IV.


Und abermals drei Tage, vier Tage, eine ganze wilde Woche ist im Flug vorbei. Im Speisesaal sitzt smokinggerüstet Anthony, mit seiner Frau beim Dinner und knurrt. »Jetzt habe ich aber diese Unpünktlichkeit satt. Das erstemal, well, das kann jedem passieren. Aber den Tag herumzustreunen und einen noch sitzen und warten zu lassen, das ist eine Ungezogenheit. Zum Teufel, was denkt sie sich eigentlich!« Claire beschwichtigt. »Mein Gott, was willst du. So sind sie heute alle, nichts zu machen, Nachkriegserziehung, die kennen nur ihr eigenes Jungsein und ihr Vergnügen.«


Aber Anthony wirft ingrimmig die Gabel auf den Tisch: »Zum Teufel mit diesem ewigen Vergnügen. Ich war auch einmal jung und bin über den Strang gegangen, aber Ungezogenheiten habe ich mir nicht erlaubt und hätt’ mir’s auch nicht erlauben dürfen. Die zwei Stunden im Tage, wo dein Fräulein Nichte noch geruht, uns die Ehre ihrer Gegenwart zu erweisen, hat sie pünktlich zu sein. Und dann noch eins bitt’ ich mir aus – sage ihr das endlich einmal, und zwar gründlich! –, daß sie nicht jeden Abend diesen Haufen Burschen und Mädel an unsern Tisch schleppt; was geht mich dieser stiernackige Deutsche an mit seiner kahlgeschorenen Sträflingsfrisur und seinem Kaiser-Wilhelm-Geschnarr und der jüdische Referendar mit seinen ironischen Gescheitheiten und diese Flapper aus Mannheim, die ausschaut wie aus einer Bar geborgt. Nicht einmal meine Zeitung kann ich lesen, immer wirbelt und paukt und lärmt das hin und her: wie komme ich dazu, mich mit solchen windigen Rotznasen zusammenspannen zu lassen. Heute abends bitte ich mir jedenfalls meinen Frieden aus, und wenn sich auch einer von dieser lauten Bande an meinen Tisch setzt, schmeiß ich alle Gläser um.« Claire widerspricht nicht direkt, sie weiß, es tut nicht gut, sobald einmal blaue Adern oben an seiner Stirn aufzittern; was sie ärgert, ist eigentlich, daß sie Anthony recht geben muß. Anfangs war sie selbst es gewesen, die Christine in diesen Wirbel hineinschob, es hatte ihr Spaß gemacht zu sehen, wie flink und geschickt ihr Mannequin sich in die Toiletten hineinpaßte; aus ihrer eigenen Jugend dämmert noch ein verworrenes Erinnern an die Entzückung, wie sie das erstemal sich nobel auftun und mit ihrem Gönner bei Sacher speisen durfte. Aber tatsächlich, in diesen letzten zwei Tagen hat Christine jedes Maß verloren: wie jeder Trunkene spürt sie nur sich und ihre wirbelnde Seligkeit, sie merkt zum Beispiel nicht, daß abends der alte Mann schon schläfrig den Kopf sinken läßt, merkt es selbst dann nicht, wenn die Tante eindringlich mahnt: »Komm, es wird schon spät« – eine Sekunde schreckt sie nur aus ihrem Taumel auf. »Ja, selbstverständlich, Tante, nur diesen einen Tanz noch habe ich versprochen, nur diesen einen Tanz.« Aber in der nächsten Sekunde – und sie hat alles vergessen, sie merkt nicht einmal, daß der Onkel des Wartens überdrüssig vom Tisch aufgestanden ist, ohne ihr gute Nacht zu sagen, und denkt gar nicht daran, er könnte böse sein; überhaupt, böse und gekränkt, wer könnte das sein in dieser wunderbaren Welt! Derart unfaßbar ist ihr, daß nicht alle brennen vor Begeisterung, nicht jeder flackert und fiebert vor Übermut, vor hitzigem Behagen, daß sie im Wirbel das Gleichgewicht verliert. Zum erstenmal seit achtundzwanzig Jahren hat sie sich selbst entdeckt, und diese Entdeckung ist dermaßen berauschend, daß sie an alle Menschen außer sich selbst vergißt.


Auch jetzt stürmt sie, von der eigenen Hitze getrieben, angeschnurrt wie ein Kreisel, in den Speisesaal, sich noch im Gehen ungeniert die Handschuhe abreißend (wer kann hier etwas übelnehmen?), lacht den beiden jungen Amerikanern im Vorbeigehen ein lustiges Hallo zu (sie hat allerhand gelernt) und steuert querhin zur Tante, die sie zärtlich von rückwärts anfaßt und auf die Wange küßt. Dann erst ein kleines Erschrecken: »Oh, ihr seid schon so weit? Verzeihung! … Ich hab’s gleich den beiden Kerlen gesagt, dem Percy und dem Edwin, ihr macht es nicht mit eurem schäbigen Ford in vierzig Minuten bis zum Hotel und wenn ihr noch so anpüllt! Aber sie haben’s mir nicht geglaubt … Ja, Kellner, Sie können schon servieren, gleich beide Gänge, damit ich euch einhole … also ja, der Ingenieur hat selbst gelenkt, er fährt famos, aber ich hab’s gleich gemerkt, der alte Klapperkasten kommt nicht über achtzig, da saust der Rolls Royce von Lord Elkins anders, und wie das federt … übrigens, die Wahrheit zu sagen, vielleicht war’s auch, weil ich selber ein bißchen das Lenken probiert hab’, natürlich Edwin neben mir… ganz leicht ist es, die ganze Zauberei … und dann fahre ich dich, Onkel, als ersten aus, nicht wahr, du traust dich doch … aber Onkel, was hast du denn? Bist mir doch nicht bös wegen dem bissel zu spät, nicht wahr, nein? … Ich schwör dir, es war nicht meine Schuld, ich hab’s ihnen gleich gesagt, sie machen es nicht in vierzig Minuten … aber man soll sich wirklich nur auf sich selber verlassen … ausgezeichnet ist diese Pastete, und der Durst, den ich hab’! … Ach, man weiß gar nicht, wie gut man’s hat bei euch. Morgen nachmittag soll’s wieder losgehen bis nach Landeck hinein, aber ich hab’ gleich gesagt, ich tu nicht mit, ich muß doch mit euch einmal wieder Spazierengehen, aber man hat hier wirklich keine Ruhe …«


Das prasselt und flackert nur so herunter wie Feuer vom dürren Holz. Erst nach einiger Zeit, da sie ganz erschöpft stockt, bemerkt Christine, daß ihr passioniertes Erzählen gegen ein hartes und kaltes Schweigen stößt. Der Onkel blickt starr auf den Fruchtkorb, als interessierten ihn die Orangen dort mehr als das ganze Geschwätz, die Tante spielt nervös mit den Bestecken. Keiner spricht ein Wort. »Du bist doch nicht ungehalten, Onkel, ernstlich ungehalten?« fragt Christine beunruhigt. »Nein«, murrt er, »aber mach, daß du fertig wirst.« So ärgerlich fährt’s ihm heraus, daß es Claire peinlich berührt, denn Christine sitzt sofort kleinlaut da, wie ein geschlagenes Kind. Sie wagt nicht aufzublicken, den halbzerschnittenen Apfel hat sie verschüchtert auf den Teller gelegt, und um den Mund zuckt es hin und her. Rasch greift die Tante ein; um abzulenken, wendet sie sich an Christine und fragt: »Was hörst du denn von Mary? Hast du gute Nachrichten von zu Hause? Ich wollte dich schon die ganze Zeit fragen.« Aber Christine wird noch blasser, sie spürt ein Zittern bis zu den Zähnen. Um Himmels willen, daran hat sie noch gar nicht gedacht! Seit einer Woche sitzt sie jetzt hier herum, und es ist ihr gar nicht aufgefallen, daß sie nicht eine einzige Zeile Post bekommen hat, das heißt, zwischendurch in flüchtigen Augenblicken hatte sie sich gewundert und immer wieder vorgenommen, zu schreiben, aber dann kam immer wieder ein Wirbel dazwischen. Jetzt fällt ihr das Versäumte wie ein Hieb aufs Herz. »Ich kann mir’s nicht erklären, keine einzige Zeile habe ich bisher von zu Hause. Ob am Ende etwas verlorengegangen ist?« Jetzt wird auch das Gesicht der Tante spitz und streng. »Merkwürdig«, sagt sie, »sehr merkwürdig! Aber vielleicht kommt’s davon, daß man dich hier nur als Miss van Boolen kennt und die Briefe für Hoflehner liegen unbehoben beim Portier. Hast du bei ihm nachgefragt?« »Nein«, atmet Christine ganz still und niedergeschmettert. Sie erinnert sich deutlich, dreimal oder viermal, eigentlich jeden Tag hat sie fragen wollen, aber immer war etwas los, immer wieder hat sie darauf vergessen. »Entschuldige, Tante, einen Augenblick!« springt sie empor. »Ich will gleich nachsehen.«


Anthony läßt die Zeitung sinken, er hat alles gehört. Zornig blickt er ihr nach. »Da hast du’s! Die Mutter schwerkrank, sie hat’s selber erzählt, und sie fragt nicht einmal nach, nur hin und her flappern den ganzen Tag! Jetzt siehst du, ob ich recht hatte.« »Wirklich unglaublich«, seufzt die Tante, »in acht Tagen nicht ein einziges Mal nachzufragen, wo sie doch weiß, wie es mit Mary steht. Und anfangs war sie so rührend besorgt um die Mutter, mit Tränen in den Augen hat sie mir erzählt, wie schrecklich es ihr war, sie allein zurückzulassen. Unglaublich, wie sie sich verändert hat.«


Inzwischen ist Christine zurückgekommen, mit ganz andern, ganz kleinen Schritten, verwirrt und beschämt. Ganz dünn setzt sie sich in den breiten Fauteuil, am liebsten möchte sie sich ducken wie vor einem verdienten Schlag. Tatsächlich, drei Briefe und zwei Karten sind beim Portier unbehoben gelegen, jeden Tag hat mit rührender Sorgfalt Fuchsthaler genaue Nachrichten gesandt, und sie – wie ein Stein fällt es auf ihr Gewissen – sie hat nur einmal eine einzige Karte mit Bleistift von Celerina rasch hingeschmiert. Nicht ein einziges Mal hat sie den schön schraffierten, den zärtlich gezeichneten Plan des braven verläßlichen Freundes mehr angesehen, sie hat seine kleine Gabe überhaupt nicht aus dem Koffer genommen; weil sie unbewußt ihr früheres, ihr anderes, ihr Hoflehner-Ich vergessen wollte, hat sie das Ganze hinter ihr, die Mutter, die Schwester, den Freund vergessen. »Nun«, fragt die Tante, da sie sieht, daß Christine die Briefe ungeöffnet in der Hand beben, »willst du sie nicht lesen?« »Ja, ja, gleich«, murmelt Christine. Gehorsam reißt sie die Couverts auf und fliegt, ohne auf das Datum zu achten, die klaren und sauberen Zeilen Fuchsthalers durch: »Heute geht es gottlob etwas besser«, steht in dem einen, und in dem andern: »Da ich Ihnen ehrenwörtlich versprochen habe, verehrtes Fräulein, ehrliche Nachrichten über das Befinden Ihrer sehr verehrten Frau Mutter zu geben, muß ich leider mitteilen, daß wir gestern nicht ohne Sorge waren. Die Aufregung über Ihre Abreise hat nicht ungefährliche Erregungszustände verursacht …« Sie blättert hastig weiter. »Die Injektion hat eine gewisse Beruhigung erzielt, und wir hoffen wieder das Beste, wenn auch die Gefahr eines neuerlichen Anfalls nicht gänzlich ausgeschaltet ist.« »Nun«, fragt die Tante, die Christines Erregung bemerkt, »wie geht es der Mutter?« »Ganz gut, ganz gut«, sagt sie aus lauter Verlegenheit, »das heißt, Mutter hat wieder Beschwerden gehabt, aber es ist schon vorbei, und sie grüßt vielmals, und auch die Schwester läßt die Hand küssen und vielmals danken.« Aber sie glaubt selbst nicht, was sie sagt. Warum schreibt die Mutter selbst nicht, nicht eine Zeile, denkt sie nervös, ob ich nicht lieber telegrafieren sollte oder versuchen, telefonisch das Postamt anzurufen, meine Stellvertreterin weiß doch gewiß Bescheid. Jedenfalls muß ich gleich schreiben, wirklich eine Schande, daß ich es noch nicht getan habe. Sie wagt nicht, die Augen zu heben, aus Furcht, dem beobachtenden Blick der Tante zu begegnen. »Ja, es wird gut sein, wenn du ihnen einmal ausführlich schreibst«, sagt die Tante, als hätte sie ihren Gedanken erraten. »Und von uns beiden sag die herzlichsten Grüße. Übrigens, auch wir gehen heute nicht in die Halle, sondern gleich hinauf in unser Zimmer, Anthony strengt dieses tägliche Aufbleiben doch zu sehr an. Gestern konnte er überhaupt nicht mehr einschlafen, und schließlich ist er auch zu seiner Erholung da.« Christine spürt den versteckten Vorwurf. Sie erschrickt, das Herz wird ihr plötzlich klein und kalt. Beschämt nähert sie sich dem alten Mann. »Bitte, Onkel, nimm’s mir nicht übel, ich konnte nicht ahnen, daß es dich anstrengt.« Der alte Mann, halb noch gekränkt, halb schon gerührt von ihrem demütigen Ton, knurrt abwehrend. »Ach was, wir alten Leute schlafen immer schlecht. Hie und da macht’s mit ja Spaß so im Wirbel zu sein, aber nicht jeden Tag. Und schließlich, jetzt brauchst du uns nicht mehr, du hast ja Gesellschaft genug.«


»Nein, keinesfalls, ich gehe mit euch.« Vorsichtig hilft sie dem alten Mann in den Lift hinein und führt ihn so sorglich und zärtlich, daß der Unmut der Tante allmählich schmilzt. »Du mußt verstehen, Christl, man will dir ja kein Vergnügen nehmen«, sagt sie, während sie die zwei Stockwerke hinaufsausen, »aber dir wird’s auch nur gut tun, dich einmal gründlich auszuschlafen, sonst übermüdest du dich und deine ganze Erholung geht darauf. Es kann nicht schaden, wenn du einmal eine Pause machst in dem Wirbel. Bleib heute nur ruhig in deinem Zimmer und schreib Briefe, offen gesagt, es paßt sich nicht, wenn du immer allein mit den Leuten herumziehst, und außerdem, ich bin nicht übermäßig von allen entzückt. Ich hätte dich lieber mit General Elkins gesehen als mit diesem jungen ›Ich-weiß-nicht woher‹. Glaub mir, du tust besser, du bleibst heute oben.«


»Ja, ich versprech’s dir, Tante«, sagt Christine ganz demütig. »Du hast recht, ich weiß selbst. Es war nur so … ich weiß nicht, wie … diese Tage haben mich ganz wirr und wirbelig gemacht, vielleicht ist es auch die Luft und das alles. Aber ich bin selbst froh, daß ich einmal ruhig nachdenken und Briefe schreiben kann. Ich gehe gleich hinüber, du kannst dich verlassen. Gute Nacht!«


Sie hat recht, denkt Christine, ihr Zimmer aufsperrend, und sie meint es mir doch nur gut. Wirklich, ich hätte mich nicht so treiben lassen sollen, wozu diese Hetzerei, ich hab doch noch Zeit, acht Tage, neun Tage, und schließlich, wenn ich mich krank melde und um Verlängerung telegrafiere, was kann mir geschehen, ich hab’ doch noch nie Urlaub gehabt und nie einen Tag in den Dienstjahren gefehlt. Sie glauben es mir schon in der Direktion, und die Substitutin ist doch nur froh. Wunderbar, wie ruhig es hier ist, in dem schönen Zimmer, keinen Ton hört man herauf, endlich kann man einmal nachdenken, alles besinnen. Ja, und die Bücher, die Lord Elkins mir geliehen hat, die muß ich doch endlich lesen – nein, erst die Briefe, ich bin doch heraufgekommen, meine Briefe zu schreiben. Eine Schande, acht Tage keine Zeile an die Mutter, an die Schwester, an den braven Fuchsthaler, der Assistentin soll ich doch auch eine Ansichtskarte schicken, das gehört sich doch, und den Kindern der Schwester habe ich auch eine versprochen. Und noch was habe ich versprochen, was nur – mein Gott, ich bin ganz konfus, was hab ich denn wem versprochen – ach so, dem Ingenieur, daß wir morgen früh zusammen den Ausflug machen. Nein, keinesfalls allein mit ihm, nur nicht mit ihm, und dann – morgen muß ich doch mit dem Onkel und der Tante sein, nein, ich gehe nicht mehr mit ihm allein … Aber eigentlich sollte ich dann absagen, sollte rasch hinuntergehen, daß er dann morgen nicht umsonst wartet … nein, ich hab doch der Tante versprochen, ich bleib’ hier … Übrigens, ich kann’s doch durchs Telefon dem Portier hinuntersagen, er soll’s ihm ausrichten … durchs Telefon, ja, so ist’s am besten. Nein, doch nicht … Wie sieht das aus, sie glauben am Ende, ich bin krank oder hab’ Hausarrest, und die ganze Bande macht sich lustig über mich. Besser, ich schick’ ihm paar Zeilen hinunter, ha, so mach ich’s lieber, und die andern Briefe spedier’ ich gleich mit, damit sie der Portier morgen früh auf die Post gibt … Donnerwetter … Wo steckt denn das Briefpapier? … Nein, sowas, die Mappe leer, das sollte in einem so noblen Hotel doch nicht vorkommen … einfach ausgeräumt … Nun, man kann ja läuten, das Dienstmädchen holt gleich eins herauf … aber kann man wirklich noch läuten, jetzt nach neun, wer weiß, die schlafen alle schon, und vielleicht sieht’s sogar komisch aus, man schellt eigens in der Nacht wegen paar Bogen Papier … besser ich spring’ selbst hinunter und hol’ mir’s aus dem Schreibzimmer … Wenn ich nur nicht Edwin in den Weg laufe … Die Tante hat recht, ich sollte ihn nicht so nah an mich heranlassen … Ob er sich das auch gegen andere erlaubt, wie das heut nachmittag im Auto … die ganzen Knie entlang, ich verstehe gar nicht, wie ich mir’s hab gefallen lassen können … Ich hätt eigentlich wegrücken sollen und mir das verbitten … ich kenne ihn doch erst paar Tage. Aber ganz gelähmt war ich davon … schrecklich, wie man plötzlich ganz schwach, ganz willenlos wird, wenn ein Mann einen so anrührt … das hätt’ ich mir nie vorstellen können, daß einen plötzlich die Kraft ausläßt… Ob andere Frauen auch so sind … nein, das sagt einem keine, so frech sie sonst reden, so tolle Geschichten sie einem erzählen … Irgend etwas hätt’ ich doch tun sollen, sonst glaubt er am Ende, man läßt sich von jedem so anfassen … oder bildet sich ein, man will es haben … Schauerlich, wie das war, dieses Rieseln die Haut entlang bis in die Zehen … wenn er das einem jungen Mädel macht, ich verstehe, daß die toll wird – und wie er mir an den Kurven den Arm plötzlich preßte, schrecklich wie er … ganz schmale Finger hat er, nie hab ich bei einem Mann so weibisch gepflegte Nägel gesehen, und doch, wenn er zupackt, fühlt man’s wie eine eiserne Klammer … ob er das wirklich bei jeder tut… Wahrscheinlich mit jeder … ich muß ihn wirklich daraufhin beobachten nächstens, wenn er tanzt… Schrecklich, daß man so gar nichts weiß, jede andere kennt in meinem Alter sich aus, sie würde sich schon Respekt verschaffen können … Oder nein, was hat Carla erzählt, wie hier die Türen gehen die ganze Nacht… ich muß gleich den Riegel vorschieben … Wenn sie nur zu einem aufrichtig waren, nicht so ein Hin und Her und Dran-Vorbei, wenn man nur wüßte, wie’s die andern tun, ob’s die auch so packt und wirr macht … Mir ist so etwas nie passiert! Ja, doch einmal vor zwei Jahren, wie der elegante Herr mich angesprochen hat auf der Währinger Straße, ganz ähnlich hat er ausgesehen, auch so hoch und straff … schließlich, es wäre nichts dabei gewesen, ich hätt’ damals, wie er mich eingeladen hat, mit ihm genachtmahlt… alle machen doch so Bekanntschaft. Aber damals hab’ ich Angst gehabt, ich komm’ zu spät nach Haus… mein ganzes Leben lang hab’ ich diese dumme Angst gehabt und hab’ Rücksicht genommen auf jeden, auf alle… und dabei geht die Zeit weg und man kriegt Falten um die Augenwinkel … Die andern, die waren gescheiter, die haben’s besser verstanden … Wirklich, ob noch ein anderes Mädel hier sitzen tat, allein im Zimmer, und unten ist es lustig und hell… nur weil der Onkel müd’ ist… Keine würde so sitzen bleiben am frühen Abend … wieviel Uhr ist denn eigentlich … neun Uhr erst, neun Uhr… bestimmt werde ich nicht schlafen können, ausgeschlossen … mir ist so furchtbar heiß auf einmal… Ja, das Fenster auf … wie gut das tut, die Kälte auf die nackte Schulter … ich soll achtgeben, daß ich mich nicht verkühle … Ach was, immer diese dumme Ängsterei, immer diese Vorsicht, Vorsicht … Was hat man schon davon … ah, wunderbar die Luft durch das dünne Kleid, ganz nackt fühlt man sich darin … wozu hab’ ich’s eigentlich angezogen und für wen, dieses schöne Kleid… kein Mensch sieht einen dann, wenn man hier im Zimmer hockt… Ob ich nicht noch rasch hinunterlaufen sollt’?… Ich müßt’ mir doch Briefpapier holen, oder eigentlich, ich könnte sie unten schreiben, die Briefe im Schreibzimmer … Da ist doch wirklich nichts dabei … Brrr, eiskalt ist das geworden, ich mach’ lieber doch das Fenster zu: eiskalt ist es jetzt herin’ … und da soll man im leeren Sessel sitzen?… Unsinn, ich lauf hinunter, da wird mir gleich warm… Aber wenn mich Elkins sieht und erzählt’s morgen der Tante, oder sonst wer?… Ach was … dann sage ich eben, ich habe die Briefe zum Portier hinuntergegeben … da kann sie doch wirklich nichts sagen … ich bleib’ doch nicht unten, nur die Briefe schreib’ ich, die zwei Briefe, dann gleich wieder herauf … Wo ist mein Mantel? Aber nein, keinen Mantel, ich komme doch gleich wieder herauf, nur die Blumen … nein, die sind von Elkins … Ach was, gleichgiltig, die passen dazu … Vielleicht daß ich zur Vorsicht noch an der Tür der Tante vorbeischau’, ob sie schon schläft … Unsinn, was brauche ich das … ich bin doch kein Schulmädel mehr … immer diese blöde Angst! Ich werde doch keinen Permiß brauchen, wenn ich für drei Minuten hinterlauf’. Also vorwärts …


Und rasch, hastig und scheu läuft sie, wie um das eigene Zögern zu überrennen, die Treppe hinab.


Wirklich, es ist gelungen, von der Halle, die von Tanz und Menschen brodelt, unbemerkt ins Schreibzimmer zu flüchten. Der erste Brief ist geschrieben, der zweite wird eben fertig. Da spürt sie auf der Schulter eine Hand. »Arretiert! So ein Raffinement, sich hier zu verstecken. Seit einer Stunde fahre ich in allen Ecken herum nach dem Fräulein von Boolen, alle Leute frage ich, sie lachen mich schon aus, und da sitzt sie geduckt wie das Häschen im Korn. Jetzt aber gleich los!« Der hohe schlanke Mann steht hinter ihr, wieder spürt sie den verhängnisvollen Griff bis in die Nerven hinab. Sie lächelt schwach, zugleich erschreckt von dem Überfall und doch entzückt, daß schon eine halbe Stunde ihm genügt hatte, sie so sehr zu vermissen. Aber immerhin, sie hat noch genug Kraft zur Abwehr. »Nein, ich kann heute nicht tanzen, ich darf nicht. Ich habe noch Briefe zu schreiben, sie müssen noch mit dem Frühzug fort. Und dann, ich hab’ meiner Tante versprochen, heute abends oben zu bleiben. Nein, ausgeschlossen, ich darf nicht. Sie wäre schon böse, wenn sie wüßte, daß ich noch einmal heruntergekommen bin.«


Konfidenzen sind immer gefährlich, denn ein Geheimnis, einem Fremden anvertraut, löst die Fremdheit zu ihm. Man hat etwas von sich weggegeben, und ihm damit einen Vorteil. Tatsächlich, sofort wird der hart begehrende Blick vertraulich: »Aha, durchgebrannt! Ohne Urlaubsschein. Na, keine Angst, ich werde Sie nicht verzünden, ich nicht … Aber jetzt, wo ich mir die Beine eine Stunde lang in den Leib gestanden habe, laß ich Sie nicht so leicht wieder frei, nein, nicht zu denken daran. Wer A sagt, muß auch B sagen, wenn Sie schon einmal heruntergekommen sind ohne Permiß, so bleiben Sie jetzt ohne Permiß mit uns.«


»Was fällt Ihnen ein! Unmöglich. Am Ende kommt die Tante noch herunter. Nein, ausgeschlossen!«


»Nun, das wollen wir gleich dokumentarisch feststellen, ob Tantchen schon schläft. Kennen Sie die Fenster?« »Aber warum?« »Sehr einfach, wenn die Fenster dunkel sind, dann schläft Tante schon. Und wer einmal ausgezogen im Bett liegt, zieht sich nicht eigens an, um nachzusehen, ob das Kindchen brav ist. Mein Gott, wie oft sind wir im Technikum ausgerückt, Wohnungsschlüssel und Haustorschlüssel gut geölt und in bloßen Strümpfen bis zum Hausflur hinunter. So ein Abend war immer siebenmal so lustig wie die feierlich beurlaubten. Also los, zur Konstatierung!« Unwillkürlich muß Christine lächeln; wie leicht, wie locker sich hier alles löst, wie hier alle Schwierigkeiten sich entwirren! Ein Kleinmädelübermut kitzelt sie, ihre allzustrengen Wächter zum Narren zu halten. Aber nur nicht zu rasch nachgeben, denkt sie sich. »Ausgeschlossen, ich kann doch nicht so hinaus in die Kälte! Ich habe gar keinen Mantel mit.«


»Dafür haben wir Ersatz. Einen Augenblick«, und schon springt er hin zur Garderobe und holt seinen Ulster, der dort weich und wollig hängt. »Wird schon passen, nur hinein!«


»Aber ich sollte doch …« denkt sie und denkt dann doch wieder nicht mehr weiter, was sie eigentlich soll, denn schon hat er ihr einen Arm hineingeschoben in den weichen Rock, jetzt wäre Widerstand kindisch, lachend und spitzbübisch behaglich wickelt sie sich in das fremde, männische Kleid hinein. »Nicht durch den großen Ausgang«, lächelt er in ihren verhüllten Rücken, »hier durch die Seitentür, und gleich machen wir der Tante die Fensterpromenade.« »Aber wirklich nur einen Augenblick«, sagt sie, und kaum im Dunkel, fühlt sie schon seinen Arm wie selbstverständlich untergeschoben. »Nun, wo sind die Fenster?« »Links im zweiten Stock, dort das Eckzimmer mit dem Balkon.« »Dunkel, stockdunkel, hurra! Kein Zwirnsfaden Licht, die schlafen schon ausgiebig. So, und jetzt übernehme ich die Führung. Zunächst einmal zurück in die Halle!« »Nein, um keinen Preis! Wenn Lord Elkins oder wer anderer mich dort sieht, der erzählt’s sofort morgen zurück, und sie sind ohnehin schon ganz böse auf mich … Nein, ich gehe gleich hinauf.«


»Dann anderswohin, in die Bar nach St. Moritz. Zehn Minuten Auto und wir sind drüben, dort kennt Sie niemand und niemand kann Sie vertratschen.«


»Was denken Sie! Sie haben Ideen! Wenn mich hier jemand mit Ihnen einsteigen sieht ins Auto – das ganze Hotel würde vierzehn Tage nichts anderes reden.« »Dafür wird gesorgt, das überlassen Sie mir. Selbstverständlich steigen Sie nicht vor der Haustür offiziell ein, wo die verehrliche Hoteldirektion vierzehn Bogenlampen knattern läßt. Sie gehen dort den Waldweg vierzig Schritte bis tief in den Schatten, in einer Minute komme ich mit dem Auto nach, und in fünfzehn Minuten sind wir drüben. Abgemacht, erledigt.«


Immer wieder staunt Christine, wie leicht sich hier alles löst. Ihr Widerstand zeigt schon halbe Zustimmung. »Wie einfach Sie sich das vorstellen.« »Einfach oder nicht einfach, aber so ist’s und so wird’s gemacht. Ich laufe gleich hinüber und lasse ankurbeln. Sie gehen inzwischen voraus.« Noch einmal, schwächer schon, schaltet sie zögernd ein: »Aber wann sind wir zurück?«


»Mitternacht spätestens.«


»Ihr Ehrenwort?«


»Mein Ehrenwort.«


Ein Ehrenwort dient einer Frau immer als Geländer, an das sie sich anklammert, ehe sie fällt. »Also gut, ich verlasse mich auf Sie.«


»Immer scharf links hinüber bis zur Straße und nicht an den Bogenlampen vorbei. In einer Minute komme ich nach.«


Während sie in die vorgeschlagene Richtung geht (warum gehorche ich ihm eigentlich so?), fällt ihr ein, ich sollte doch eigentlich … ich sollte doch … aber weiter kann sie nicht denken, nicht sich erinnern, was sie eigentlich sollte, denn schon intrigiert sie das neue Spiel, eingemummt in eines fremden Mannes Mantel, indianerhaft heimlich durch das Dunkel zu streifen, wieder einmal, wieder einmal aus ihrem sichtbaren Leben heraus in andere Verwandlung, abermals eine andere, als die sie sich bislang gekannt. Nur einen Augenblick muß sie im Waldesschatten warten, dann tasten schon zwei breite Lichtfinger die Straße entlang, silbern fährt der aufgeblendete Scheinwerfer zwischen die Tannen, und offenbar hat der Führer sie bereits erspäht, denn mit einem Schlag stoppen die scharfen, schneidenden Lichter ab und der Wagen, massig und schwarz, knirscht bis knapp an sie heran. Jetzt löschen diskret auch die Innenlichter, nur der blaue Schein um den Geschwindigkeitszähler schneidet einen winzigen Kreis Farbe in die Finsternis. So schwarz trifft sie das plötzliche Dunkel nach dem eben noch schmetternden Lichtguß, daß Christine nichts unterscheiden kann, aber da öffnet sich schon der Wagenschlag, eine Hand kommt, hilft herein, hinter ihr knackt die zugefallene Klinke, gespenstig schnell das alles, wirbelnd und abenteuerlich wie im Kino; ehe sie Zeit findet Atem zu holen oder etwas zu sagen, zieht das Auto schon wieder scharf an, und in diesem ersten Ruck, der ihr den Körper unwillkürlich zurückwirft, fühlt sie sich schon umarmt und gefaßt. Sie will sich wehren, ängstlich deutet sie auf den Rücken des Chauffeurs, der wie ein kleines Gebirge am Steuer vor ihnen starr und unbeweglich sitzt, sie hat Scham vor diesem nahen Zeugen und weiß sich anderseits gerade durch seine Gegenwart vor dem Äußersten beschützt. Aber der Mann neben ihr antwortet mit keinem Wort. Sie fühlt nur warm und dringend ihren Körper umfaßt, seine Hände an den ihren, nun an ihren Armen, nun an ihren Brüsten und jetzt einen herrisch fremden, gewaltsamen Mund, der den ihren sucht, der heiß und feucht ihre allmählich nachgebenden Lippen aufbricht. Unbewußt hat sie all dies nur gewollt und erwartet, dieses Hart-Angefaßtwerden, diese heillose Jagd der Küsse über Hals und Schultern und Wangen, bald da, bald dort das heiße Brandmal auf der zuckenden Haut, und das Leiseseinmüssen vor dem Zeugen steigert auf irgendeine Art noch den Rausch in diesem brennenden Spiel. Geschlossenen Auges, ohne Wort und Willen, sich zu wehren, läßt sie sich das atmende Stöhnen vom Munde wegsaugen und genießt aus dem ganzen gebäumten, bebenden Leib empor die Lust der Lippen mit. Das alles dauert, sie weiß nicht wie lange, in einem Jenseits von Raum und Zeit, löst sich erst jäh, wie nach deutlicher Hupenwarnung des Chauffeurs, das Auto die beleuchtete Straße einfährt und vor der Bar des großen Hotels stoppt.


Sie steigt aus, verwirrt, taumelnd, beschämt und richtet schnell dabei das zerdrückte Kleid, das durchgeschüttelte, zerküßte Haar. Ob es nicht jeder merken wird, aber nein, niemand sieht sie auffällig an, in der halbdunklen, überfüllten Bar, höflich geleitet man sie an einen Tisch. Ein Neues wird ihr bewußt, ein wie undurchsichtiges Geheimnis das Leben einer Frau sein kann, wie meisterlich die Maske gesellschaftlicher Haltung auch leidenschaftlichste Erregung deckt. Nie hätte sie für möglich gehalten, daß sie, die Haut noch versengt von seinen Küssen, so aufrecht, ruhig, kühl und klar neben einem Manne sitzen könne und locker mit seiner gutgeplätteten Hemdbrust Konversation machen, und vor zwei Minuten hat man noch diese Lippen gefühlt bis an die harten, verklammerten Zähne, hat sich gebogen unter der Wucht seiner Umpressung, und niemand ahnt hier unter den Menschen das geringste. Wieviele Frauen haben sich so vor mir verstellt, denkt sie erschreckt, wieviele von denen, die ich kannte zu Hause und im Dorf. Alles hat doppelt gelebt, vielfach und hundertfach, heimlich und offenbar, während ich treuherzige Närrin mir an ihrer Zurückhaltung ein Beispiel nahm. Da spürt sie unter dem Tisch sein Knie sprechend herangeschoben. Sofort strömt ihr Blick über, sie sieht wie zum erstenmal sein Gesicht hart, braun, energisch, mit dem befehlenden Mund unter dem schmalen Bart, sie spürt seine Augen grüßend in sie hineindringen. Unwillkürlich zündet dies alles in ihr einen Stolz. Dieser feste, männliche Mann will mich, nur mich allein und keiner weiß es, nur ich. »Wollen wir tanzen?« fragt er. »ja«, antwortet sie, und in diesem Ja ist mehr. Zum erstenmal ist ihr der Tanz nicht genug und die gemessene Berührung nur ungeduldige Vorahnung leidenschaftlicherer und hemmungsloserer Umarmung; sie muß sich beherrschen, um dies nicht sichtbar zu verraten.


Hastig trinkt sie ein, zwei Cocktails, die Lippen verbrannt von den Küssen, von den empfangenen oder von jenen, die sie noch begehrt. Schließlich erträgt sie es nicht mehr, dieses Dasitzen unter den Menschen. »Wir müssen nach Hause«, sagt sie. »Ganz wie du willst.« Zum erstenmal hört sie sein Du, es wirkt wie ein weicher Stoß ins Herz, und ganz selbstverständlich fällt sie beim Einsteigen ins Auto in seine Arme hinein. Zwischen die Küsse strömen jetzt drängende Worte. Nur eine Stunde solle sie zu ihm, ihr Zimmer sei im gleichen Stockwerk, niemand vom Personal sei jetzt noch wach. Sie trinkt die leidenschaftlichen Beschwörungen wie flüssiges Feuer in sich hinein. Ich habe noch Zeit, denkt sie verworren, mich zu wehren, während sie schon ganz überströmt ist von der Welle. Sie spricht nicht und antwortet nicht und empfängt nur aufgetan den Andrang dieser Worte, die sie zum erstenmal von einem Manne hört.


An der gleichen Stelle, wo sie eingestiegen ist, macht das Auto halt. Unbeweglich bleibt der Rücken des Chauffeurs, während sie den Wagen verläßt. Sie geht allein in das Hotel zurück, die Bogenlampen vor dem Eingang sind schon ausgelöscht, und rasch durch die Halle; sie weiß, bestimmt kommt er ihr nach, und schon hört sie ihn, sportlich leicht drei Stufen auf einmal nehmend, ganz nah hinter sich. Gleich wird er mich fassen, fühlt sie, und plötzlich packt sie eine wirre, wahnwitzige Angst. Sie beginnt zu laufen und bleibt ihm voran: ein Sprung in die Tür und den Riegel vorgeschoben. Und dann hinbrechend auf einen Sessel, ein einziger beglückter Atemstoß: Gerettet!


Gerettet, gerettet! Die Gelenke beben ihr noch: eine Minute und es wäre zu spät gewesen, schrecklich, wie unsicher, wie hinfällig, wie schwach ich geworden bin, jeder könnte mich nehmen in so einem Augenblick, das habe ich früher nie gekannt. Ganz sicher war ich doch schrecklich, wie einen das aufwühlt und nervös macht! Ein Glück, daß ich noch die Energie hatte, hier rechtzeitig herein und die Tür vor ihm zu, weiß Gott, was sonst geschehen wäre.


Sie streift rasch im Dunkel die Kleider ab, heftig hämmert das Herz. Aber wie sie geschlossenen Auges dann im Bett liegt, weich die Glieder in der warmen Umfassung der Daunen, bebt die Haut noch von der langsam abklingenden Erregung. Unsinn, denkt sie, warum ängstige ich mich eigentlich so sehr. Achtundzwanzig Jahre alt und immer noch sich sparen und verweigern, immer noch warten und zögern und sich fürchten. Warum spar’ ich mich denn und für wen? Der Vater hat gespart und die Mutter und ich, alle, alle haben wir gespart in diesen gräßlichen Jahren, während die andern gelebt haben; immer habe ich keinen Mut gehabt, zu nichts, und wer hat’s uns vergolten? Und mit einmal ist man alt und abgeblüht und stirbt und weiß nichts und hat nicht gelebt und nichts gewußt, und drüben beginnt dann wieder das kleine Leben, das gräßlich enge, und hier, hier ist alles, und man muß es nehmen, doch ich fürchte mich, ich sperr’ mich und spar’ mich wie ein halbwüchsiges Mädel, feig, feig und dumm, Unsinn, Unsinn? Ob ich nicht doch den Riegel aufschieben sollte, vielleicht … nein, nein, nicht heute. Aber ich bleibe doch hier, acht Tage, vierzehn Tage, wunderbare, unendliche Zeit! Nein, ich werde nicht mehr so dumm sein, so feig sein, alles nehmen, alles genießen, alles, alles …


Und mit einem Lächeln auf den Lippen, die Arme gespannt, den Mund wie zu einem Kuß weich aufgetan, schläft Christine ein und weiß nicht, daß es ihr letzter Tag, ihre letzte Nacht ist in dieser obern Welt.


Wer stark fühlt, beobachtet wenig: alle Glücklichen sind schlechte Psychologen. Nur der Beunruhigte spannt alle Sinne zu äußerster Schärfe, Instinkt der Gefahr macht ihn klug über seine natürliche Klugheit hinaus. Und für jemanden bedeutete, ohne daß Christine es ahnte, ihre Gegenwart seit einiger Zeit Beunruhigung und Gefahr. Jenes Mannheimer Mädel, die energisch und zielhaft dachte und deren zutunliche Plauderhaftigkeit sie törichten Herzens für Freundschaft nahm, war über Christines gesellschaftlichen Triumph leidenschaftlich erbittert geworden. Vor der Ankunft dieser amerikanischen Nichte hatte der Ingenieur mit ihr heftig geflirtet und Andeutungen ernster, vielleicht heiratlicher Absichten gegeben. Entscheidendes war nicht geschehen, es fehlten vielleicht noch ein paar Tage und eine geschickte Stunde für entscheidende Aussprache; da war Christine gekommen, höchst unerwünschte Ablenkung, denn seitdem steuerte immer unverkennbarer das Interesse des Ingenieurs Christine zu, sei es, daß der Nimbus des Reichtums, der adelige Name den guten Rechner beeinflußt hatte, sei es die lodernde Heiterkeit, jene starke Welle Glück, die von ihr mitreißend ausging; jedenfalls mit einem noch kindischen Schulmädelneid und gleichzeitig der energisch aktiven Erbitterung einer Erwachsenen, merkte sich die kleine Mannheimerin kalt- und zurückgestellt. Der Ingenieur tanzte fast ausschließlich mehr mit Christine, saß allabendlich am van Boolen-Tisch, es war, erkannte die Rivalin, wolle man ihn nicht verlieren, höchste Zeit, die Zügel straff anzuziehen. Nun spürte mit dem Instinkt des Überwachen das kleine gerissene Mädel schon längst, daß an Christines Überschwang irgend etwas eigentümlich und gesellschaftlich ungewöhnlich war, und während sich die andern dem Zauber dieser Unbändigkeit sympathisch hingaben, suchte die Kleine dem Geheimnis auf die Spur zu kommen.


Ihre Überwachung begann mit einer systematisch gesteigerten Intimität. Sie faßte Christine beim Spazierengehen immer zärtlich unter den Arm und erzählte von sich selbst halb wahre und halb unwahre Intimitäten, nur um aus der andern etwas Kompromittantes herauszulocken. Abends besuchte sie die Arglose auf dem Zimmer, setzte sich zu ihr auf das Bett, streichelte ihr über den Arm, und Christine, in ihrem Bedürfnis die ganze Welt zu beglücken, erwiderte diese herzliche Kameradschaft mit dankbarer Begeisterung, antwortete achtlos auf alle Fragen und Finten, wich nur instinktmäßig solchen aus, die an ihr innerstes Geheimnis rührten, wenn zum Beispiel Carla fragte, wieviel Dienstmädchen sie zu Hause hätten, wieviel Zimmer sie bewohnten, antwortete sie halbwahr, jetzt lebe sie wegen der Krankheit der Mutter völlig zurückgezogen am Lande, früher freilich sei es anders gewesen. Aber an kleinen Ungeschicklichkeiten hakte die böswillige Neugierige sich immer fester ein, allmählich hatte sie den schwachen Punkt herausbekommen, daß diese Fremde, die hier mit funkelndem Kleid, Perlenband und der Aura des Reichtums bei Edwin sie zu verschatten drohte, eigentlich aus kleinem, beengten Milieu stamme. Ein paar Blößen gesellschaftlicher Sicherheit hatte sich Christine unwillkürlich gegeben, vom Polospiel nicht gewußt, daß man dazu reiten muß, sie kannte nicht die Namen geläufigster Parfummarken wie Coty und Houbigant, sie unterschied nicht die Preisabstufung der Automobile, war nie bei einem Rennen gewesen; zehn oder zwanzig solcher Indiania zeigten sie in der mondänen Freimaurerei schlecht bewandert. Auch mit der Bildung stand es im Vergleich zur Chemiestudentin miserabel: kein Gymnasium, keine Sprachen, das heißt, sie gestand freimütig, daß sie ein paar Brocken Englisch, die sie in der Schule gelernt, längst vergessen hatte. Nein, da stimmte etwas nicht bei dem eleganten Fräulein von Boolen; es galt nur den Keil tiefer einzutreiben, und mit der ganzen Kraft ihrer kindisch klugen Eifersucht schlug die kleine Intrigantin zu.


Endlich (zwei Tage mußte sie plaudern, horchen und spähen) bekam die Geschäftige Lunte in die Hand. Friseurinnen plaudern berufsmäßig gern; wenn Hände allein arbeiten, bleiben Lippen selten still. Die flinke Madame Duvernois, deren Frisierzelle gleichzeitig Großmarkthalle sämtlicher Neuigkeiten war, lachte ein silbernes C, als sich beim Haarwaschen die Mannheimerin nach Christine erkundigte. »Ah, la nièce de Madame van Boolen« – das Lachen floß immer weiter wie der strömende Wassertusch – »ah, elle était bien drôle à voir quand elle arrivait ici«; eine Frisur wie ein Bauernmädel habe sie gehabt, dicke gerollte Zöpfe und Haarnadeln, ganz schwere und eiserne, sie habe gar nicht gewußt, daß man in Europa noch solche Scheusäligkeiten fabriziere, zwei müßte sie noch irgendwo in einer Lade haben, sie habe sie sich aufgehoben als historische Kuriosität. Das war nun eine ganz ausgiebige Spur, und mit einer beinahe sportlichen Zähigkeit verfolgte sie das kleine Luder weiter. Als nächste brachte sie das Stubenmädchen von Christines Etage geschickt zum Schwätzen, und bald kriegte sie alles heraus: daß Christine mit einem kleinen winzigen Strohköfferchen gekommen war, daß alle Kleider, Wäsche, ihr hier eilig von Frau van Boolen gekauft oder geliehen worden waren. Bis zum Regenschirm mit dem Horngriff erfuhr durch rege und trinkgeldfördernde Umfrage die Mannheimerin jedes Detail. Und da der Böswillige immer Glück hat, stand sie durch Zufall gerade dabei, als Christine ihre Briefe unter dem Namen Hoflehner erbat, und eine raffinierte lässige Frage erhielt den überraschenden Aufschluß, daß Christine gar nicht von Boolen hieße.


Das war genug und übergenug. Das Pulver lag locker, nun brauchte Carla nur noch die Zündschnur richtig zu legen. In der Halle saß Tag und Nacht wie an einer Kontrollkasse, das Lorgnon als Waffe in der Hand, Frau Geheimrat Strodtmann, die Witwe des großen Chirurgen. Ihr Rollstuhl (die alte Frau war gelähmt) galt unbestritten als Auskunftei aller gesellschaftlichen Neuigkeiten und vor allem als letzte Instanz, die zwischen zulässig und unzulässig endgiltig entschied; diese militante Nachrichtenstelle im heimlichen Krieg aller gegen alle arbeitete Tag und Nacht mit fanatischer Präzision. Zu ihr setzte sich die Mannheimerin, um eilig und geschickt die kostbare Fracht abzuladen, natürlich tat sie’s in scheinbar freundschaftlichster Form: ein reizendes Mädchen sei dieses Fräulein von Boolen (das heißt man nenne sie ja nur so im ganzen Haus), wirklich, man möchte es ihr gar nicht anmerken, daß sie von ganz unten komme. Es sei doch eigentlich prachtvoll von Frau van Boolen, daß sie dieses Ladenmädel, oder was sie sonst sei, aus Gutmütigkeit für ihre Nichte ausgebe, sie mit ihren Kleidern auf nobel herrichte und unter falscher Flagge segeln ließe. Ja, die Amerikaner dächten doch in solchen Standesfragen demokratischer und großzügiger wie wir rückständige Europäer, die immer noch Gesellschaft spielten (die Frau Geheimrat rückte kampffreudig wie ein Hahn den Kopf) und schließlich nicht nur Kleider und Geld, sondern auch Bildung und Herkunft forderten. Selbstverständlich wurde eine heitere Beschreibung des ländlichen Schirms nicht unterlassen, überhaupt jedes schädlich amüsante Detail der Nachrichtenstelle zu guten Händen anvertraut. Noch am selben Morgen begann ihre Geschichte im ganzen Hotel zu zirkulieren, wie jedes Geschwätz allerhand Schmutz und Geröll bei dem hastigen Lauf aufnehmend. Die einen erzählten, das machten Amerikaner oft, daß sie besonders um Aristokraten zu ärgern, irgendeine Stenotypistin als Millionärin aufzäumten, ja, es gebe darüber sogar ein Theaterstück, andere argumentierten, sie sei wahrscheinlich die Geliebte des alten Herrn oder seiner Frau, kurzum, die Sache klappte vorzüglich, und an dem Abend, wo Christine ahnungslos mit dem Ingenieur die Eskapade machte, war sie im ganzen Hotel Hauptgegenstand des Gesprächs. Selbstverständlich behauptete jeder, um nicht als der Hopf zu gelten, hundert Verdächtigkeiten bei ihr bemerkt zu haben, keiner wollte der Düpierte gewesen sein. Und da das Gedächtnis dem Willen gern dienstbar ist, bog jeder irgendein Detail, das er gestern an ihr entzückend gefunden hatte, ins Lächerliche um, und während sie, eingehüllt den warmen jungen Körper in Glück und die Lippen im Schlaflächeln aufgetan, sich selber noch betrog, wußten alle bereits um ihren unschuldig-unwilligen Betrug.

vorheriges Kapitel

III.

nachfolgendes Kapitel

V.

lernzettel.org

Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.