenig kränklicher scheint es nun, das einst für uns so übervolle Buch, das unsere Seele ins Unendliche spannte. Man berauscht sich nicht mehr daran wie an einem schweren Wein, sondern trinkt es in leichten, vorsichtigen Zügen wie einen zart duftenden, exotischen und nur ein wenig übersüßten goldenen Tee. Noch hat es jene wunderbare Durchsichtigkeit bis zum porzellanenen Grunde, wo man jede Linie, jede Arabeske in wunderbaren Farben hingemalt erkennt, noch hat es jenen linden, schwermütigen Duft: es wirkt nur ein wenig übersüßt mit Lyrik, ein wenig zu blaß, ein wenig zu lau. Es wirkt, wie die Präraffaeliten, wie die Worpsweder (die uns damals gleichfalls so entzückten) gleichfalls heute auf uns wirken: ein wenig zu blaß, zu kränklich, zu kraftlos, zu morbid, zu sentimentalisch. Der Duft ist unberührt, noch immer gleich delikat und kostbar, aber er kommt nicht gleichsam aus offenem Fenster hergeweht, aus dem wirklichen, freien, aufgetanen Leben, sondern schwült ein wenig wie ein von Blumen gefülltes Zimmer; gerade was uns Schwelgerische damals so sehr entzückte, die Überfülltheit mit Gefühl, der Mangel an Schärfe, Bitternis und Lauge, das wirkt heute als ein wenig zu süßlich auf unseren von stärkerer Kost und schärferen Gewürzen geschärften, unseren wissenderen Gaumen.
Aber gerade diese Schwäche, diese Zartheit, dieses Leise-Sein, dieses ganz Seelenhafte ist Jens Peter Jacobsens ureigene Magie. Wie konnte, wie durfte er andere Bücher schreiben als diese mit der dünnen durchsichtigen Haut eines Kranken, dem leisen Ton eines Geschwächten, der nervösen Sinnlichkeit eines immer vom Fieber Erregten – er, der doch selbst einer dieser Kranken war! Es ist nichts Künstliches in seiner zarten Kunst: was seine schmale, um erlöschende Lungen gedrängte, in allen Fasern kranke Brust an lyrischem, an dichterischem Atem hatte, hat sie rührend an diese reinen Bücher gegeben. Sie sind alle mit blassen, durchsichtigen Fingern, mit pochenden Pulsen, mit – wie er einmal sagt – »von Husten durchschütterten Gehirnmolekülen« geschrieben, irgendwo auf einer Liegeterrasse in Montreux oder in Rom, wo der arme Schwindsüchtige, wie eine Sonnenblume dem Licht zugewandt, lag. Sie sind alle Sehnsucht eines Lebens, das nie wirklich gelebt wurde, denn die fünfzehn Jahre seiner Kunst waren nichts als ein ewiger Kampf gegen den Tod. Und dieser Kampf gegen den Tod ist seine ganze Biographie. Als ihn einmal Georg Brandes in einem Briefe um Tatsachen seines Lebens bat, gibt er die melancholische Antwort: »Ich bin am 7. April 1847 in Thisted geboren. Was Begebenheiten anlangt, so weiß ich mich wirklich an keine zu erinnern, die Interesse haben könnten und erwähnenswert wären.« Und so war es auch: Jens Peter Jacobsen hat nichts erlebt als Niels Lyhnes und Marie Grubbes Träume. Immer mußte er auf Balkonen liegen und auf Sonne warten, immer sich die kranke Lunge mit Lebertran und Milch füttern, damit nicht zu früh die leise Stimme erlischt; und so tropfte er langsam weg, halb in Träumen, halb in Gedichten, immer sich behütend und verteidigend gegen den Tod, immer außen von dem wirklichen, heißen, lebendigen Leben, dem seine Sinnlichkeit, seine roten Adern geheim entgegenschwollen. Aber Träume, mehr war ihm nicht gegeben, Träume, die er melancholisch erlebt oder lyrisch gestaltet, und wehmütig schreibt er in seinem letzten Brief über diese seine ihm aufgezwungene Schwächlichkeit: »Es ist nicht mehr viel von mir übrig, und was noch da ist, muß in Baumwolle aufbewahrt werden.« Nicht ein einziger Schrei, eine einzige Leidenschaft war seinem Leben, war seiner Kunst verstattet.
So mußte er leise sein, immer nur mit heimlich gedrückter, zärtlich behutsamer Stimme zu den Menschen sprechen. Und dieses Leise-Sein, dieses Fühlen alles Leisen und Verborgenen der Seele ist sein eigentliches Genie. Jens Peter Jacobsen ist einer der größten Aquarellisten des Wortes. Er hat einen japanischen Pinsel gehabt und die zartesten Farben für jene ganz vibrierenden Stimmungen, jene winzigsten Oszillationen der Stimmung, die dem Gesunden überhaupt nie fühlhaft werden; seine Begabung für das Transparente von Wachträumen war vielleicht die vollkommenste, die je ein Künstler der lyrischen Prosa besaß: niemand hatte ein feineres Instrument, um das versponnenste Geäst der Seele, die zartesten Ausläufer der Nerven mit der leidenschaftlichen Liebe zur Miniatur auszumalen, und in dieser aquarellistischen, in dieser blassen, nervösen Art der Darstellung ist er Meister geblieben ohnegleichen. Der breite Strich, die tiefen Schatten, der wilde Riß, die brennenden Farben waren seiner blutleeren Hand naturgemäß verboten – so wandte er an das Detail seine ganze rührende und oft magische Liebe. Als der Botaniker, der er ursprünglich von Beruf gewesen, hatte er eine wunderbar behutsame Art zu eigen, Gefühle wie Knospen, wie Blumen auseinanderzufalten, ohne sie (wie Dostojewskij, wie die Psychologen der Tiefe) mit dem scharfen schneidenden Messer unten an der Wurzel aus dem Erdreich auszugraben, und mit immer neuem Staunen fühlt man diese seine einzige Art des Auseinanderfaltens seelischer Komplexe. Wenn er ein Gefühl in seine behutsame Hand nimmt, so fällt kein Korn Blütenstaub ab, und gleichsam von der Berührung selbst öffnet die noch unaufgeschlossene Knospe ihr Inneres, zeigt Faden und Stempel, Farben und Schmelz im zarten, unvergeßlichen Beisammensein. Freilich, sein Ehrgeiz ging über dieses Stimmunghafte hinaus, er hat es versucht, muskulöser zu wirken und in der »Marie Grubbe« ein großes historisches Fresko zu zeichnen: aber es wurde nur ein Gobelin historischer Stickereien, prachtvolle Genrebilder, die sich ergänzen wie Mosaik. Und ebenso wollte er den Niels Lyhne eigentlich als ganze Geschichte an die Wand seiner Zeit malen, als Tragödie einer Generation. Aber es wurde nur die (großartige) Geschichte einer Seele. Denn Jacobsen war es einzig gegeben (oder vom Schicksal verhängt), immer innen zu bleiben im Menschen: auch im Kunstwerk blieb ihm die Welt, die äußere, die laute, die wilde, die leidenschaftliche, unerbittliche Welt verwehrt. Nur aus sich selbst, nur aus den zartesten Fäden der Sehnsucht und der Träume durfte er seine Fäden spinnen, die zum Subtilsten und Sublimsten gehören, was jemals in der Literatur gewachsen ist und auf denen jener wunderbare Tau glänzt, den nur die Frühverstorbenen haben, die Magie des kurzen Morgens vor dem wirklichen Tag.
Dieses sein empfindsames Wesen, seine schmerzliche Verhaltenheit, seine eingesperrte Sehnsucht, sein tragisches Wissen um die Unerfüllbarkeit seiner tiefsten Wünsche erkennen wir am besten in der sehnsüchtigen Biographie, dem phantastisch und doch zutiefst eigenen Bildnis, das er von sich gegeben im Niels Lyhne, diesem halben Werther, diesem halben Hamlet, diesem halben Peer Gynt, der viel Leidenschaft hat und gar keine Kraft, einen unendlichen Willen zum Leben, und der doch erstickt wird von seinen Träumen und überwältigt von einer schweren Müdigkeit. Er ist ein Mensch mit allen Möglichkeiten, dieser Niels Lyhne, von denen aber keine einzige sich verwirklicht, und sein Leben darum eine ewig ausgespannte farbige Schwinge, die sich nie stürmisch ins Lebendige abstößt. Und diese Halbheit ist eine Tragödie: alles ist er doppelt und nichts ganz, »seine verträumte und doch lebensdürstige Natur«, ein Dichter, der nicht dichtet, ein Liebender, dem alle Geliebten entgleiten, ein wunderbar feines Wesen, das nur Nerven und keine Muskeln hat. »Er wußte nicht, was er mit sich und seinen Gaben anfangen sollte – er besaß Talent und konnte es nicht gebrauchen«, sagt einmal Jacobsen von ihm, diesem seinem zarten Schößling, den er zärtlich umhütet im warmen wollüstigen Treibhaus der Träume. Aber gerade diese Träume sind es, die den Niels Lyhne so schlaff, so schlapp machen, »er dichtet an seinem Leben, statt es zu leben«, er erschöpft sich in Phantasmagorien, in einer genießenden Vorlust der Geschehnisse, die dann nicht kommen, in einem Warten auf das Erleben, über dem er das Leben versäumt. Immer glaubt er, es werde auf ihn zukommen, das rote, das heiße, das glühende Leben, und ihn, der keine Kraft hat, es an sich zu reißen, mitwirbeln in sein glühendes Element, und so wartet er auf dem Blumenbett seiner Träume, allmählich einschläfernd und sich verliegend. Aber die Jahre rinnen leer dahin, und das Wunder geschieht nicht. Und da wird er immer müder – »das ewige Anlaufnehmen zu einem Sprung, der nie kommen würde, hatte ihn ermattet« –, das Gespannte schwindet aus seiner gierigen Seele und sinkt allmählich flügellahm herab; und wie dann das Erlebnis auf ihn zutritt, ist es nicht mehr das Leben, sondern schon der Tod.
So ist »Niels Lyhne« die Geschichte oder die Nichtgeschichte eines Mannes höchster Gaben, dem nur eines fehlt, um wirklich Mann zu sein: Brutalität. Er träumt immer von Kämpfen und vergeudet in diesen Träumen seine Kraft, er lebt von innen heraus, statt sich in das Wirkliche zu wenden. Und dieses ewige Unerfahrensein bei allem höchsten Wissen um sich selbst und um das Geheimste seines Innern macht diese Gestalt Knaben und Frauen, also allen jenen, die vor oder außerhalb des Lebens stehen, allen jenen, die sich immer über das Leben hinwegträumen, so teuer und so unvergleichlich. Denn wieviel Trost ist in diesen wissenden Schwelgereien der aufgeweckten Sinne für Unaufgeblühte und für Verblühte, welche Magie der Ahnung und welche Meisterschaft der Resignation. Der zarte lyrische Dunst, der über allen Szenen liegt, macht darin das ganze Leben märchenhaft, ohne daß es jemals zur Lüge wird, denn niemals stellt Jacobsen irgendeine Gestalt oder eine Situation romantisch, also unwirklich dar, er macht sie nur alle durchaus seelenhaft, durchaus körperlos, er hebt sie in jene Welt der Keats, Novalis und Hölderlin, der andern früh Verstummten, in denen das Leben, die Wirklichkeit gleichsam gewandelt erscheint in Musik. Wer in innerster Seele Tagträumer ist (und was sind Knaben, was sind verblühte Menschen anders als Tagträumer?), erkennt in ihm den Meister aller Träume, der eine unerhörte Wachheit hat im Erkennen, eine unglaubliche Kunst im Schildern, und dabei doch das Traumhafte, das Göttliche, Reine in jeder Empfindung, jedem Geschehnis bewahrt. Träume altern nicht mit den Menschen und den Zeiten: darum bleibt auch diese magische Welt von Ahnung und Verzicht für alle Zeiten wunderbar. Doch dies war es ja eigentlich gar nicht, was Jens Peter Jacobsen wollte, als er seinen »Niels Lyhne« unter die Menschen rief: er wollte sich nicht bloß ausschwelgen in Stimmung und Gedicht, ihm galt es damals mehr, als einen schwachen »Werther« seiner Zeit zu geben, der vom Gerank seiner Träume wie unter Düften erstickt wird. Sein Niels Lyhne, dieser schmächtige Halbdichter, war eigentlich als Kämpfer gedacht, als tragischer Held in dem furchtbarsten Kampf des Geistes, in dem Kampf um Gott. Ihm war die Aufgabe gesetzt, ein Opfer und Märtyrer des Gotteskampfes, des Gottesleugnertums, jenes heroischen Atheismus zu sein, der in die neue Welt die neue Botschaft rief: »Es gibt keinen Gott, und der Mensch ist sein Prophet!« Nicht das, was uns so an dem Buche bezaubert, das Seelisch-Problematische einer der Wirklichkeit nicht gewachsenen Natur, sondern das Geistige eines Ringens gegen Gott war Jacobsen in diesem seinem Roman das Wesentliche: aber freilich, dies vermag unsere Generation nicht mehr ganz zu begreifen an diesem Kampfbuche, weil wir den Kampf nicht mehr als wichtig fühlen. Wir können heute mit dem Herzen nicht mehr jene Literatur des Gotteskampfes, das Ringen um das verlorene Christentum begreifen, das damals die brennendste Frage der nordischen Jugend war und dessen letzte Revolte noch bis in die »Einsamen Menschen« Gerhart Hauptmanns hinüberflackert. Zwei Bücher hatten damals die christlich-gläubige Welt schwankend gemacht: Darwins »Entwicklungsgeschichte« und Renans »Leben Jesu«. Sie hatten unzähligen Menschen ihren Kirchenglauben entzwei gebrochen, indem sie ihnen die Offenbarung rationalisierten. Auch Jacobsen war als der dänische Übersetzer des Darwinschen Buches auf dem Wege über die Naturwissenschaft plötzlich in diesen aufrührerischen Atheismus geraten und wollte nun künstlerisch seine Konsequenzen aus dieser Entscheidung ziehen – freilich nicht so entschlossen großartig wie Nietzsche im gleichen Jahre, anno »Antichrist«, aber auch nicht so plump hochmütig wie Haeckel und seine deutschen Monistentrabanten. Ihm war es darum zu tun, den Gedanken ins Dichterische zu erlösen, den Atheismus als Seelenkraft zu zeigen, als eine Befreiung von innen. Aber wie alles nahm bei ihm auch der Atheismus traumhaft ätherische Formen an – »ihre Freidenkerei war etwas unklar vage und romantisch national«, sagt er in einem Brief von der Generation, die er schildern will, und bekennt, »in meiner Erzählung steht das nur unklar«. Auch zum geistigen Gebilde fehlten ihm jene Muskeln, jene rasende Schwungkraft eines Nietzsche, der mit geballter Faust anrannte gegen Gott und das Christentum; auch hier, im Geisteskampf, konnte Jacobsen nicht hart sein. Und so bricht Niels Lyhne vorzeitig zusammen: der als Knabe trotzig die Hand gegen Gott gehoben, als er ihm Edele nimmt, wirft sich vor seines eigenen Knaben Sterbebett demütig vor dem Verleugneten wieder in die Knie. Ein Besiegter des Lebens kann immer nur Besiegte darstellen, und die Gewalt der Leidenden liegt einzig darin, das Leiden zu verklären. Und Verklärung, Sublimierung, Weltentrückung ist dieses Schwachen höchste Magie. Auch das Geistige in Jens Peter Jacobsen wird niemals zum Begriff, zu geschliffener Wehr, sondern schmilzt hin in Musik und Gedicht, all seine Siege sind im Leise-Werden, und seine Triumphe verklingen als erhabene Resignation.
Aber diese leise Musik Jens Peter Jacobsens, sie gehört zu den unvergeßlichen unserer Welt: nur jene Debussys ist ihr zu vergleichen, der auch seine Harmonien zärtlich durch alle Dissonanzen sucht und, jede Vehemenz wissend vermeidend, eine höchste Wirkung durch Stille findet. Man muß selbst irgendwie bereitet mit Traumfreude, irgendwie imprägniert mit Stille sein, um ihre Musikalität (die andern einförmig und kraftlos scheint) als Vielfalt und Farbensymphonie zu empfinden. Wen aber dieser zitternde zarte Ton einmal im Innersten berührt, wer ihn gespürt und wie eine Sprache beredt empfunden, wird ihn nicht mehr vergessen, und man muß sich nicht schämen, als Knabe, wo man das Wirkliche nur durch einen Morgendunst der Ahnung und alle Gefühle durch ein Sordino der Verhaltenheit empfand, Jacobsen so geliebt zu haben: denn noch immer sind im magischen Schrein seiner Bücher alle Düfte, Stimmen und Essenzen der Natur, alle Kostbarkeiten der Seele versammelt. Und man muß nur wieder zurücklernen, rein, erwartungsvoll und ehrfürchtig zu empfinden, um wieder ganz seines Geheimnisses teilhaftig zu sein.
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