V.


Ein Gerücht erreicht immer denjenigen als letzten, mit dem es sich beschäftigt. Christine spürt nicht, daß sie an diesem Vormittag durch einen züngelnden Feuerkreis spähender, höhnischer Rückenblicke schreitet. Gutmütig setzt sie sich gerade an den gefährlichsten Platz, zu der Frau Geheimrat, ohne zu merken, mit wie bösartigen Fragen die alte Dame – von allen Ecken schieben die Nachbarn ihre Ohren vor – an ihr herumfingert. Liebenswürdig küßt sie der weißhaarigen Feindin die Hand, ehe sie Onkel und Tante zu einem vereinbarten Spaziergang begleitet. Das leise schmunzelnde Lachen, mit dem einzelne Gäste ihren Gruß erwidern, fällt ihr nicht weiter auf, warum sollten die Leute anders als fröhlich sein? Aus sorglosen Augen blickt helle Heiterkeit den Hinterhältigen nach, leicht wie eine Flamme durch den Saal wehend und selig gläubig an die Güte der Welt.


Auch die Tante merkt zunächst nichts; allerdings ist ihr an diesem Vormittag etwas unangenehm aufgefallen, doch ahnt sie keinen Zusammenhang – im Hotel wohnt jenes schlesische Gutsbesitzerpaar, Herr und Frau von Trenkwitz, die in ihrem Umgang streng auf Feudal und Klasse setzen und mitleidslos alle Bürgerlichen schneiden. Bei den van Boolens haben sie eine Ausnahme gemacht, erstens weil sie Amerikaner sind (schon dies eine Art Adel) und doch keine Juden, dann vielleicht auch, weil ihr Zweitältester Sohn Harro, dessen Gut sich unter schwerverzinslicher Last von Hypotheken beugt, morgen eintreffen soll und dessen Bekanntschaft mit einer amerikanischen Erbin nicht völlig zwecklos schien. Für diesen Vormittag haben sie für zehn Uhr mit Frau van Boolen gemeinsamen Spaziergang verabredet, aber plötzlich (nach eingelangter Information von der geheimrätlichen Nachrichtenstelle) schicken sie um halb zehn den Portier ohne jede weitere Motivierung, es sei ihnen leider nicht möglich. Und merkwürdig, statt diese späte Absage entschuldigend zu motivieren, gehen sie mittags, steif grüßend, am Tisch der van Boolens vorbei. »Sonderbar«, argwöhnt sofort Frau van Boolen, in allen gesellschaftlichen Dingen empfindlich bis zur Krankhaftigkeit, »haben wir sie beleidigt? Was ist da vorgefallen?« Und abermals merkwürdig, nach dem Mittagessen in der Halle – Anthony hält seinen Nachtisch-Schlaf – Christine schreibt im Schreibzimmer – setzt sich niemand zu ihr. Sonst kommen regelmäßig die Kinsleys oder die andern Bekannten zu gemütlichem Plausch, jetzt bleibt wie auf Verabredung jeder an seinem Tisch, und sie sitzt ganz verlassen wartend allein in ihrem tiefen Sessel, merkwürdig berührt, daß alle Freunde nicht herüberkommen und der aufgeblasene Trenkwitz sich nicht einmal entschuldigt.


Endlich kommt jemand heran, und auch er anders als sonst, steifbeinig, umständlich, feierlich, Lord Elkins. Merkwürdig verdeckt hält er die Augen unter den rötlich müden Lidern – sonst sieht er immer so offen und klar einen an, was hat er nur? Er verbeugt sich beinahe zeremoniell: »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«


»Aber gern, lieber Lord. Wie fragen Sie nur?«


Sie wundert sich abermals. So unleger ist seine Haltung, er sieht seine Fußspitzen ausführlichst an, er knöpft den Rock auf, er zieht die Bügelfalten zurecht; sonderbar, sonderbar. Was er nur hat, denkt sie, er macht, als ob er eine Festrede halten sollte.


Endlich hebt mit entschlossenem Ruck der alte Mann seine hellen klaren Augen aus den schweren Lidern, es ist wirklich wie ein Stoß Licht, wie der Blitz eines Degens.


»Hören Sie, dear Mistress Boolen, ich möchte gern mit Ihnen etwas Privates besprechen, es hört uns hier niemand. Aber Sie müssen mir Freiheit geben, ganz aufrichtig zu sein. Ich habe die ganze Zeit nachgedacht, wie ich die Sache Ihnen andeuten sollte, aber Andeutungen haben keinen Sinn bei ernsten Angelegenheiten. Persönliche und peinliche Dinge muß man doppelt scharf und gerade angehen. Also… ich habe das Gefühl, meine Pflicht als Freund zu tun, wenn ich ganz ohne Rückhalt zu Ihnen spreche. Wollen Sie mir das erlauben?«


»Aber selbstverständlich.«


Ganz leicht scheint es dem alten Mann doch nicht zu werden, er zögert sich noch eine kleine Pause heraus, indem er aus der Tasche seine Shagpfeife holt und sie umständlich stopft. Seine Finger – ist es Alter oder Bewegung? – zittern merkwürdig dabei. Endlich hebt er den Kopf und sagt klar: »Was ich Ihnen zu sagen habe, betrifft Miss Christiana.«


Er zögert wieder.


Frau van Boolen spürt ein leises Erschrecken. Sollte wirklich der fast siebzigjährige Mann ernstlich daran denken … Es ist ihr schon aufgefallen, daß ihn Christine sehr beschäftigt, sollte das tatsächlich so weit gehen, daß er … aber da hebt schon scharf und inquisitiv Lord Elkins den Blick und fragt: »Ist sie wirklich Ihre Nichte?«


Frau van Boolen sieht beinahe beleidigt. »Selbstverständlich.«


»Und heißt sie tatsächlich van Boolen?«


Nun wird Frau van Boolen ernstlich verwirrt.


»Nein, nein… sie ist doch meine Nichte, nicht die meines Mannes, die Tochter meiner Schwester in Wien … aber ich bitte Sie, Lord Elkins, Sie meinen es doch freundschaftlich mit uns, was bedeutet diese Frage?«


Der Lord sieht tief und angelegentlich in die Pfeife hinein, es scheint ihn ungeheuer zu interessieren, ob der Tabak gleichmäßig glüht, umständlich stopft er ihn mit dem Finger zurecht. Dann erst, ganz in sich gebückt, beinahe ohne die schmalen Lippen zu öffnen, sagt er, als ob er zu der Pfeife redete: »Weil… nun weil mit einmal ein ganz sonderbares Gerede hier aufgekommen ist, als ob … hielt ich es für meine Freundespflicht, der Sache auf den Grund zu gehen. Nachdem Sie mir sagen, daß sie wirklich Ihre Nichte ist, ist für mich der ganze Schwatz erledigt. Ich war sofort überzeugt, daß Miss Christiana unfähig sei, eine Unwahrheit zu sagen, es war nur… nun, die Leute hier reden so sonderbare Dinge.«


Frau van Boolen spürt sich blaß werden, ihre Knie zittern.


»Was … seien Sie ganz offen … was sagen die Leute?«


Die Pfeife glüht langsam an, roter runder Kreis.


»Nun, Sie wissen ja, jene Art Gesellschaft, die eigentlich keine ist, tut immer rigoroser als die wirkliche. Dieser kalte Laffe Trenkwitz zum Beispiel empfindet es als persönliche Beleidigung, mit jemandem an einem Tisch gesessen zu sein, der nicht von Adel ist und dazu kein Geld hat, es scheint, er und seine Frau haben das Maul am weitesten aufgerissen, Sie hätten sich einen Spaß mit ihnen erlaubt und ein kleinbürgerliches Mädchen mit Kleidern ausstaffiert und ihnen unter einem falschen Namen als Dame präsentiert – als ob dieser Flachkopf überhaupt wüßte, was eine wirkliche Dame ist. Ich muß Ihnen wohl nicht erst betonen, daß der große Respekt und die große … die sehr große … die aufrichtige Sympathie, die ich für Miss Christiana empfinde, sich nicht um einen Fingerbreit verminderte, wenn sie tatsächlich aus … engen Verhältnissen stammte … vielleicht hätte sie gar nicht jene wunderbare Art Dankbarkeit und Freude, wenn sie so mit Luxus verwöhnt wäre wie dieses eitle Pack. Ich persönlich sehe also nicht das mindeste daran, daß Sie in Ihrer Güte sie mit Ihren Kleidern beschenkt haben, im Gegenteil, und wenn ich Sie überhaupt nur nach der Richtigkeit fragte, so geschah es einzig, um diesem niederträchtigen Geschwätz mit der Faust die Zähne einschlagen zu können.«


Frau van Boolen ist der Schreck von den Knien bis in die Kehle gestiegen, dreimal atmet sie an, ehe sie Kraft findet, um ruhig zu antworten.


»Ich habe gar keinen Grund, lieber Lord, vor Ihnen das geringste über die Herkunft Christines zu verschweigen. Mein Schwager war ein sehr großer, einer der angesehensten und reichsten Kaufleute in Wien« (hier übertrieb sie kräftig), »hat allerdings, wie gerade die anständigsten Leute, durch den Krieg sein Vermögen verloren, die Familie hatte es nicht leicht, durchzuhalten. Sie hielten es für ehrenhafter, zu arbeiten, als sich von uns unterstützen zu lassen, und so steht Christine heute im Staatsdienst, beim Post Office, was, ich hoffe, doch keine Schande ist.«


Lord Elkins sieht lächelnd auf, seine gebückte Haltung verschwindet: ihm ist sichtbar leichter.


»Sie fragen das jemanden, der selbst vierzig Jahre im Staatsdienst gestanden hat. Ist dies eine Schande, so teile ich sie mit ihr. Aber nun wir uns klar ausgesprochen haben, wollen wir auch klar denken. Ich habe sofort gewußt, alle diese bösartigen Gehässigkeiten sind niedriges Geschwätz, denn dies ist ja einer der wenigen Vorteile des Alters, daß man sich selten in Menschen völlig täuscht. Nehmen wir die Dinge wie sie sind: die Situation Miss Christianas wird, so fürchte ich, von jetzt ab keine leichte sein, es gibt ja nichts Rachsüchtigeres und Hinterhältigeres als die kleine Gesellschaft, die gern die große sein möchte. Ein aufgeblasener Lümmel wie dieser Trenkwitz wird sich das zehn Jahre nicht verzeihen, zu einer Postangestellten höflich gewesen zu sein, das wurmt einen solchen alten Strohkopf mehr als ein kranker Zahn. Auch bei den andern halte ich es nicht für ausgeschlossen, daß sie sich nicht Ihrer Nichte gegenüber Taktlosigkeiten erlauben, zumindest Frost und Unhöflichkeit wird sie zu spüren bekommen. Nun hätte ich das gern verhindert, denn – Sie haben das wohl bemerkt – ich schätze Ihre Nichte ganz außerordentlich … ganz außerordentlich, und ich wäre glücklich, könnte ich ihr, die so wunderbar arglos ist, eine Enttäuschung ersparen helfen.«


Lord Elkins unterbricht. Sein Gesicht wird im Nachdenken plötzlich wieder alt und grau.


»Ob ich sie auf die Dauer werde schützen können, das… das kann ich nicht versprechen. Das hängt… das hängt von den Umständen ab. Aber jedenfalls wünsche ich den Herrschaften sichtbar zu zeigen, daß ich sie mehr achte als diese ganze Geldkrapüle und daß, wer sich eine Ungezogenheit gegen sie erlaubt, es mit mir persönlich zu tun hat. Es gibt eine Art Späße, die ich nicht dulde, und solange ich hier bin, mögen sich die Herrschaften in acht nehmen.«


Er steht plötzlich auf, entschlossen und stramm, wie ihn Frau van Boolen nie gesehen.


»Gestatten Sie«, fragt er formell, »daß ich jetzt Ihr Fräulein Nichte zu einer Autotour bitte?«


»Aber selbstverständlich.«


Er verbeugt sich und geht – verblüfft blickt Frau van Boolen ihm nach – auf das Schreibzimmer zu, die Wangen gerötet wie von scharfem Wind, die Hände fest geballt; was will er, staunt Frau van Boolen ihm noch ganz betäubt nach. Christine schreibt und hört ihn nicht kommen. Er sieht nur von rückwärts das helle schöne Haar über dem gebeugten Nacken der Schreibenden, sieht die Gestalt, die nach Jahren und Jahren wieder Begehrlichkeit in ihm erweckt. Armes Kind, denkt er, ganz sorglos ist sie, sie weiß nichts, aber sie werden dich schon irgendwie anpacken, und man kann dich nicht schützen. Leise rührt er ihre Schulter. Christine staunt auf und erhebt sich sofort respektvoll: vom ersten Augenblick an hatte sie immer und immer wieder das Bedürfnis, diesem außerordentlichen Mann sichtliche Verehrung zu erweisen. Er zwingt dem gepreßten Mund gewaltsam ein Lächeln ab: »Ich komme, liebes Fräulein Christiana, heute mit einer Bitte. Mir geht es heute nicht gut, Kopfschmerzen seit frühmorgens, ich kann nicht lesen, nicht schlafen. Da dachte ich, vielleicht tut mir frische Luft gut, ein Ausflug im Auto, und gewiß täte es mir am besten, wenn Sie mir dabei Gesellschaft leisteten. Von Ihrer Frau Tante habe ich bereits die Erlaubnis, Sie zu bitten. Wenn Sie also wollten?…«


»Aber natürlich … Es ist mir doch nur eine … Freude, eine Ehre …«


»Dann gehen wir.« Zeremoniell bietet er ihr den Arm. Es wundert und beschämt sie ein wenig, aber wie darf sie diese Ehre verweigern! Stark, langsam und fest geht Lord Elkins mit ihr ganz durch die Halle. Er sieht jeden einzelnen an mit einem rapiden scharfen Blick, was sonst nicht seine Gewohnheit gewesen ist; deutliche Drohung ist unverkennbar in seiner Haltung: rührt sie nicht an! Gewöhnlich geht er freundlich und höflich, ein stiller grauer Schatten durch die andern, man merkt ihn kaum, jetzt aber fixiert er herausfordernd jede fremde Pupille. Alle verstehen sofort das Demonstrative dieses Armbindens und seiner betonten Reverenz. Die Geheimrätin starrt schuldbewußt auf, Kinsleys grüßen gleichsam erschrocken, wie der alte unerschrockene Paladin mit dem schneeweißen Haar frostigen Blicks mit dem jungen Mädchen durch den breiten Raum schreitet, sie stolz und glücklich, ohne irgend etwas Arges zu denken, er einen harten, militärischen Zug um die Lippen, als stände er an der Spitze seines Regiments und hätte Attacke zu kommandieren gegen einen verschanzten Feind.


Vor der Hoteltür steht zufällig Trenkwitz, als die beiden heraustreten; unwillkürlich grüßt er. Lord Elkins sieht mit Absicht schief an ihm vorbei, hebt die Hand halb zur Mütze und läßt sie gleichgültig wieder fallen; wie man einem Kellner für seinen Gruß dankt. Unbeschreibliche Verächtlichkeit liegt in der Geste: es ist wie ein kalter Hieb. Dann läßt er Christines Arm, öffnet persönlich den Wagenschlag und lüftet den Hut, während er seiner Dame einsteigen hilft: es ist dieselbe respektvolle Gebärde, mit der er seinerzeit der Schwiegertochter des Königs von England bei einem Besuch in Transvaal ins Auto geholfen hat.


Frau van Boolen ist über die diskrete Mitteilung Lord Elkins’ bedeutend mehr erschrocken gewesen, als sie hat merken lassen, denn ohne es zu ahnen, hat er die empfindlichste Stelle aufgerissen. Tief unten in jener Dämmerschicht des Halbwissens und nicht mehr Wissenwollens, in jener glatten und glitschigen Sphäre, in die sich das eigene Ich nur ungern und schaudernd wagt, wohnt in dieser längst bürgerhaft gewordenen und banalen Claire van Boolen eine jahrealte unauslöschbare Angst, die sonst nur manchmal im Traum aufsteigt und ihr den Schlaf zerreißt: die Angst vor der Entdeckung der eigenen Vergangenheit. Als nämlich vor dreißig Jahren die aus Europa listig abgeschobene Klara ihren van Boolen kennenlernte und heiraten sollte, fehlte ihr der Mut, dem redlichen, aber etwas philisterischen Bürger anzuvertrauen, aus welchem trüben Ursprung das kleine Kapital stammte, das sie mit in die Ehe brachte. Entschlossen hatte sie ihm damals vorgelogen, diese zweitausend Dollar seien vom Großvater ererbt, und nicht eine Minute während der ganzen Ehe zweifelte jemals der arglose, verliebte Mann an der Richtigkeit dieser Mitteilung. Von seiner phlegmatischen Gutmütigkeit war nichts zu befürchten, aber je mehr Claire verbürgerlichte, um so schreckhaft drohender wurde in ihr der Wahngedanke, irgendein einfältiger Zufall, eine unerwartete Begegnung, ein anonymer Brief könnten plötzlich die verschollene Geschichte an den Tag bringen. Deshalb vermied sie jahrelang mit zielbewußter Zähigkeit, ihren Landsleuten zu begegnen. Wenn ihr Mann ihr einen Wiener Geschäftsfreund vorstellen wollte, wehrte sie ab und weigerte sich, kaum sie flüssig englisch sprechen konnte, deutsch zu verstehen. Mit der eigenen Familie brach sie energisch jeden Briefwechsel ab, sandte auch bei den wichtigsten Anlässen nicht mehr als ein knappes Telegramm. Aber die Angst ließ nicht nach, im Gegenteil, sie wuchs mit dem bürgerlichen Aufstieg, und je mehr sie sich den amerikanisch strengen Sitten anpaßte, um so nervöser wurde die Angst, irgendein flüchtiger Schwatz könnte das böse Glimmen unter der Asche noch einmal ins Flammen bringen. Und es genügte, daß ein Gast bei Tisch erzählte, er habe lange Zeit in Wien gelebt, und sie schlief die ganze Nacht nicht, so heiß spürte sie den brennenden Funken im Herzen. Dann kam noch der Krieg, der mit einem Stoß alles Vordem in eine beinahe mythische und unerreichbare Zeit zurückdrückte. Die Zeitungen, die Blätter von damals vermodert, die Menschen drüben hatten andere Sorgen und Gespräche; es war vorbei, es war vergessen. Wie ein Projektil im Körper allmählich sich einkapselt im Gewebe – erst schmerzt es noch beim Umschlagen des Wetters, aber dann liegt es fühllos und nicht mehr so fremd im warmen Leib –, so vergaß sie dieses heikle Stück Vergangenheit in sorglosem Glück und gesunder Betätigung; Mutter zweier strammer Söhne, gelegentlich Mithelferin im Geschäft, gehörte sie dem Philanthropischen Verein an, war Vizepräsidentin der Gesellschaft für entlassene Sträflinge, in der ganzen Stadt hochgeachtet und geehrt; endlich konnte sich ihr lang zurückgestauter Ehrgeiz auch in einem neuen und von den besten Familien gern besuchten Haus ausleben. Das Entscheidendste aber war für ihre Beruhigung, daß sie schließlich selbst allmählich an jene Episode vergaß. Unser Gedächtnis ist bestechlich, es läßt sich von den Wünschen bereden, und der Wille, Feindliches von sich wegzudenken, übt seine langsam wirkende, aber doch schließlich ausschaltende Kraft; die Probiermamsell Klara war endlich gestorben in der makellosen Gattin des Baumwollmaklers van Boolen. So wenig dachte sie mehr an jene Episode, daß sie, kaum in Europa angekommen, sofort an ihre Schwester um ein Wiedersehen schrieb. Jetzt aber erfahrend, daß eine ihr unerklärliche Boshaftigkeit der Herkunft ihrer Nichte nachspürt, was liegt näher, als daß man gleichzeitig mit der armen Verwandten ihrer eigenen Herkunft nachfragt und sich mit ihr selber beschäftigt? Angst ist ein Zerrspiegelglas, jeder zufällige Zug wird an ihrer übertreibenden Kraft grauenhaft groß und karikaturistisch deutlich, und einmal aufgepeitscht, jagt die Phantasie auch den tollsten und unglaubhaftesten Möglichkeiten nach. Das Absurdeste scheint ihr plötzlich wahrscheinlich; mit Entsetzen überdenkt sie, daß am Nachbartisch des Hotels ein alter Herr aus Wien sitzt, Direktor der Handelsbank, siebzig oder achtzig Jahre alt, der Löwy heißt, und mit einmal meint sie sich zu erinnern, die Frau des verstorbenen Gönners habe mit dem Mädchennamen gleichfalls Löwy geheißen. Wie wenn sie seine Schwester, seine Kusine gewesen ist! Wie leicht kann sich der alte Mann (Greise erinnern sich ja geschwätzig gern an Skandalgeschichten ihrer Jugendzeit!) mit irgendeiner Andeutung in den Schwatz einmengen. Claire spürt plötzlich kalten Schweiß an den Schläfen; denn die Angst arbeitet raffiniert weiter und suggeriert plötzlich, jener alte Herr Löwy sehe jener Frau ihres Gönners auffallend ähnlich, dieselben fleischigen Lippen, dieselbe scharf gebogene Nase – in dem halluzinatorischen Fieber der Angst meint sie zweifellos zu wissen, er sei der Bruder und selbstverständlich würde er sie erkennen, die alte Geschichte ausführlich aufwärmen, Nektar und Ambrosia für die Kinsleys, Guggenheims, und am nächsten Tag dann Anthony einen anonymen Brief bekommen, der mit einem Riß dreißig Jahre ahnungsloser Ehe vernichtete.


Claire muß sich mit der Hand an die Lehne halten, eine Sekunde fürchtet sie ohnmächtig zu werden; dann stößt sie sich mit der Energie der Verzweiflung plötzlich vom Sessel auf. Es bedeutet eine Anstrengung, am Tisch der Kinsleys vorbeizuschreiten und sie freundlich zu grüßen. Vollkommen freundlich grüßen die Kinsleys mit dem stereotypen Grußlächeln der Amerikaner, das sie selbst unbewußt längst gelernt hat, zurück. Aber der Angstwahn Claires suggeriert ihr, sie hätten irgendwie anders gelächelt, ironisch, bösartig, wissend, verräterisch, und selbst der Blick des Liftboys ist ihr plötzlich unangenehm und das zufällig grußlose Vorbeigehen des Stubenmädchens am Gang: erschöpft, als sei sie durch tiefen Schnee gegangen, flüchtet sie endlich in die Tür.


Anthony, ihr Gatte, ist eben von der Siesta aufgestanden und kämmt sich, die Hosenträger quer übergeworfen, den Kragen offen, die Wangen noch vom Liegen zerdrückt, vor dem Spiegel den dünnen Scheitel.


»Anthony, wir müssen etwas besprechen«, keucht sie.


»Nun, was ist denn los?« Er zieht etwas Pomade durch den Kamm, um den schmalen Scheitel geometrisch abzuteilen.


»Bitte, mach fertig.« Sie hält es vor Ungeduld nicht mehr aus. »Wir müssen in Ruhe alles überlegen. Es ist etwas sehr Unangenehmes.«


Der phlegmatische, längst an das lebhaftere Temperament seiner Frau gewöhnte Gatte, selten geneigt, sich an derlei Ankündigungen voreilig zu ereifern, wendet sich noch immer nicht vom Spiegel zurück. »Ich hoffe, es wird nicht so arg sein. Doch keine Depesche von Dicky oder Alwin?«


»Nein, aber mach doch schon einmal fertig! Anziehen kannst du dich später.«


»Nun?« Anthony legt endlich den Kamm hin und setzt sich ergeben ins Fauteuil. »Nun, was ist denn los?«


»Etwas Furchtbares ist passiert. Christine muß unvorsichtig gewesen sein oder eine Dummheit gemacht haben, alles ist aufgeflogen, das ganze Hotel spricht davon.«


»Ja, was denn ist aufgeflogen?«


»Nun, das mit den Kleidern… Daß sie meine Kleider trägt, daß sie wie ein Ladenmädel hergekommen ist und wir sie von Kopf bis Fuß angezogen und als noble Dame präsentiert haben – alles mögliche reden die Leute… Jetzt weißt du auch, warum uns die Trenkwitz geschnitten haben … natürlich sind sie wütend, weil sie doch etwas vorgehabt haben mit ihrem Sohn und meinen, wir hätten ihnen was vorgeschwindelt. – Jetzt sind wir kompromittiert vor dem ganzen Hotel. Irgendeine Dummheit muß das ungeschickte Ding gemacht haben! Mein Gott, was für eine Schande!«


»Wieso Schande? Alle Amerikaner haben arme Verwandte. Ich möchte mir nicht die Neffen von Guggenheims oder gar die von Roskys unter der Lupe anschauen, von diesen Rosenstocks, die aus Kowno gekommen; ich wette, die sehen noch ganz anders aus. Ich verstehe nicht, warum das eine Schande sein soll, daß wir sie anständig angezogen haben.«


»Weil … weil …« Claire wird in ihrer Nervosität immer lauter, »weil sie doch recht haben, daß so jemand nicht hierher gehört, nicht in die Gesellschaft … Ich meine, jemand, der … der sich eben nicht so benehmen kann, daß man’s nicht merkt, woher er kommt … Es ist ihre Schuld … hätte sie sich nicht so auffällig gemacht, so hätt’ man’s nicht bemerkt, wäre sie bescheiden geblieben, so wie anfangs … Aber immer hin und her, immer obenauf und bei allem voran, mit allen muß sie reden, sich beimengen, überall dabei sein und überall voran. Mit jedem gleich Freund … da ist es kein Wunder, daß die Leute schließlich fragen, wer ist sie eigentlich und woher, und jetzt … jetzt ist der Skandal fertig. Alle reden sie davon und machen sich lustig über uns … schreckliche Dinge reden sie herum.«


Anthony lacht behaglich und breit: »Laß sie nur reden … es ist mir gleichgültig. Sie ist ein braves Mädel, ich hab’ sie trotz allem gern. Und ob sie arm ist oder nicht, geht keinen einen Dreck an. Ich habe mir von niemand hier einen Penny geborgt und pfeife darauf, ob sie uns nobel finden oder nicht. Wem bei uns was nicht recht ist, soll’s eben bleiben lassen.«


»Aber mir ist es nicht gleichgiltig, mir nicht.«


Claires Stimme wird, ohne daß sie es merkt, immer schriller. »Ich laß mir nicht nachreden, ich hätte die Leute hereingelegt und irgendein armes Mädel als Herzogin vorgestellt. Ich laß mir’s nicht gefallen, daß wir jemand wie den Trenkwitz einladen und der Flegel mir den Portier schickt, statt sich zu entschuldigen. Nein, so lang’ wart ich nicht, daß die Leute vor uns kehrt machen, das hab ich nicht nötig. Ich bin, weiß Gott, zu meinem Vergnügen hergekommen und nicht, um mich zu ärgern und mich aufzuregen. Ich laß mir das nicht gefallen.«


»Und was –« er deckt mit der Hand ein kleines Gähnen zu, »was willst du also tun?«


»Abreisen!«


»Wie?« Unwillkürlich reißt sich der sonst so Schwerfällige auf, als habe ihm jemand schmerzhaft auf die Zehen getreten.


»Ja, abreisen, und morgen früh noch. Die Leute werden sich irren, wenn sie glauben, daß ich ihnen ein Theater vormachen werde, ihnen Erklärungen abgeben, wieso und warum und mich am Ende noch entschuldigen. Das müßten schon andere Herrschaften sein als diese Trenkwitz und so weiter. Die Gesellschaft hier paßt mir ohnehin nicht, außer Lord Elkins eine zusammengewürfelte, langweilige, laute Mittelmäßigkeit, von denen lasse ich mich nicht durch die Lippen ziehen. Ohnehin tut’s mir nicht gut hier, die zweitausend Meter hoch machen mich ganz nervös, ich kann nicht schlafen in der Nacht – natürlich, du merkst das nicht, du legst dich hin und schläfst schon, eine Woche lang wünschte ich mir deine Nerven! Drei Wochen sind wir jetzt hier – genug und übergenug! Und was das Mädel betrifft, so haben wir Mary gegenüber reichlich unsere Pflicht getan. Wir haben sie eingeladen, sie hat sich amüsiert und erholt, zuviel sogar, aber jetzt Schluß. Ich brauche mir keinen Vorwurf zu machen.«


»Ja, aber wohin … wohin willst du denn so plötzlich?«


»Nach Interlaken! Dort ist nicht so hohe Luft, dort treffen wir auch die Linseys, mit denen wir am Schiff so guten talk gehabt haben. Das sind doch wirklich nette Menschen, anders als dieser gemischte Trubel hier, und vorgestern erst haben sie mir geschrieben, wir sollen doch kommen. Wenn wir morgen früh fahren, so können wir zum dinner schon mit ihnen sein.«


Anthony widerstrebt noch ein wenig. »Immer alles so plötzlich! Müssen wir denn schon morgen fahren? Wir haben doch genug Zeit!«


Aber bald gibt er nach. Er gibt immer nach aus alter Erfahrung, daß Claire, wenn sie etwas heftig will, unverweigerlich immer ihren Willen durchsetzt und aller Widerstand nur Kraftvergeudung ist. Außerdem ist es ihm einerlei. Menschen, die in sich selber ruhn, spüren die Umwelt nicht stark; ob er mit Linseys oder hier mit Guggenheims seinen Poker macht, ob der Berg vor dem Fenster Schwarzhorn oder Wetterhorn heißt und das Hotel Palace oder Astoria, ist dem alten Phlegmatiker im Grunde gleichgiltig, er will nur keinen Streit. So kämpft er nicht lang, hört geduldig Claire an den Portier telefonieren und ihm Anweisungen geben, blickt amüsiert zu, wie sie hastig und hitzig die Koffer hervorholt und mit unbegreiflicher Hast Kleider zusammenschichtet, zündet seine Pfeife, geht hinüber zu seiner Kartenpartie und denkt, während er mischt und teilt, nicht weiter an die Abreise und seine Frau und am wenigsten an Christine.


Während sich im Hotel Verwandte und Fremde über Christines Gekommensein und Fortsollen schwatzhaft erregen, furcht messingblitzend das graue Automobil Lord Elkins’ das windige Blau des Hochtals, geschmeidig und kühn biegt es die weißen Kehren ins Unter-Engadin hinab: schon nähert sich Schuls-Tarasp. Mit seiner Einladung hat Lord Elkins sie gewissermaßen öffentlich unter seinen Schutz stellen wollen und nach kurzer Spazierfahrt wieder zurückbringen; wie er aber sie neben sich sitzen hat, heiter plaudernd zurückgelehnt, in sorglosen Augen den ganzen Himmel spiegelnd, scheint es ihm doch sinnlos, ihr und auch ihm eine holde Zeit zu verkürzen, und er gibt dem Chauffeur Auftrag, noch weiter und weiter zu fahren. Nur nicht zu rasch zurück, sie wird es immer noch früh genug erfahren, denkt der alte Mann, während er in unwiderstehlicher Zärtlichkeit ihre Hand streichelt. Eigentlich sollte man sie rechtzeitig schon warnen, sie schonend unauffällig vorbereiten, was sie von jener Gesellschaft zu erwarten hat, damit sie dann ihren plötzlichen Frost nicht so schmerzhaft empfindet. So versucht er gelegentliche Andeutungen über den bösartigen Charakter der Geheimrätin und warnt diskret vor ihrer kleinen Freundin; aber mit der leidenschaftlichen Hellgläubigkeit der Jugend verteidigt die Arglose ihre grimmigsten Feinde: rührend gut sei sie doch und so anteilnehmend an allem, die alte Geheimrätin, und die kleine Mannheimerin, das ahnte Lord Elkins gar nicht, wie klug und lustig und witzig die sein könne, sie habe wohl zu wenig Mut in seiner Gegenwart. Überhaupt, alle Menschen hier seien so wunderbar, so heiter und wohlwollend zu ihr, wahrhaftig, sie schäme sich manchmal, wie käme ihr denn all dies zu.


Der alte Mann sieht nieder auf die Spitze seines Stockes. Seit dem Krieg denkt er hart von den Menschen, hart von den Nationen, weil er sie alle als selbstsüchtig und phantasielos für das Unrecht, das sie andern bereiteten, erkannt hat. In dem blutigen Morast von Ypern und in einer Kalkgrube bei Soissons (wo sein Sohn gefallen ist), liegt auch der von den Vorlesungen John Stuart Hills und seiner Schüler mitgenommene Idealismus seiner Jugend, der an die moralische Sendung der Menschheit und an den Seelenaufschwung der weißen Rasse glaubte, endgiltig begraben. Politik ekelt ihn, die kühle Geselligkeit des Klubs, die theatralische Verlegenheit der öffentlichen Bankette stoßen ihn ab; seit dem Tod seines Sohnes vermeidet er, neue Bekanntschaften zu machen; bei seiner eigenen Generation erbittert ihn das verbissene Nicht-die-Wahrheit-Erkennenwollen, der Mangel an Umlernfähigkeit vom Vorkrieg in die neue Zeit, bei der jungen Generation das frech leichtfertige Besserwissenwollen. Bei diesem Mädchen hat er zum erstenmal wieder Gläubigkeit gesehen, jene dumpfe und heilige Dankbarkeit schon bloß für die Tatsache des Jungseins, und er versteht in ihrer Gegenwart, daß alles Lebensmißtrauen, das eine Generation schmerzhaft erwirbt, glücklicherweise unverständlich und ungiltig bleibt für die nächste und mit jeder neuen Jugend wieder neu beginnt. Wie wunderbar kann sie noch dankbar sein für das Geringste, fühlt er entzückt und gleichzeitig regt sich, stärker als jemals und fast schmerzhaft, leidenschaftlich der Wunsch, etwas von dieser herrlichen Wärme in sein eigenes Leben nehmen zu dürfen, vielleicht sie ganz an sich zu binden. Ein paar Jahre, denkt er, könnte ich sie schützen, vielleicht würde sie dann nie oder spät erst die Niederträchtigkeit der Welt erfahren, die vor dem einen Namen buckelt und den Armen mit dem Absatz tritt. Ah – er blickt sie von der Seite an: sie hat den Mund eben kindhaft aufgetan und saugt die herrlich ansausende Luft, und dabei schließt sie die Augen – ein paar Jahre Jugend nur, es wäre genug für mich. Und während sie jetzt wieder, dankbar ihm zugewandt, munter plaudert, hört der alte Mann nur halb ihr zu, denn ein plötzlicher Mut ist über ihn gekommen; er erwägt, wie auf unauffälligste Weise noch in dieser vielleicht letzten Stunde eine Werbung zu versuchen.


In Schuls-Tarasp nehmen sie Tee. Dann auf einer Bank der Promenade setzt er vorsichtig und umwegig ein. Er habe zwei Nichten, etwa so alt wie sie, in Oxford, dort könne sie, vorausgesetzt, daß sie nach England kommen wolle, wohnen; es sei eine Freude für ihn, sie zu ihnen einladen zu dürfen, und wenn dann auch seine Gesellschaft, freilich die eines alten Mannes, ihr nicht lästig sei, würde er glücklich sein, ihr London zeigen zu dürfen. Nur wisse er natürlich nicht, ob sie sich überhaupt entschließen könne, von Österreich wegzugehen und nach England zu kommen, ob nichts sie zu Hause binde – er meine: innerlich binde. Die Frage ist deutlich. Aber Christine in ihrer sprudelnden Begeisterung versteht sie nicht. O nein, wie gerne würde sie die Welt sehen, und England solle ja herrlich sein, sie habe so viel gehört von Oxford und seinen Regatten, es gäbe ja kein Land, wo der Sport solche Lust, wo es so prachtvoll sein müsse, jung zu sein.


Das Gesicht des alten Mannes verdüstert sich. Sie hat kein Wort von ihm gesprochen. Nur an sich gedacht, nur an ihr eigenes Jungsein. Er verliert wieder allen Mut. Nein, denkt er, es wäre ein Verbrechen, einen jungen Menschen, der seine Kraft so selig spürt, in ein altes Schloß zu sperren, zu einem alten Mann. Nein, nicht sich abweisen lassen, nicht lächerlich werden. Nimm Abschied, alter Mann! Vorbei! Zu spät!


»Wollen wir nicht zurückfahren«, fragt er mit plötzlich veränderter Stimme. »Ich fürchte, Ihre Frau Tante wird sonst besorgt sein.«


»Gern«, antwortet sie, und dann begeistert: »Ach, es ist so schön gewesen, alles ist hier so einzig schön.«


Er setzt sich im Wagen an ihre Seite und spricht wenig mehr, der alte Mann, traurig für sie, traurig für sich. Aber sie ahnt nicht, was in ihm, und nicht, was mit ihr geschieht, hell den Blick in die Landschaft hinaus und das Blut froh bewegt unter den windumsausten Wangen.


Als sie vor dem Hotel landen, schlägt gerade der Gong. Dankbar drückt sie dem verehrten Mann die Hand und springt hinauf, um sich umzuziehen: das fliegt ihr jetzt schon so aus dem Gelenk. In den ersten Tagen ist das Toilettemachen ihr eine jedesmalige Angst, eine Anstrengung, eine Sorge und doch gleichzeitig lustvolles erregendes Spiel gewesen. Immer wieder hat sie im Spiegel das geschmückte unerwartete Wesen bestaunt, in das sie verwandelt war. Nun weiß sie schon als Selbstverständlichkeit, daß sie allabends schön ist, elegant und geschmückt. Ein paar Griffe jetzt und das Kleid fließt farbig und leicht über die gespannte Brust, ein sicherer Strich über die roten Lippen, zurechtgeschütteltes Haar, ein umgeworfener Schal und sie ist fertig, so selbstverständlich lebt sie schon in dem geliehenen Luxus wie in der eigenen Haut! Noch einen Blick über die halbe Schulter hinweg in den Spiegel: ja, gut! Zufrieden! Und schon saust sie hinüber zur Tante, sie zum Abendessen zu holen.


Aber gleich bei der Tür bleibt sie verblüfft stehen: ein verwüstetes Zimmer, vollkommen ausgeräumt, halbgefüllte Koffer, über Sessel gespreizt auf Bett und Tisch verstreut Hüte, Schuhe und sonstige Kleidungsstücke, heilloses Durcheinander in dem sonst minuziös geordneten Raum. Die Tante kniet gerade im Schlafrock über einem widerspenstigen Koffer, um ihn zuzupressen. »Was … was ist denn?« staunt Christine. Die Tante blickt mit Absicht nicht auf, sondern drückt erbittert mit rotem Gesicht auf den Koffer weiter, während sie zugleich stöhnend erklärt: »Wir reisen … oh, verfluchtes Ding!… Wirst du zugehen … wir reisen fort.«


»Ja, wann? … Wie?« Der Mund springt Christine auf, sie kann keinen Muskel rühren.


Die Tante hämmert noch einmal auf das Schloß, jetzt schnappt es ein. Keuchend richtet sie sich auf.


»Ja, es ist eigentlich schade, mir tut’s selber leid, Christi! Aber ich hab’s von Anfang an gesagt, Anthony wird sie nicht vertragen, diese hohe Luft. Für alte Leute ist das nicht mehr das Richtige. Heute nachmittag hat er wieder einen Asthmaanfall gehabt.«


»Um Gottes willen!« Christine fährt dem alten Mann entgegen, der gerade, und zwar völlig ahnungslos aus dem Nebenzimmer tritt. Mit leidenschaftlich erschreckter Zärtlichkeit, ganz bebend vor Erregung, faßt sie ihn an. »Wie geht es, Onkel? Hoffentlich schon besser! Mein Gott, ich habe ja gar nichts geahnt, wie wäre ich sonst weggefahren! Aber wirklich, mein Ehrenwort, du siehst wieder ganz gut aus; nicht wahr, es ist dir schon besser?«


Ganz fassungslos sieht sie ihn an, ihr Schrecken ist ehrlich und echt. Sie hat völlig an sich vergessen. Sie hat noch nicht verstanden, daß sie abreisen soll. Nur, daß der alte gutmütige Mann krank ist, nur das hat sie begriffen. Für ihn, nicht für sich ist sie erschrocken.


Anthony, so gesund und phlegmatisch wie nur je, steht peinlich berührt von dem hinreißenden Ausdruck ihrer ehrlichen und liebevollen Angst. Erst nach und nach begreift er, in welche widerliche Komödie er eingemengt werden soll.


»Aber nein, liebes Kind«, knurrt er (verdammt, warum schiebt Claire mich vor!), »Claire, du mußt sie ja schon kennen, übertreibt immer. Ich fühle mich ganz wohl, und wenn es nach mir ginge, blieben wir hier.« Und um den Ärger abzureagieren, den er über die ihm nicht recht verständliche Lüge seiner Frau empfindet, fügt er beinahe grob bei: »Claire, laß doch endlich die verfluchte Packerei, dazu ist noch reichlich Zeit. Wir wollen doch diesen letzten Abend mit dem guten Kind gemütlich verbringen.« Claire macht sich trotzdem noch weiter zu schaffen und spricht nicht; anscheinlich fürchtet sie sich vor den unausweichlichen Erklärungen, Anthony wiederum (sie soll sich da selber herausziehen, ich nehm’ ihr nichts ab) blickt angestrengt zum Fenster hinaus. Zwischen den beiden steht wie etwas Unnützes und Lästiges Christine stumm und verwirrt im verwaisten Zimmer. Etwas ist geschehen, das spürt sie, etwas, das sie nicht versteht. Ein Blitz ist grell niedergefahren, nun wartet sie klopfenden Herzens auf den Donner, und der kommt nicht und kommt nicht und muß doch kommen. Sie wagt nicht zu fragen, sie wagt nicht zu denken und weiß mit allen Nerven, etwas Böses ist geschehen. Haben sie Streit gehabt? Sind schlechte Nachrichten aus New York gekommen? Vielleicht etwas an der Börse, im Geschäft, ein Bankkrach, man liest ja jetzt so etwas jeden Tag in den Zeitungen? Oder hat wirklich der Onkel einen Anfall gehabt und verschweigt es nur, um sie zu schonen? Warum lassen sie mich so stehen, was soll ich denn hier? Aber nichts, Schweigen, Schweigen, nur die kleinen unnötigen Geschäftigkeiten der Tante und der unruhig auf und abgehende Schritt des Onkels und in sich selber das laut hämmernde, hart pochende Herz.


Endlich – Befreiung! – klopft es an die Tür. Der Zimmerkellner tritt ein, hinter ihm ein zweiter mit weißem Tischzeug. Zu Christines Erstaunen beginnen sie, das Rauchzeug vom Tisch zu räumen und sauber und umständlich aufzudecken.


»Weißt du«, erklärt jetzt endlich die Tante, »Anthony dachte, es sei doch besser, heute abends lieber hier oben auf dem Zimmer zu essen. Ich hasse die umständliche Verabschiederei von den Leuten und das Gefrage, wohin und wie lange, außerdem hab ich schon fast alle meine Sachen eingepackt, auch Anthonys Smoking liegt schon im Koffer. Und dann, nicht wahr – wir sitzen eigentlich hier stiller und gemütlicher beisammen.«


Die Kellner schieben den Rolltisch herein und servieren von den nickelnen Wärmeplatten. Wenn sie draußen sind, muß man mir doch endlich alles erklären, denkt Christine und beobachtet ängstlich die Gesichter der beiden: der Onkel beugt sich tief in den Teller hinein und löffelt mit Erbitterung, die Tante scheint blaß und geniert. Schließlich beginnt sie: »Du wirst dich wundern, Christine, daß wir uns so schnell entschlossen haben! Aber bei uns da drüben geht alles quick – das ist eins der paar guten Dinge, die man drüben in Amerika lernt. Nur nicht lang hinausziehen, wozu man keine rechte Lust hat. Geht ein Geschäft nicht gut, so gibt man’s auf und fängt ein neues an, fühlt man sich wo nicht wohl, so packt man die Koffer und fort, irgendwoanders hin. Eigentlich, ich wollt’s dir nur nie sagen, weil du dich so famos hier erholt hast, haben wir beide uns schon lange nicht wohlgefühlt hier, ich habe die ganze Zeit schlecht geschlafen, und Anthony verträgt sie eben auch nicht, diese hohe dünne Luft. Zufällig kam da gerade heute ein Telegramm von unsern Freunden aus Interlaken, und schon waren wir entschlossen und fahren wahrscheinlich nur auf ein paar Tage und dann noch nach Aix-les-Bains. Ja, bei uns – ich versteh’, daß es dich überrascht – geht alles quick.«


Christine beugt den Kopf zum Teller hinab: nur die Tante jetzt nicht ansehen! Irgend etwas im Tonfall, in der Sprudeligkeit des Schwätzens quält sie, jedes Wort voll falscher Forschheit und künstlich frisch. Es muß doch etwas dahinterstecken, fühlt Christine. Es muß noch etwas kommen, und es kommt: »Selbstverständlich wäre es das beste gewesen, wenn du hättest mitkommen können«, redet die Tante weiter, während sie von dem Poulard den Flügel ablöst. »Aber Interlaken würde dir, glaube ich, nicht gefallen, es ist kein Ort für junge Leute, und man muß sich fragen, ob dies Hin und Her für die paar Tage, die du noch Urlaub hast, wirklich dafür steht, ob du nicht dabei eher deine Erholung vertust. Hier hast du dich ja fabelhaft erholt, ausgezeichnet hat sie dir angeschlagen, diese frische starke Luft – ja, ich sag’s ja immer, für junge Menschen gibt es nichts Besseres als Hochgebirge, Dicky und Alwin sollten auch einmal hierherkommen, nur natürlich für so alte abgebrauchte, abgehämmerte Herzen, da taugt gerade das Engadin nicht. Also, wie gesagt, wir würden uns natürlich sehr freuen, Anthony hat sich ja sehr gewöhnt an dich, aber anderseits, es sind wieder sieben Stunden und sieben Stunden zurück, das wird dir zuviel sein, und schließlich, wir kommen ja nächstes Jahr wieder herüber. Aber selbstverständlich, wenn du noch mit nach Interlaken willst …«


»Nein, nein«, sagt Christine, oder vielmehr ihre Lippen sagen es, so wie man in der Narkose noch automatisch weiterzählt, während das Bewußtsein längst schon stockt.


»Ich glaube selbst, du tust besser, von hier aus direkt nach Hause zu fahren, von hier gibt es ja einen wunderbar bequemen Zug – ich habe den Portier gefragt, gegen sieben Uhr früh, da kannst du morgen spät nachts schon in Salzburg und übermorgen zu Hause sein. Ich kann mir denken, wie sich die Mutter freuen wird, so braun und frisch und jung, wirklich, prachtvoll siehst du aus, und es ist das Beste, du bringst diese Erholung ganz frisch nach Hause.«


»Ja, ja.« Ganz leise tropfen Christine die Silben vom Mund. Warum sitzt sie eigentlich noch da? Die beiden wollen sie doch nur fort haben, rasch fort. Aber warum? Es muß doch etwas geschehen sein, irgend etwas muß geschehen sein. Mechanisch ißt sie weiter, schmeckt in jedem Bissen das bittere Kraut Ysop und spürt, ich müßte jetzt etwas sagen, irgend etwas ganz Lockeres, nur um nicht zu zeigen, daß einem die Augen brennen vor Schmerz und die Kehle bebt von Zorn, irgend etwas Sachliches, etwas Kaltes und Gleichgiltiges!


Endlich fällt ihr etwas ein. »Ich werde dir gleich deine Kleider bringen, damit wir sie gleich einpacken können«, und schon steht sie auf. Aber die Tante schiebt sie sacht zurück.


»Laß, Kind, das hat noch Zeit. Den dritten Koffer packe ich erst morgen. Laß nur alles in deinem Zimmer, das Stubenmädchen bringt mir schon alles.« Und dann, in plötzlicher Beschämung: »Übrigens, weißt du, das eine Kleid, das rote, das behältst du nur, ja, ich brauch’s wahrhaftig nicht mehr, das paßt dir so gut, und natürlich auch die Kleinigkeiten, den Sweater, die Wäsche, das ist doch selbstverständlich. Einzig die zwei andern Abendtoiletten brauche ich noch für Aix-les-Bains, dort geht’s, weißt du, unerhört zu, ein fabelhaftes Hotel übrigens, hat man mir gesagt, und Anthony wird hoffentlich dort sich wohlfühlen, die warmen Bäder, und die Luft ist viel milder und …« Die Tante redet weiter und weiter. Der schwierige Punkt ist überwunden. Sie hat Christine sanft beigebracht, daß sie morgen wegfährt. Jetzt rollt alles wieder leicht und locker im Geleise, sie erzählt und erzählt immer heiterer die ausfälligsten Geschichten von Hotels und Reisen und von Amerika, und Christine sitzt dumpf demütig und doch die Nerven gepreßt unter diesem schrillen, krampfig gleichgiltigen Schwall. Wenn es nur schon zu Ende wäre. Endlich nutzt sie eine kurze Pause. »Ich will euch jetzt nicht länger aufhalten. Der Onkel soll sich ausruhen und auch du, Tante, wirst vom Packen müde sein. Wenn ich dir vielleicht noch etwas helfen kann?«


»Nein, nein.« Die Tante steht gleichfalls auf. »Die paar Dinge packe ich leicht allein. Aber auch für dich ist’s besser, du gehst heute früh zu Bett. Du mußt ja, glaube ich, schon um sechs Uhr aufstehen. Nicht wahr, du bist nicht böse, wenn wir dich nicht zur Bahn begleiten?«


»Nein, nein, das wäre doch übertrieben, Tante«, sagt Christine tonlos und sieht zu Boden.


»Und nicht wahr, du schreibst mir, wie es Mary geht, gleich schreibst du mir, wenn du ankommst. Und wie gesagt, nächstes Jahr sehen wir uns ja wieder.«


»Ja, ja«, sagt Christine. Gott sei Dank, jetzt kann sie gleich gehen, einen Kuß noch dem Onkel, der merkwürdig verlegen ist, einen Kuß der Tante, und dann geht sie nur rasch fort, nur rasch fort! – zur Tür. Aber da, im letzten Augenblick, sie hat schon die Klinke in der Hand, kommt die Tante hastig nach. Noch einmal (aber es ist der letzte Hieb) hat ihr die Angst ihren Hammer auf die Brust geschlagen: »Aber nicht wahr, Christl«, sagt sie dringlich erregt, »du gehst jetzt wirklich gleich auf dein Zimmer, gehst schlafen und ruhst dich aus. Nicht, daß du mehr hinuntergehst, weißt du, sonst … sonst … sonst kommen morgen früh alle Leute von uns Abschied nehmen … und wir haben das nicht gern … Es ist besser, man fährt einfach weg ohne langes Hin und Her und schreibt dann lieber den Leuten paar Karten … ich kann diese Blumenspenden und … Begleitereien nicht leiden. Also nicht wahr, du gehst nicht mehr hinunter, sondern gleich zu Bett … nicht wahr, du versprichst mir’s.«


»Ja, ja, natürlich«, sagt Christine mit letzter Stimme und zieht die Tür zu. Und erst nach Wochen erinnert sie sich, daß sie beim Abschied vergessen hat, den beiden auch nur ein einziges Wort des Dankes zu sagen.


Kaum die Tür hinter sich, verläßt Christine die mühsam zusammengestraffte Kraft. Wie ein abgeschossenes Tier noch einige Schritte taumelt und nur durch die Bewegung sich aufrecht hält, ehe es mit gelösten Gelenken niederfällt, so schleppt sie sich mit den Händen die Wand entlang bis zu ihrem Zimmer; dort fällt sie in den Sessel, starr, kalt, regungslos. Sie versteht nicht, was geschehen ist. Nur den Schmerz eines hinterrücks geführten Schlages spürt sie hinter der gelähmten Stirn, nicht wer ihn geführt. Irgend etwas war mit ihr, gegen sie geschehen. Man jagt sie fort, und sie weiß nicht warum.


Mit aller Anstrengung versucht sie zu denken. Aber das Gehirn zwischen ihren Schläfen bleibt betäubt. Dort steht etwas blaß und starr und antwortet nicht. Und die gleiche Starre steht um sie, gläserner Sarg und grausamer noch als ein schwarzer feuchter Sarg, weil höhnisch hell erleuchtet, mit Luxus blendend, mit Bequemlichkeit höhnend und still, grauenhaft still, während in ihr die Frage um Antwort schreit: »Was habe ich getan? Warum jagen sie mich hinaus?« Unerträglich ist dieses Gegeneinander, dieser dumpfe Druck von innen, als liege das ganze riesige Haus mit seinen vierhundert Menschen, seinen Steinen und Traversen und dem riesigen Dach ihr auf der Brust, und dabei dieses kalt-giftige, weiße Licht, das Bett mit geblümten Daunen zu Schlaf einladend, die Möbel zu heiterer Rast, die Spiegel zu beglückendem Blick; ihr ist, als müsse sie erfrieren, wenn sie hier sitzen bleiben müsse auf dem schmerzenden Sessel, oder plötzlich die Scheiben zerschlagen in sinnloser Wut, oder so schreien, so heulen, so weinen, daß die Schlafenden aufwachen. Nur weg! Nur heraus! Nur… sie weiß nicht was. Aber nur weg, weg, um nicht zu ersticken in dieser gräßlichen, luftleeren Lautlosigkeit.


Und plötzlich, ohne zu wissen, was sie will, springt sie auf und läuft hinaus; hinter ihr schwankt, offen gelassen, die Tür, und im elektrischen Licht leuchten Messing und Glas sinnlos einander an.


Sie läuft die Treppe hinab wie eine Traumwandlerin. Tapeten, Bilder, Geräte, Stufen, Lichtkörper, Gäste, Kellner, Dienstmädchen und Dinge und Gesichter gleiten gespenstig leer an ihr vorbei. Ein paar Leute staunen auf, man grüßt, wundert sich, daß sie es nicht merkt. Aber ihre Blicke sind versperrt, sie weiß nicht, was sie sieht und wohin sie und was sie will, nur ihre Beine hasten mit einer unerklärlichen Behendigkeit die Treppe hinab.


Irgendeine Schaltung, die sonst ihre Handlungen vernunfthaft reguliert, ist gerissen, nicht zielhaft läuft sie, sondern nur vorwärts, vorwärts gejagt von einer namenlosen, sinnlosen Angst. Am Eingang der Halle hält sie plötzlich mit einem Ruck; etwas wacht da auf, eine Erinnerung, daß man hier sitzt, tanzt, lacht, heiter beisammen ist, und sofort versucht sie zu fragen: »Wozu bin ich da? Wozu gekommen?« Und damit zerbricht die Stoßkraft des Raums. Mit einmal kann sie nicht weiter, und kaum sie stehen bleibt, beginnen mit einmal die Wände zu schwanken, der Teppich zu laufen, die Kronleuchter in wilden Ellipsen zu schwingen. Ich falle, spürt sie, der Boden schwankt weg unter mir. Instinktiv greift sie noch mit der rechten Hand in eine Portiere und rettet ihr Gleichgewicht. Aber die Kraft ist aus den Gelenken fort. Sie kann nicht mehr vor und nicht zurück. Starren, angestrengten Blicks, die ganze Schwere des Leibs an die Wand gelehnt, die Augen geschlossen, steht und atmet sie und weiß nicht weiter.


In diesem Augenblick stößt der deutsche Ingenieur auf sie, Fotografien hat er gerade rasch aus seinem Zimmer holen wollen, um sie einer Dame zu zeigen, da erblickt er an die Wand gedrückt, regungslos und gleichzeitig schwer atmend, mit offenen und doch blinden Augen die merkwürdig hingelehnte Gestalt; im ersten Augenblick erkennt er sie nicht. Aber dann bekommt seine Stimme sofort wieder den vergnügt burschikosen Ton. »Da sind Sie ja! Warum kommen Sie denn nicht in die Halle? Oder spüren Sie Geheimnissen heimlich nach? Und warum … aber … was ist denn … Was haben Sie denn …?« Er starrt sie überrascht an. Beim ersten Wort ist Christine zusammengefahren und zittert am ganzen Leib genau wie eine Schlafwandlerin, die ein unerwarteter Ruf wie ein Schuß trifft.


Ihre Augenbrauen, schreckhaft hochgezogen, geben ihrem Blick etwas Aufgerissenes und Krampfiges, wie um einen Schlag abzuwehren, hebt sie die Hand.


»Was haben Sie? Ist Ihnen nicht wohl?« Dabei stützt er sie, und es ist höchste Zeit, denn Christine schwankt merkwürdig. Blau ist ihr plötzlich vor den Augen. Aber wie sie seinen Arm fühlt, menschlich warme Berührung, zuckt sie sofort fiebrig auf.


»Ich muß Sie sprechen … sofort sprechen … aber nicht hier … nicht hier vor den andern … Allein muß ich Sie sprechen.« Sie weiß nicht, was sie ihm sagen soll, nur sprechen, mit irgendeinem Menschen sprechen, sich ausschreien.


Der Ingenieur, von der schrillen Art ihrer sonst so ruhigen Stimme etwas peinlich verblüfft, denkt: sie ist wahrscheinlich krank, man hat sie ins Bett gesteckt, darum kam sie nicht herab, und sie ist heimlich wieder aufgestanden – sicher hat sie Fieber, man merkt’s an den glänzenden Augen. Oder ein hysterischer Anfall, man hat ja allerhand erlebt mit Frauen – jedenfalls zuerst beruhigen, beruhigen, nicht merken lassen, daß man sie für krank hält, scheinbar eingehen auf alles.


»Aber gern, gern, Fräulein« – wie ein Kind spricht er ihr zu – »nur vielleicht …« (Besser man sieht uns nicht) »vielleicht gehen wir paar Schritte hinaus vor das Hotel … in die frische Luft … Es wird Ihnen sicher gut tun … die Halle ist hier immer so fürchterlich überheizt …« Nur erst beruhigen, beruhigen, denkt er, und während er ihren Arm nimmt, tastet er wie zufällig nach ihrem Handgelenk, um zu prüfen, ob sie Fieber habe. Nein, die Hand ist eiskalt. Merkwürdig, denkt er mit gesteigertem Unbehagen, merkwürdige Sache.


Vor dem Hotel schwanken grell und hoch die Bogenlampen, links steht dunkel verschattet der Wald. Dort hatte sie gestern gewartet, und es ist wie vor tausend Jahren, nicht eine Zelle in ihrem Blut erinnert sich. Er führt sie sacht hinüber (nur lieber gleich ins Dunkel, wer weiß, was mit ihr los ist), und sie läßt sich willenlos führen. Ablenken zuerst, überlegt er, ganz gleichgültige Dinge reden, sich auf keine Konferenzen einlassen, nur so zufällig plaudern, das beruhigt am besten.


»Nicht wahr, es ist viel angenehmer … nehmen Sie nur meinen Mantel um … ah, eine wunderbare Nacht … sehen Sie die Sterne … eigentlich Unsinn, daß wir immer den ganzen Abend im Hotel sitzen.« Aber die Zitternde hört ihn nicht. Was Sterne, was Nacht, nur sich spürt sie, nur ihr seit Jahren zusammengedrücktes, gepreßtes, unterdrücktes Ich, das plötzlich sich riesenhaft im Schmerz aufbäumt und die Brust zersprengt. Und mit einmal, es geschieht jenseits des Willens, packt sie grimmig seinen Arm.


»Wir reisen fort … morgen reisen wir fort … für immer fort … nie mehr werde ich hierherkommen, nie mehr … hören Sie, nie mehr … nie mehr … nein, ich ertrage es nicht … nie mehr … nie mehr.« Sie fiebert, fürchtet sich der Ingenieur, wie es ihren ganzen Körper schüttelt, sie ist krank, ich muß gleich einen Arzt verständigen. Aber mit wilden Muskeln klammert sie sich in das Fleisch seines Arms. »Aber warum, ich weiß nicht warum … muß ich so plötzlich weg … es muß etwas geschehen sein … ich weiß nicht was. Mittags waren beide noch so gut zu mir und sagten kein Wort davon, und abends … abends sagten sie mir, ich muß morgen wegreisen … morgen, morgen früh … sofort, und ich weiß nicht, warum … warum ich so plötzlich weg muß … so weg … so weg … wie man etwas aus dem Fenster wirft, was man nicht mehr braucht, so … ich weiß nicht wie, ich weiß nicht … ich verstehe es nicht … es muß etwas geschehen sein.«


Ach so, denkt der Ingenieur. Mit einmal ist ihm alles klar. Gerade vorhin erst hat man ihm das Geschwätz zugetragen über die van Boolen, unwillkürlich ist er erschrocken; beinahe hätte er ihr einen Heiratsantrag gemacht! Aber jetzt begreift er, Onkel und Tante schicken die Arme Hals über Kopf weg, damit sie ihnen weiter keine Unbequemlichkeiten mache. Die Bombe ist explodiert.


Nur jetzt sich nicht mehr einlassen, überlegt er rasch. Ablenken! Ablenken! Er versucht ein paar Allgemeinheiten, ach, das sei wohl nicht endgiltig, vielleicht werden sich ihre Verwandten es noch überlegen, und im nächsten Jahr … Aber Christine hört gar nicht, denkt gar nicht, nur ihr Schmerz muß heraus, wild, vehement, ganz laut mit gestampftem Fuß, die Wut eines hilflosen Kindes. »Aber ich will nicht! Ich will nicht … Ich gehe jetzt nicht nach Hause … was soll ich dort, ich kann es nicht ertragen mehr … ich kann nicht … ich gehe zugrunde … ich werde wahnsinnig dort … Ich schwöre es Ihnen, ich kann nicht, ich kann nicht, und ich will nicht … Helfen Sie mir … Helfen Sie mir!«


Es ist der Schrei eines Ertrinkenden aus dem Wasser, grell und schon halb erstickt, denn jetzt überschwemmt plötzlich die Stimme, und so furchtbar schüttelt sie der losgebrochene Weinkrampf, daß er bis in seinen Körper die zuckenden Stöße spürt. »Nicht«, bittet er, gegen seinen Willen gerührt. »Nicht weinen! Nicht so weinen!« Und um sie zu beruhigen, zieht sein Arm sie unwillkürlich näher heran. Sie gibt nach und lehnt schlaff und schwer an seiner Brust. Aber nichts von Lust ist in diesem Hinsinken, nur grenzenlose Erschöpfung, nur namenloses Müdesein. Nur daß sie sich anlehnen kann an den lebendigen Leib eines Menschen, spürt sie, und daß irgendeine Hand über ihr Haar streicht, daß sie nicht so gräßlich, so ratlos allein und weggestoßen ist. Allmählich wird ihr Schluchzen schwächer, innerlicher, nicht mehr diese elektrisch zuckenden Stöße, sondern leise ausströmendes Weinen.


Dem fremden Mann ist es sonderbar. Da steht er plötzlich im Schatten des Waldes und doch nur zwanzig Schritte vom Hotel (jeden Augenblick kann man sie sehen, kann jemand vorbeikommen) und hält ein junges schluchzendes Mädchen im Arm, wie eine Welle warm wogend spürt er ihre hingegebene Brust. Mitleid überkommt ihn, und Mitleid eines Mannes zu einer leidenden Frau ist immer unwillkürlich Zärtlichkeit. Nur beruhigen, denkt er, nur beruhigen! Mit der freien Linken (noch immer hält sie seine Rechte, damit sie nicht falle) streicht er ihr wie magnetisierend über das Haar. Und damit das Schluchzen leiser werde, neigt er sich hinüber und küßt das Haar, dann die Schläfen und schließlich den zuckenden Mund. Da bricht etwas aus ihr unsinnig heraus.


»Nehmen Sie mich mit, nimm mich mit… Fahren wir fort… wohin Sie wollen … wohin du willst … nur fort hier und nicht wieder zurück… nicht nach Hause zurück … Ich ertrage es nicht … Überallhin, nur nicht zurück … Alles, nur nicht zurück … Wohin Sie wollen, wie lange Sie wollen … Nur fort, nur fort!« In ihrem wilden Fieber rüttelt sie an ihm wie an einem Baum. »Nimm mich mit!«


Der Ingenieur erschrickt. Abstoppen, denkt der praktisch gesinnte Mann, jetzt nur rasch und energisch abstoppen. Sie irgendwie beruhigen, sie zurückführen ins Hotel, sonst wird die Sache peinlich.


»Ja, Kind«, sagt er. »Gewiß, Kind … man darf nur nichts übereilen … wir werden das alles noch besprechen. Überlegen Sie noch bis morgen … vielleicht entschließen sich auch Ihre Verwandten noch anders, und es tut ihnen leid … morgen sehen wir alles klarer.« Aber sie bebt dringend: »Nein, nicht morgen, nicht morgen! Morgen muß ich schon weg, in der Früh muß ich schon weg, schon in der Früh … Sie stoßen mich ja fort … wie ein Postpaket, schnell, schnell, express spedieren sie mich … Und ich lasse mich nicht so wegschicken… Ich lasse mich nicht …« Und ihn heftiger anfassend: »Nehmen Sie mich mit … sofort, sofort … helfen Sie mir … Ich … ich ertrage es nicht mehr.«


Man muß ein Ende machen, überlegt der Ingenieur. Nur sich in nichts einlassen. Sie ist nicht bei Sinnen, sie weiß nicht, was sie redet. »Ja, ja, ja, mein Kind«, streichelt er ihr übers Haar, »selbstverständlich, ich verstehe ja … wir werden das alles jetzt drinnen besprechen, nicht hier, hier dürfen Sie nicht länger bleiben … Sie könnten sich erkälten … ohne Mantel in dem dünnen Kleid … Kommen Sie nur, wir gehen jetzt hinein und setzen uns in die Halle …« Dabei löst er vorsichtig seinen Arm. »Kommen Sie jetzt, Kind.«


Christine starrt ihn an. Mit einmal stockt das Schluchzen. Sie hat nichts gehört und begriffen, was er sagt. Aber mitten in ihrer sinnlosen Verzweiflung, in seiner zuckenden Unbewußtheit hat ihr Körper gespürt, daß der warme zärtliche Arm sich von ihr ängstlich löst. Der Körper hat zuerst verstanden, was jetzt erst der Instinkt und nach ihm das Gehirn schreckhaft erkennt, daß dieser Mann sich von ihr zurückzieht, feige ist, vorsichtig und sich fürchtet, daß alles sie hier weg haben will, alles. Sie wacht auf aus ihrer Trunkenheit, ein Ruck und sie sagt kurz und scharf: »Danke. Danke, ich gehe schon allein. Entschuldigen Sie, mir war nur einen Augenblick nicht ganz wohl, die Tante hat recht, mir tut die hohe Luft hier nicht gut.«


Er will etwas sagen. Aber ohne sich um ihn zu kümmern, geht sie mit harten Schultern heftig voraus. Nur sein Gesicht nicht mehr sehen, niemand mehr sehen, niemand mehr sehen, fort, fort, fort, vor keinem dieser hochmütigen, feigen, satten Menschen mehr sich erniedrigen, fort, fort, fort, nichts mehr nehmen von ihnen, nichts mehr sich schenken lassen, nicht mehr sich täuschen lassen, nicht mehr an sie sich verraten, an niemanden, an keinen, fort, fort, fort, lieber krepieren, lieber im Winkel verrecken. Und während sie das vergötterte Haus, die geliebte Halle durchschreitet, an den Menschen vorbei wie an geschmückten bemalten Steinen, spürt sie nur eines mehr: Haß gegen ihn, gegen jeden hier, gegen alle.


Die ganze Nacht bleibt Christine regungslos auf dem Sessel vor dem Tisch sitzen. Ihre Gedanken gehen dumpf im Kreise, um das einzige Gefühl herum, daß alles zu Ende ist. Es wird kein klarer und faßbarer Schmerz, es bleibt nur ein Betäubtsein, innerhalb dessen sie unterirdisch etwas geschehen schmerzhaft fühlt, so wie man bei einer Operation noch durch die Anästhesie unbestimmt das brennende Messer fühlt, das den Leib zertrennt. Denn etwas geschieht, während sie stumm sitzt, die Augen wie leere Löcher auf den Tisch gebrannt, etwas das ihr Bewußtsein in seiner Lähmung nicht versteht, und dies ist: das neue, das andere Wesen, dieses künstliche und doppelte der neun traumhaften Tage, jenes unwirkliche und doch wirkliche Fräulein von Boolen stirbt wieder in ihr ab. Noch sitzt sie im Zimmer jener andern mit dem Körper jener andern, ihre Perlen um den gefrorenen Hals, einen scharfen Strich Karmin auf den Lippen, ihr libellenleichtes geliebtes Abendkleid über den Schultern, aber schon schauert es fremd über ihrem Leib wie ein Laken auf einem Leichnam. Es gehört nicht mehr zu ihr, nichts von hier, von dieser andern, dieser obern, seligeren Welt gehört mehr zu ihr, alles ist neuerdings fremd und geborgt wie am ersten Tag. Neben ihr steht weiß und glatt gefaltet mit zarten Daunen das Bett, blühende Weiche und Wärme, aber sie legt sich nicht hin: es gehört nicht mehr ihr. Rings leuchten die Möbel, atmet stumm der Teppich, aber all dieses Rundum von Messing, Seide und Glas empfindet sie nicht mehr als sich zugehörig, nicht den Handschuh an der Hand, nicht die Perlen um den Nacken – alles gehört jener andern, jener gemordeten Doppelgängerin, Christiane von Boolen, die sie nicht mehr ist und dennoch ist. Immer wieder versucht sie wegzudenken von diesem künstlichen Ich an ihr wirkliches, sie zwingt sich zu erinnern an die Mutter, daß sie krank war oder vielleicht tot, aber so gewaltsam sie ihr Gefühl auch hinstößt, es gelingt ihr kein Schmerz, keine Sorge, ein Gefühl überschwemmt alles andere, ein Zorn, ein dumpfer, gekrampfter, ohnmächtiger Zorn, der nicht heraus kann und eingesperrt murrt, ein unermeßlicher Zorn – sie weiß nicht gegen wen, gegen die Tante, gegen die Mutter, gegen das Schicksal, Zorn eines Menschen, dem ein Unrecht geschehen. Nur daß man ihr etwas genommen hat, empfindet ihre gepeinigte Seele, nur daß sie fort muß aus diesem selig beflügelten Ich in eine dumpf am Boden kriechende blinde Larve; nur daß etwas vorbei ist, unwiderruflich vorbei.


Die ganze Nacht sitzt sie so, eingeeist in ihrem Zorn auf ihrem hölzernen Sessel. Sie hört nicht durch die gepolsterten Türen das Leben der andern in diesem Haus, den unbesorgten Atem der Schlafenden, das Stöhnen der Liebenden, das Ächzen der Kranken, das unruhige Auf- und Abwandern der Schlaflosen, sie hört nicht durch die verschlossene gläserne Tür den Wind, der schon morgendlich um das schlafende Haus geht, nur sich spürt sie, ihr Alleinsein in diesem Zimmer, diesem Haus, diesem Weltall, ein Stück atmenden zuckenden Fleisches, noch warm wie ein abgerissener Finger und doch sinnlos und ohne Kraft. Es ist ein hartes In-sich-Sterben, ein Abfrieren und Erfrieren Stück für Stück, und sie sitzt starr, als horche sie in sich selbst hinein, wann das pochende, heiße van Boolen-Herz endlich aufhört, in ihr zu hämmern. Nach tausend Jahren kommt der Morgen. In den Gängen fegen hörbar die Diener, unten scharrt der Gärtner den Kies zurecht: es beginnt unausweichlich wirklicher Tag, das Ende, die Reise. Jetzt heißt es einpacken, wegfahren, die andere sein, die Postassistentin Hoflehner aus Klein-Reifling und jene vergessen, deren Atem hier in kleinen dünnen Wellen um die verlorenen Köstlichkeiten schwang.


Beim Aufstehen spürt Christine erst die Erstarrtheit in ihren Gliedern und eine taumelige Müdigkeit des Körpers: die vier Schritte bis zum Kasten hin sind Reise von einem Kontinent zum andern. Mühsam, die toten Gelenke haben keine Kraft, öffnet sie die Kastentür, sofort erschreckt: wie ein Gehenkter, fahl, weißfarben und schlenkrig baumelt dort der Klein-Reiflinger Rock mit der verhaßten Bluse, in der sie gekommen; als die Finger ihn von der Stange heben, schauert sie in jenem widrigen Grauen, mit dem man etwas Verwestes angreift: in diesen toten Menschen Hoflehner sollte sie wieder hinein! Aber es bleibt keine Wahl. Rasch reißt sie das Abendkleid ab, leicht wie seidiges Papier knistert es ihre Hüften hinab, und weglegt sie Stück für Stück die andern Kleider, die Wäsche, den Sweater, die Perlenschnur, die zehn oder zwanzig bezaubernden Dinge, die sie empfangen: nur das ausdrückliche Geschenk nimmt sie mit, eine Handvoll, die leicht in das ärmliche Strohköfferchen geht. Es ist rasch gepackt.


Fertig! Noch einmal blickt sie sich prüfend um. Auf dem Bett liegen die Abendkleider, die Tanzschuhe, der Gürtel, das rosa Hemd, der Sweater, die Handschuhe, so wirr und quer durcheinander, als wäre durch eine Explosion das phantasmagorische Wesen, Fräulein von Boolen, in hundert Stücke zerrissen worden. Zitternd vor Grauen starrt Christine auf die Reste des Phantoms, das sie selber gewesen. Dann blickt sie sich um, ob noch etwas vergessen sei, etwas, das noch ihr gehört. Aber nichts gehört mehr ihr: andere werden hier schlafen in diesem Bett, andere durch dieses Fenster die goldene Landschaft sehen, andere sich spiegeln in diesem geschliffenen Glas, sie nie mehr, nie mehr! Es ist kein Abschied, es ist eine Art Tod.


Die Gänge liegen noch leer, als sie hinaustritt, den alten kleinen Koffer in der Hand. Automatisch geht sie zur Treppe. Aber in ihrem armen Kleid ist ihr, als habe sie, Christine Hoflehner, kein Recht mehr, diese teppichbelegten, messingeingefaßten Stufen, die Herrschaftstreppe hinabzugehen: scheu geht sie lieber die gewundene eiserne Dienertreppe neben dem Klosett hinab. In der grauen, halbaufgeräumten Halle unten taumelt der eingenickte Nachtportier mißtrauisch auf. Was war denn das? Ein Mädchen, mittelmäßig oder eher schlecht gekleidet, einen schäbigen Koffer in der Hand, schleicht sichtlich verschämt wie ein Schatten zum Ausgang, ohne sich bei ihm zu melden. Hallo, rasch springt er vor und sperrt mit drohender Schulter die Drehtür.


»Wohin wünschen Sie, bitte?«


»Ich fahre fort mit dem Siebenuhrzug.« Der Portier sieht verblüfft: zum erstenmal kommt ihm das unter, daß ein Gast, und gar Dame, in diesem Hotel ihren Koffer sich selbst zur Bahn tragen will. Er wittert sofort Unrat und fragt: »Darf ich … darf ich um die Zimmernummer bitten?«


Jetzt erst versteht Christine. Ach so – der Mann hält sie für eine Einschleicherin – schließlich, er hat ja recht, was ist sie denn? Aber der Verdacht erbittert sie nicht, im Gegenteil, sie empfindet irgendeine böse Lust, in ihrem Frost noch gepeitscht, in ihrer Erniedrigung noch mißhandelt zu werden. Macht es mir nur widrig, macht es mir nur schwer – um so besser! Ganz ruhig antwortet sie. »Ich habe das Zimmer 286 gehabt auf Rechnung meines Onkels, Anthony van Boolen, Zimmer 281, Christine Hoflehner.«


»Einen Augenblick, bitte.« Der Nachtportier gibt die Tür frei, aber behält die Verdächtige (sie spürt es) im Auge, daß sie ihm nicht rasch wegpascht, während er im Buch nachschlägt. Dann aber kippt plötzlich sein Ton um; eine nervöse Verbeugung und sehr höflich: »Oh, gnädiges Fräulein, oh, bitte um Verzeihung, ich sehe eben, der Tagportier war von der Abreise schon verständigt … ich meinte, nur, weil es so zeitig sei … und dann … gnädiges Fräulein werden doch nicht selbst den Koffer hinausnehmen, das Auto bringt ihn zwanzig Minuten vor Abfahrt des Zuges. Bitte bemühen Sie sich doch in das Frühstückszimmer, gnädiges Fräulein haben noch reichlich Zeit ein Frühstück zu nehmen.«


»Nein, ich nehme nicht mehr. Adieu!« Sie geht hinaus, ohne sich umzusehen nach dem verwundert starrenden und dann kopfschüttelnd an sein Pult wieder zurückgetretenen Mann.


Ich nehme nicht mehr. Das Wort tut ihr wohl. Nichts und von niemandem. Den Koffer in der Hand, den Schirm in der andern, die Augen krampfhaft auf den Weg geheftet, geht sie hin zur Bahn. Die Berge sind schon erhellt, unruhig quälen sich die Wolken, im nächsten Augenblick wird das Blau hervorbrechen, das göttliche, das so namenlos geliebte engadinische Enzianblau, aber krankhaft gebückt starrt Christine nur auf den Weg: nichts mehr sehen, nichts mehr sich schenken lassen, von niemandem, nicht einmal von Gott. Auf nichts mehr einen Blick tun, nicht erinnert werden, daß von jetzt für ewig diese Berge für andere sind, für andere die Spielplätze und ihre Spiele, die Hotels und ihre spiegelnden Zimmer, die donnernden Lawinen und die atmenden Wälder, und nichts davon mehr für sie, nie mehr, nie mehr! Mit abgewendetem Blick sieht sie vorbei an den Tennisplätzen, wo – sie weiß es – bronzefarben, mit weißen leuchtenden Kleidern, die Zigarette im Mund, andere heute ihre leichten gelenkigen Glieder eitel umjagen werden; vorbei an den noch geschlossenen Läden mit tausend Kostbarkeiten (für andere, für andere!), an den Hotels und Bazaren und Konditoreien, vorbei in ihrem billigen Regenmantel und ihrem alten Schirm, zum Bahnhof, zum Bahnhof. Nur fort, nur fort. Nur nichts mehr sehen, nur sich an nichts mehr erinnern.


Im Bahnhof versteckt sie sich in den Wartesaal dritter Klasse; hier in der ewigen dritten Klasse, überall gleich in der Welt, mit ihren ungepolsterten Bänken, mit ihrer armen Gleichgiltigkeit, fühlt sie sich schon halb daheim, und erst wie der Zug einrollt, geht sie hastig hinaus: niemand soll sie sehen, niemand kennen. Aber da – ist es nicht Halluzination? – hört sie plötzlich ihren Namen: Hoflehner, Hoflehner. Jemand schreit hier (ist es möglich!) ihren Namen, den verhaßten, den ganzen Zug entlang. Sie zittert. Will man sie noch höhnen zum Abschied? Aber deutlich wiederholt sich der Ruf, so beugt sie sich zum Fenster hinaus: da steht der Portier und schwenkt ein Telegramm in der Hand. Sie müsse entschuldigen, es sei schon gestern abends gekommen, aber der Nachtportier hätte nicht gewußt wohin damit, er habe erst jetzt erfahren, daß das Fräulein abreise. Christine öffnet. »Plötzliche Verschlechterung, kommet sofort, Fuchsthaler.« Und dann fährt der Zug … es ist vorbei. Alles ist vorbei.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.