VIII.


Es ist lange noch nicht Morgen. Aber die Laternen scheinen schon müde gebrannt. Alles scheint müde, die Gassen in ihrer Leere, die Häuser in ihrer Dumpfheit, die Geschäfte in ihrer Verschlossenheit und die paar herumirrenden Menschen ihres eigenen Körpers; in schwerem Trott und die Köpfe gesenkt, ziehen die Pferde die länglichen Bauernwagen mit Gemüse zum Markt, es riecht einen Augenblick feucht und säuerlich, wenn man an ihnen vorüberkommt, dann klappern die Milchwagen über das Pflaster, die zinnenen Behälter schlagen klirrend aneinander, dann ist es wieder still, grau und grauenhaft. Die wenigen Menschen, Bäckerburschen, Kanalräumer und undefinierbare Arbeiter haben Gesichter von Schatten und Mohn, grau und bleich, ein trübes Gemisch von Unausgeschlafenheit und Unwilligkeit, und die beiden spüren diesen Unwillen der schlafenden Stadt gegen die Lebendigen und der Lebendigen gegen die schlafende Stadt unwillkürlich mit. Sie sprechen nichts, sondern gehen stumm durch die Finsternis dem Bahnhof zu. Dort kann man sitzen, ausruhen, vier Wände um sich haben: Heimat für Heimatlose.


Im Warteraum setzen sie sich in eine Ecke, auf den Bänken liegen Männer und Weiber und schlafen mit offenem Mund, Pakete neben sich und sehen selbst aus wie zerknüllte, von irgendeinem Schicksal ins Leere fallengelassene Pakete. Von außen kommt manchmal ein unwilliges Keuchen, Pusten und Stöhnen: die Maschinen werden verschoben, die angeheizten Kessel geprobt. Sonst ist es still.


»Denk nicht immer dran«, sagt er zu ihr, »es ist nichts geschehen, das nächstemal will ich sorgen, daß uns nicht mehr so etwas passiert. Ich spüre, du trägst es mir nach, ohne daß du es willst, und es ist doch nicht meine Schuld.«


»Ja«, sagt sie vor sich hin, »ich weiß ja, ich weiß … Du hast keine Schuld. Aber wer hat die Schuld? Warum fällt es immer auf uns. Man hat doch nichts getan, niemand hat man etwas getan, und wo man nur einen Schritt tut, springt es einen an. Nie habe ich viel verlangt in meinem Leben, einmal bin ich auf Urlaub gefahren, einmal habe ich es gut haben wollen wie die andern, heiter und leicht, acht Tage, vierzehn Tage, und da war das mit der Mutter … Und einmal habe …« Sie spricht nicht weiter.


Er versucht sie zu beruhigen. »Aber Kind, was ist denn geschehen, so denk doch vernünftig … man hat irgend jemanden gesucht, und da haben sie halt die Personalien aufgenommen, es war doch ein Zufall.«


»Ich weiß, ich weiß. Nur ein Zufall. Aber was da geschehen ist … das verstehst du nicht, – nein, Ferdinand, das verstehst du nicht, dazu muß man eine Frau sein. Du weißt nicht, wie das ist, als junges Mädel, als Kind schon, noch ehe man etwas versteht, da träumt es in einem schon, wie das wäre, wenn man einmal mit einem Mann, den man liebt, beisammen ist … Alle träumen davon … und man weiß nicht, wie es ist und wie es sein wird, man kann sich nichts vorstellen, auch wenn die Freundinnen noch so viel erzählt haben. Aber jedes Mädel, jede Frau, jede denkt sich das festlich aus … als etwas Schönes… als das Schönste in ihrem Leben … Irgendwie, ich kann es dir nicht genau sagen, als das, ja als das, wofür man eigentlich lebt … als das, das einen wegträgt über alles Sinnlose… Jahrelang, jahrelang träumt man davon und malt sich’s aus … nein, man malt sich’s gar nicht aus, man will es nicht ausdenken und kann es auch nicht, nur träumen tut man davon und wie von etwas Schönem, so ganz, ganz undeutlich, so wie man … und dann … dann wird’s so … so gräßlich, so grauenhaft, so fürchterlich… Nein, das kann man nicht verstehen, wenn einem das zerstört wird, denn das, das kann uns niemand mehr ersetzen, wenn es einmal verdorben, einmal beschmutzt ist …«


Er streichelt ihre Hand, aber sie starrt, ohne auf ihn zu achten, auf die schmutzige Diele.


»Und zu denken, daß das nur an dem Gelde liegt, an dem dreckigen, gemeinen, an diesem niederträchtigen niedrigen Geld. Mit ein bißchen Geld, zwei Banknoten, drei Banknoten, wäre man selig gewesen und wäre hinausgefahren, irgendwohin hinaus mit einem Auto … Irgendwohin, wo einem niemand nachfolgt, wo man allein ist und frei … Ach, wie das schön gewesen wäre, wie man sich ausgespannt hätte, auch du … Auch du wärest anders gewesen, nicht so verstört und bedrückt … Aber unsereins muß sich verkriechen wie ein Hund in einem fremden Stall, wo man ihn aufknallt mit der Peitsche … Ah, ich habe nicht geahnt, daß alles so gräßlich sein kann.« Und wie sie aufschaut und sein Gesicht sieht, fügt sie rasch bei: »Ich weiß, ich weiß, du kannst nichts dafür, und ich habe es vielleicht noch in mir, das Grauen … Du mußt ja verstehen, was mich so gräßlich gepackt hat. Laß mir ein bissel Zeit, es geht schon wieder vorbei …«


»Aber du kommst … du kommst doch wieder?« Die Angst in seiner Frage tut ihr wohl. Es ist das erste warme Wort.


»Ja«, sagt sie. »Ich komme wieder, verlaß dich darauf. Nächsten Sonntag, nur … Du weißt schon … nur das bitte ich dich …«


»Ja«, atmet er, »ich verstehe dich schon, ich verstehe schon.«


Sie fährt ab, er tritt ans Büffet und trinkt rasch ein paar kleine Gläser Branntwein, die Kehle ist ihm wie ausgedörrt, wie Feuer fließt es ihm durch den Schlund. Mit einmal kann er wieder die Glieder regen, und er geht die ganze Straße entlang, rasch, immer rascher, die Arme schwingend gegen einen unsichtbaren Feind, den er anrennen will. Die Leute sehen ihm verwundert nach, und auch beim Bau fällt er auf, wie zornig er mit allen herumschafft, wie gehässig er, der sonst Bescheidene, jede Frage abschnauzt. Sie sitzt im Postamt wie immer, still, bedrückt, schweigsam, abwartend. Und wenn sie aneinander denken, so geschieht es nicht mit Leidenschaft und Liebe, sondern mit einer Art Ergriffenheit. Nicht wie man eines Geliebten, sondern wie man an einen Kameraden im Unglück denkt.


Nach dieser ersten Begegnung fährt Christine jeden Sonntag nach Wien. Es ist der einzige Tag, an dem sie dienstfrei ist, und der Sommerurlaub ist verbraucht. Sie verstehen einander gut. Aber zu ermüdet, zu enttäuscht beide für eine leidenschaftlich begehrende, für eine überschwenglich hoffnungsvolle Liebe, sind sie schon glücklich, jemand zu finden, dem sie sich eröffnen können. Die ganze Woche sparen sie für diesen Sonntag. Sie sparen mit Geld, denn diesen einen Tag wollen sie doch zusammen, abgehalftert von der ewigen Sparerei, verbringen, in eine Gastwirtschaft gehen, in Kaffeehäuser, in ein Kino, ein paar Schillinge ausgeben, ohne ununterbrochen zu zählen und zu rechnen. Und sie sparen die ganze Woche mit Worten und Gefühlen, überlegen, was sie sich erzählen wollen, und freuen sich bei allem, was ihnen zustößt, jemand zu haben, der von innen her zuhört, anteilnehmend und verstehend. Schon dies ist ihnen viel nach Monaten der Entbehrung, und diesem kleinen Glück warten sie ungeduldig zu, den Montag, den Dienstag, den Mittwoch, und immer ungeduldiger dann den Donnerstag, den Freitag und Samstag. Eine gewisse Verhaltenheit bleibt zwischen ihnen. Sie sprechen gewisse Worte nicht aus, die sonst Liebenden leicht vom Munde fließen: sie sprechen nicht vom Heiraten und ewigen Zusammenbleiben – alles ist ja so unwirklich und fern und hat noch nicht recht begonnen, wahr zu sein. Gegen neun Uhr kommt sie gewöhnlich an (die Samstagnacht will sie nicht in Wien verbringen, es ist zu teuer, allein sich ein Hotel zu nehmen, und vor einer Gemeinsamkeit schreckt sie zurück, noch hat sie das Grauen nicht überwunden). Er holt sie ab, sie gehen durch die Straßen, sitzen auf Bänken im Volksgarten, fahren mit der Stadtbahn irgendwo hinaus, essen zu Mittag, streifen durch die Wälder. Das ist schön, und sie werden nicht müde, sich dankbar anzusehen, wenn sie einander gegenübersitzen. Sie sind glücklich, einmal zu zweien über eine Wiese zu gehen und all die kleinen Dinge des Lebens zu haben, die allen, auch den Ärmsten gehören: einen herbstblauen Himmel in goldener Septembersonne, ein paar Blumen und den freien, festlich erfüllten Tag. Schon das ist ihnen viel, und sie freuen sich von Sonntag auf Sonntag auf diese, mit der guten Geduld geprüfter und bescheiden gewordener Menschen. Am letzten Oktobersonntag wird der Herbst müde, freundlich zu den Menschen zu sein, er wirft starken Wind durch die Straßen und zieht Wolken über, es regnet von früh bis abends, und mit einmal spüren sie sich fremd und unnütz in der Welt. Sie können nicht den ganzen Tag im Havelock und ohne Schirm durch die Straßen trotten, und es ist sinnlos und schmerzhaft, in Kaffeehäusern an überfüllten Tischen beisammenzusitzen und nur manchmal unter dem Tisch das fremde Knie als Zeichen der Vertrautheit zu spüren, nicht sprechen zu können vor den fremden Leuten, nicht zu wissen wohin und die Zeit zu spüren, die kostbare Zeit, wie einen Alp. Sie wissen beide, was ihnen fehlt. Es ist lächerlich wenig – ein kleines Zimmer, ein kleiner eigener Raum, drei Meter, vier Meter Abgeschlossenheit, vier Wände, die ihnen gehören an diesem Tag. Sie spüren die Unsinnigkeit, zwei junge Körper, die sich wollen und begehren, zwecklos in nassen Kleidern durch den Tag zu tragen oder auf Sesseln in überfüllten Räumen zu sitzen, und nochmals sich eine Nacht einen solchen Raum zu kaufen, wagen sie nicht. Das einfachste würde sein, Ferdinand würde sich ein Zimmer nehmen, wo sie ihn besuchen könnte. Aber er verdient nur 170 Schilling und wohnt bei einer alten Frau, durch deren Zimmer er gehen muß, in einer kleinen Kammer, die er nicht aufkündigen kann. Sie hat ihm in den Monaten, wo er arbeitslos gewesen ist, gutwillig und vertrauensvoll das Zinsgeld und Kost vorgestreckt, er ist noch mit zweihundert Schilling in ihrer Schuld, die er monatlich abzahlt, und vor einem Vierteljahr kann er nicht hoffen, aus ihrer Schuld zu sein. Alles das sagt er und erklärt er Christine nicht, trotz aller Vertrautheit beharrt bei ihm eben eine Scham, seine letzte Armut zu zeigen und sein Verschuldetsein zu bekennen. Christine wiederum ahnt, daß irgendwelche geldliche Art ihn hindert, dort auszuziehen und ein Zimmer zu nehmen. Sie würde ihm gern Geld bieten, aber die Frau in ihr fürchtet, ihn zu verletzen, wenn sie sich die Möglichkeit innigen, freien und restlosen Beisammenseins kaufen will. So spricht sie nicht davon, und sie sitzen verzweifelt in den verrauchten Lokalen und sehen immer wieder zu den Scheiben, ob der Regen nicht aufhören will. Wie noch nie empfinden sie beide die unermeßliche Macht des Geldes, das mächtig ist, wenn es da ist, und noch mächtiger, wenn es fehlt, das Göttliche der Freiheit, die es zu geben vermag, und das Teuflische seines Hohns, wenn es zum Verzicht zwingt. Eine Wut der Erbitterung kommt über sie, wenn sie in der Früh, in der Dunkelheit die Fenster erleuchtet sehen und dahinter, hinter golden angestrahlten Gardinen Hunderttausende Menschen wissen, jeden mit der Frau, die er begehrt, geschützt und frei, und selber heimatlos, sinnlos durch die Straßen, durch den Regen trotten – eine Grausamkeit, wie sie in der Natur nur das Meer hat, in dem man verdursten kann. Zimmer sind da mit Licht und Wärme und weichen Betten in Stille und Abgeschlossenheit, Zehntausende, Hunderttausende, vielleicht sogar unzählige, die niemand benützt und bewohnt, und sie allein haben nichts, nur um sich einen Augenblick aneinanderzulehnen und die Lippen zu vereinen, nichts, diesen rasenden Durst und den Zorn gegen das Sinnlose in sich zu löschen, als sich zu betrügen, daß dies nicht ewig so dauern könne, und so beginnen sie beide zu lügen. Er liest mit ihr im Kaffeehaus die Annoncen, schreibt und erzählt, daß er glänzende Aussichten habe auf eine glänzende Stellung. Ein Freund von ihm, ein Kriegskamerad, wolle ihn unterbringen in dem Sekretariat einer großen Baufirma, er werde dort so viel Geld verdienen, daß er an der Technik nachstudieren könne und dann selbst Architekt werden; sie wieder erzählt – und dies ist keine Lüge –, daß sie an die Postdirektion ein Gesuch gerichtet habe, man möge sie nach Wien versetzen, und sie sei zu ihrem Onkel gegangen, der dort große Protektion habe. In acht Tagen, in vierzehn Tagen werde sie gewiß schon guten Bescheid haben. Aber was sie nicht erzählt, ist, daß sie tatsächlich zum Onkel gegangen ist, einmal an einem Abend, ohne daß er es wußte. Sie hat angeläutet um halb neun Uhr, nachdem sie zuvor aus den Fenstern hörte, sie seien alle sicher zu Hause, sie hatte im Vorzimmer die Teller klirren gehört, und schließlich war auch wirklich der Onkel herausgekommen, etwas nervös, es sei schade, daß sie gerade heute komme, die Tante und die Kousinen seien verreist (an den Mänteln im Vorzimmer hatte sie gesehen, daß es eine Unwahrheit war) und er hätte zwei Freunde zum Abendessen, sonst hätte er sie hereingebeten, und ob er ihr mit etwas dienen könne. Da hatte sie zu ihm, und er hatte ihr zugehört, ein »Ja, ja, ja gewiß« gesagt, und sie hatte deutlich gespürt, er fürchte, sie käme um Geld, und wolle sie nur rasch los haben. Aber das erzählt sie Ferdinand nicht, wozu ihn entmutigen, der selbst so entmutigt ist. Und auch nicht, daß sie sich ein Los gekauft hat, von dem sie, wie alle Armen, das Wunder erhofft. Sie lügt ihn lieber an, sie habe ihrer Tante geschrieben, ob sie ihr nicht helfen könne zu einem Beruf oder sie mit hinüber nach Amerika nehmen, dann würde sie ihn mitnehmen und ihm drüben eine Stellung verschaffen, dort brauche man ja tüchtige Leute. Er hört zu und glaubt ihr nicht, so wie sie ihm nicht glaubt. So sitzen sie leer herum, die Freude wie weggewaschen vom Regen, die Augen verdunkelt von der Dunkelheit und wissen um die völlige Ausweglosigkeit. Dann wieder erzählen sie einander von Weihnachten und vom Nationalfeiertag, da habe sie zwei Tage frei, da wollten sie irgendwohin gemeinsam hinausfahren, aber das war weit im November, weit im Dezember und noch lange, leere, hoffnungslose Zeit.


So täuschen sie sich mit Worten, aber im Tiefsten täuschen sie sich nicht, sie wissen beide, wie fragvoll es ist, in einem lärmenden Raum unter Menschen zu sitzen, wenn man allein sein will, und leise lügenhafte Dinge zu erzählen, während Leib und Seele nach Wahrheit und tiefer Vertraulichkeit begehren.


»Nächsten Sonntag wird es gewiß schön sein«, sagt sie, »der Regen kann ja nicht immer dauern.«


Und: »Ja«, antwortet er, »es wird sicher schön sein.« Aber beide haben sie nicht den Mut mehr, sich zu freuen, sie wissen, daß der Winter kommt, der Feind der Heimatlosen, und wissen, es wird nicht besser werden mit ihnen. Von Sonntag zu Sonntag warten sie auf ein Wunder, aber es geschieht kein Wunder, sie gehen nur nebeneinander, essen zusammen und reden zusammen, und dies Beisammensein wird allmählich mehr Qual als Lust. Einige Male streiten sie miteinander und wissen dabei selbst, es ist nicht Zorn eines gegen den andern, sondern Zorn gegen das Sinnlose, dem sie verfallen sind, und sie schämen sich einer vor dem andern; die ganze Woche freuen sie sich auf den gemeinsamen Tag, und am Sonntagabend spüren sie immer, daß etwas in ihrem Leben falsch und widersinnig ist. Die Armut erdrückt beinahe ganz die Leidenschaft ihres Gefühls, und sie ertragen ihr Beisammensein und ertragen es doch nicht.


An einem griesligen Novembertag, ein mattes Mittaglicht hinter den schlecht geputzten Scheiben des Dienstraums, sitzt Christine vor ihrem Pult und rechnet. Es geht eng aus mit ihrem Gehalt, seit sie jeden Sonntag nach Wien fährt; die Fahrkarte, Kaffeehäuser, die Straßenbahn, das Mittagessen, die Kleinigkeiten, all das summiert sich. Ein Schirm ist ihr zerrissen worden beim Einsteigen, einen Handschuh hat sie verloren, und schließlich doch (man ist eine Frau) für das Beisammensein mit dem Freund hat sie sich ein paar Kleinigkeiten gekauft, eine neue Bluse, ein Paar feinere Schuhe. Die Rechnung weist einen kleinen Fehlbetrag, nicht viel, 12 Schilling im ganzen, und sie sind reichlich gedeckt durch die Reste der aus der Schweiz mitgebrachten Franken, aber immerhin, sie fragt sich, ob sich das wird aufrechthalten lassen, dieses allsonntäglich in die Stadt Fahren, ohne Vorschuß zu nehmen oder Schulden zu machen. Und vor beidem graut ihr, aus bürgerlichem, durch drei Generationen vererbtem Instinkt. Sie sitzt und sinnt vor sich: wie soll das werden? Von dem letzten Beisammensein vor zwei Tagen – es hat wieder so fürchterlich geregnet und gestürmt, die ganze Zeit sind sie in Kaffeehäusern gesessen und unter Vordächern gestanden, und sogar in die Kirche haben sie sich geflüchtet – hat sie nasse zerdrückte Kleider heimgebracht – eine grenzenlose Müdigkeit und Traurigkeit. Ferdinand ist so merkwürdig verstört gewesen, er mußte Ärger gehabt haben in seinem Bau oder sonst irgend etwas, beinahe hart ist er zu ihr gewesen und unfreundlich. Manchmal hat es eine halbe Stunde gedauert, ehe er ein Wort sagte, und stumm, wie verfeindet, waren sie nebeneinander gegangen. Sie versucht nachzudenken, was ihn verstimmt haben könnte. War er erbittert, daß sie sich nicht überwinden konnte, noch einmal mit ihm in ein solches gräßliches Hotel zu gehen, Erinnerung voll Grauen und Verstörung, oder war es nur das Wetter und die Verzweiflung dieses planlosen Irrens von Lokal zu Lokal, diese entnervende und entseelte Heimatlosigkeit, die ihrem Beisammensein allen Sinn und alle Freude nimmt? Etwas, das spürt sie, beginnt zwischen ihnen zu erlöschen: nicht die Freundschaft, nicht die Kameradschaft, aber irgendeine Kraft läßt fast gleichzeitig in beiden nach: sie haben nicht mehr den Mut, einander mit Hoffnungen zu belügen. Anfangs haben sie den Wahn gehabt, einer dem andern helfen zu können, einer den andern glauben zu machen, man könne einen Ausweg finden aus diesem Engpaß ihrer Armut, nun glauben sie es selber nicht mehr, und der Winter kommt näher, wie in einen nassen Mantel gehüllt und wie ein böser Feind.


Sie weiß nicht mehr, woher noch eine Hoffnung nehmen. In der linken Lade ihres Schreibtisches liegt ein schreibmaschiniertes Blatt, gestern hat sie es bekommen von der Postdirektion Wien: »Antwortlich Ihres Ansuchens vom 17.9. 1926 sind wir leider genötigt mitzuteilen, daß die von Ihnen erbetene Versetzung in den Postrayon Wiens derzeit nicht möglich ist, da im Sinne des Ministerialerlasses B.D.Z.1794 eine Vermehrung in den Wiener Postamtsstellungen nicht in Aussicht genommen ist und derzeit keine Stelle vakant ist.«


Sie hat es nicht anders erwartet, vielleicht hat der Hofrat interveniert, vielleicht hat er vergessen: jedenfalls, er ist der einzige gewesen, der hätte helfen können. Außer ihm hat sie niemanden, und so heißt es hierbleiben, ein Jahr, fünf Jahre, und vielleicht das ganze Leben; sinnlos ist die ganze Welt.


Sie sitzt und überlegt, den Rechenstift noch in der Hand, ob sie es Ferdinand sagen soll. Merkwürdig, er hat sie nie gefragt, was aus ihrem Gesuch geworden ist, wahrscheinlich hat er ohnehin nicht daran geglaubt. Nein, lieber es ihm nicht sagen, er wird es auch so verstehen, wenn sie nie mehr davon spricht. Es könnte ihn nur quälen. Es hat ja keinen Sinn. Nichts mehr hat jetzt einen Sinn, nichts.


Die Tür geht. Instinktiv richtet sich Christine auf und rückt die Postsachen zurecht, es ist schon ein gewisser mechanischer Ruck, immer wenn jemand kommt, sich aus der Träumerei in die Arbeit hineinzureißen. Aber sofort fällt ihr auf: die Tür wird anders geöffnet als sonst, so merkwürdig zaghaft und vorsichtig, während die Bauern sie sonst aufpoltern wie eine Stalltür und hinter sich krachend ins Schloß fallen lassen. Diesmal aber geht sie wie von einem kleinen Wind aufgeweht, ganz langsam, nur die Angeln murren ein wenig; unwillkürlich sieht sie neugierig hinter die Glasscheibe und erschrickt. Der Mensch, den sie am wenigsten hier vermutet, steht hinter der gläsernen Wand vor ihr: Ferdinand.


Christine erschrickt bis in die Kinnladen, und es ist kein gutes Erschrecken. Manchmal hat ihr Ferdinand schon angeboten, sie solle doch die Mühe sparen, nach Wien zu kommen, er wolle sie draußen besuchen. Aber immer wieder hat sie abgewehrt, vielleicht aus Scham, sich in der abgenutzten kleinen Amtsstube, in der selbstgenähten Arbeitsschürze zu zeigen, vielleicht Eitelkeit der Frau, Scham der Seele. Vielleicht auch aus Ängstlichkeit vor dem Geschwätz der Nachbarn; was würden sie sagen, die Wirtin nebenan, die Nachbarin, wenn sie sie mit einem Fremden aus Wien irgendwo im Walde sähen, und Fuchsthaler, den würde es kränken. Jetzt ist er doch gekommen, es kann nichts Gutes sein.


»Na, da staunst du, das hättest du dir nicht gedacht!« Es soll heiter klingen, aber in der Kehle knarrt etwas mit wie eine harte Deichsel.


»Was ist denn? … Was ist? …« fragt sie erschreckt.


»Nichts. Was soll denn sein. Ich habe gerade frei gehabt, und da dachte ich mir, fährst einmal heraus. Freut es dich nicht?«


»Ja, ja«, stottert sie, »natürlich.«


Er sieht sich um. »Also, das ist dein Königreich? Der Schönbrunner Empfangssaal ist schöner, nobler, aber immerhin, du bist allein und hast keinen Pascha über dir. Das ist schon viel!«


Sie antwortet nicht und denkt nur immer: was will er?


»Hast du jetzt nicht Mittagspause? Ich habe gedacht, wir könnten vielleicht mittags ein bißchen zusammen gehen und reden.«


Christine sieht auf die Uhr. Es war 3/4 12 vorbei. »Noch nicht, aber gleich. Nur… nur glaube ich… es ist besser… Es ist besser, wir gehen nicht zusammen fort; du weißt ja nicht, wie das hier ist, wenn sie einen mit jemand sehen, gleich fragen sie mich, der Krämer, die Weiber und jeder und jeder, wer das war und mit wem ich hier bin; und lügen mag ich nicht gern. Es ist besser, du gehst voraus, da rechts entlang, den Pfarrweg, und du kannst es nicht verfehlen, bis dort, wo der Hügel beginnt. Dort geht ein Passionsweg hinauf, nein, du kannst es nicht verfehlen, zur Michaelskirche droben auf dem Berg. Und wo der Wald beginnt, steht ein großes Kruzifix, das siehst du gleich, wenn du aus dem Dorf herauskommst, davor stehen Bänke für Wallfahrer, dort warte auf mich. Mittags ist dort niemand, da sind sie alle beim Essen. Und dann, dort fällt es nicht auf, wenn ein Fremder dort ist, dort wartest du auf mich, nicht wahr, ich komme in fünf Minuten nach, und dann haben wir Zeit bis zwei Uhr.«


»Gut«, sagt er. »Ich werde es schon finden, lebe wohl.«


Er schließt halb hinter sich die Tür, der scharfe knappe Ton schlägt ihr durch und durch. Es muß etwas geschehen sein. Ohne Grund ist er nicht gekommen, er muß doch Dienst haben. Und dann – die Fahrt kostet doch Geld … Sechs Schilling und wieder zurück. Er muß einen Grund haben.


Sie läßt die Glasscheibe herab, die Hände zittern ihr, kaum kann sie den Schlüssel umdrehen, um abzuschließen. Wie Blei sind ihr die Knie.


»Na, wohin denn?« fragt sie die Huberbäuerin, die gerade vom Felde zurückkommt, als sie das Postfräulein ausnahmsweise um die Mittagszeit dem Wald zuwandern sieht.


»Spazieren«, antwortet sie der Neugierigen. Für jeden Schritt muß man sich entschuldigen, in jeder Sekunde ist man überwacht. Immer hastiger geht sie in ihre Angst hinein, die letzten Schritte den Passionsweg hinauf läuft sie beinahe. Ferdinand sitzt auf einer steinernen Bank vor dem Kreuz. Der Schmerzensmann schwebt hoch in der Luft, die Arme verkrümmt von den eingetriebenen Nägeln, in tragischer Ergebenheit hängt der Kopf mit der Dornenkrone zur Seite herab. Der Schattenriß Ferdinands, der auf der Steinbank unterhalb des überlebensgroßen Kruzifixes sitzt, scheint zu diesem tragischen Bildwerke zu gehören. Sein Haupt ist düster zur Erde gebeugt und seine Gestalt gleich starr in einem fanatischen, konzentrierten Nachdenken. Seine Hand hat einen Stock tief in die Erde gebaut. Er hört zuerst nicht, wie sie kommt, dann zuckt er auf, zieht den Stock an sich, wendet sich um und sieht sie an, nicht neugierig, nicht freudig, nicht zärtlich.


»Da bist du ja schon«, sagt er nur. »Setz dich doch her, es ist niemand da.«


In ihr bebt die Angst bis an die Lippen, sie kann sie nicht länger niederdrücken.


»So sag doch, was ist, was ist geschehen?«


»Nichts«, antwortet er und sieht vor sich hin. »Was soll geschehen sein?«


»Quäl mich doch nicht. Ich sehe dir’s an. Es muß etwas geschehen sein, daß du heute frei hast.«


»Frei – ja eigentlich hast du recht. Eigentlich bin ich frei.«


»Ja wieso denn … Man hat dir doch nicht gekündigt?«


Er lacht böse. »Gekündigt, nein, eigentlich nicht, kündigen kann man das nicht gut nennen. Es ist nur Schluß mit dem Bau.«


»Wieso Schluß, so sag mir’s doch, was heißt das, wieso Schluß …?«


»Schluß heißt Schluß. Unsere Firma ist pleite, und der Herr Bauunternehmer ist verschwunden. Ein Schwindler, sagen sie jetzt, ein Betrüger, und vorgestern war er noch der gnädige Herr. Schon Samstag ist mir so allerhand aufgefallen, er hat so lange hin und her telefoniert, bis das Lohngeld gekommen ist für die Arbeiter, und uns hat er nur die Hälfte gezahlt – ein Irrtum in der Verrechnung, hieß es, so hat der Prokurist gesagt, sie hätten zu wenig behoben, der Rest käme gleich Montag. Na, und Montag ist nichts gekommen und Dienstag nichts und Mittwoch, heute war Schluß, der Herr ist verreist, der Bau wird vorläufig unterbrochen, na, und so kann unsereins einmal sich den Luxus erlauben, spazierenzugehen.«


Sie sieht ihn starr an. Was sie am meisten erschreckt, ist, daß er so höhnisch und ruhig darüber spricht. »Ja, aber da muß dir doch eine Abfindung gezahlt werden nach dem Gesetz?«


Er lacht. »Ja, ja, ich glaube, im Gesetz steht so was, nun wir werden ja sehen. Jetzt vorläufig ist keine Briefmarke da, der Hypothekarkredit verputzt und sogar die Schreibmaschinen verpfändet. Wir können ja warten, wir haben ja Zeit.«


»Und was … was wirst du jetzt machen? …«


Er sieht vor sich hin und gibt keine Antwort. Nur mit dem Stock stochert er in der Erde herum. Sehr kunstvoll bohrt er einen kleinen Stein nach dem andern heraus und schichtet sie zusammen. Es ist ihr fürchterlich.


»So sag doch … was hast du …was hast du jetzt vor … Was wirst du tun?«


»Was ich tun werde?« Er lacht wieder, dieses merkwürdige knappe Lachen. »Nun, was man in solchen Fällen tut. Ich werde mein Bankkonto angreifen. Ich werde von meinen ›Ersparnissen‹ leben. Ich weiß zwar noch nicht wie. Dann nach sechs Wochen wird es ja wahrscheinlich erlaubt sein, die segensreiche Institution unserer Republik in Anspruch zu nehmen, die man Arbeitslosenunterstützung nennt. Davon werde ich versuchen zu leben, so wie eben auch die andern dreihunderttausend in unserem gesegneten Donaustaat. Und wenn der glorreiche Versuch mißlingt, so werde ich eben krepieren.«


»Unsinn.« Seine kalte Ruhe macht sie rasend. »Rede nicht solchen Unsinn. Wie kann man das alles so schwernehmen. Ein Mensch wie du … du wirst doch eine Anstellung finden, hundert für eine.«


Er fährt plötzlich auf und schlägt den Stock auf die Erde.


»Aber ich will keine Anstellung mehr! Ich habe genug! Das Wort macht mich rasend, elf Jahre schon werde ich jetzt immer wieder und wieder angestellt, immer an irgend etwas anderes heran und nie hinein, immer nur dabei und nie darin. Vier Jahre war ich angestellt in der Mordfabrik, und dann in andern Fabriken und andern Geschäften. Immer habe ich zugepackt für einen fremden Willen, nie für den eigenen, und dann immer dieser Pfiff: Hinaus! Genug! Anderswohin! Neu anfangen, immer und immer wieder von Anfang an. Aber jetzt kann ich nicht mehr. Ich habe genug, ich will nicht mehr.«


Christine macht eine Bewegung, ihn zu unterbrechen, aber er läßt sie nicht zu Wort kommen.


»Ich kann nicht mehr, Christine, glaub es mir, ich hab’ genug, ich kann nicht mehr, ich schwöre dir’s, ich kann nicht mehr. Lieber krepieren, als da noch einmal hin ins Vermittlungsamt und wie ein Bettler in der Doppelreihe stehen und warten, bis man einen Zettel bekommt und dann wieder einen Zettel. Und dann laufen, stockauf und -ab und Briefe schreiben, auf die keiner antwortet, und Offerten, die morgens der Straßenkehrer aus dem Mist aufknüllt. Nein, ich ertrag’s nicht mehr, dieses hündische Dasein und Dastehen im Vorzimmer und dann endlich Hineingelassenwerden zu irgendeinem kleinen Beamten, der sich großtut und einen anschaut mit diesem gelernten, kühlen, gleichgiltigen Lächeln, nur damit man sofort weiß, er kann Hunderte haben und tut einem eine Gnade, wenn er einen nur anhört. Und dann das Herzzucken zu spüren, jedesmal neu, wenn einer die Papiere nachlässig durchblättert und die Zeugnisse ansieht, als ob er darauf spuckte, und dann sagt: ›Ich werde Sie in Vormerkung nehmen, vielleicht schauen Sie morgen wieder vorbei.‹ Und dann wieder morgen vergeblich und übermorgen, bis man dann endlich irgendwo unterkommt, angestellt wird und wieder weggestellt. Nein, ich ertrag’s nicht mehr. Ich habe viel vertragen, mit zerrissenen Schuhen und zerfetzten Sohlen bin ich sieben Stunden auf russischen Landstraßen marschiert, habe Schlammwasser gesoffen und drei Maschinengewehre auf dem Rücken getragen, Brot gebettelt in der Gefangenschaft und Menschen eingeschaufelt und mich prügeln lassen von einem betrunkenen Aufseher. Ich habe Stiefel geputzt für die ganze Kompanie und schweinische Fotografien verkauft, nur um noch Futter zu haben für drei Tage, alles habe ich getan und alles ertragen, weil ich geglaubt habe, einmal nimmt’s ein Ende, einmal kriegt man eine Anstellung, erklimmt die erste Stufe, die zweite hinauf. Aber immer stößt es einen wieder hinunter, jetzt bin ich so weit, daß ich eher jemand umbringen könnte, ihn niederschießen, als vor ihm betteln. Ich kann nicht mehr heute. Ich kann nicht mehr in Vorzimmern lungern und auf den Arbeitsämtern herumstehen. Ich bin heute dreißig Jahre, ich kann es nicht mehr.«


Sie rührt ihn an. Unermeßliches Mitleid ist in ihr, und sie will es ihn nicht spüren lassen, aber er merkt es gar nicht, es ist, wie wenn ein Kind an einem Baum rüttelt, so starr bleibt er, so hölzern in sich verdrossen.


»So, jetzt weißt du’s, aber hab keine Angst, ich bin nicht gekommen, dich anzujammern. Ich will kein Mitleid. Spare es für andere, denen hilft es vielleicht. Mir hilft es nicht mehr. Ich bin gekommen, um dir Adieu zu sagen. Es hat keinen Sinn mehr mit uns beiden. So weit darf es nicht kommen, daß ich dir in der Tasche liege, den Stolz habe ich noch. Lieber verhungern! Besser, man geht anständig auseinander und lädt nicht einer dem andern seinen Packen auf den Rücken. Das wollte ich dir sagen und noch für alles danken …«


»Aber Ferdinand.« Sie faßt ihn heftiger an. Sie hängt sich an ihn mit aller Gewalt, daß nun der Leib wirklich bebt: »Ferdinand, Ferdinand, Ferdinand«, sie weiß kein anderes Wort. Sie weiß nichts zu sagen als immer dieses Wort in ihrer sinnlosen, ratlosen Angst.


»So sag doch ehrlich, hat’s denn einen Sinn? Tut es dir nicht selber weh, wenn wir so verschmutzt in den Straßen, in den Kaffeehäusern sitzen, und einer kann dem andern nicht helfen und lügt den andern an? Wie lange soll denn das noch dauern, worauf sollen wir warten? Ich bin jetzt dreißig und habe noch nichts je tun können von dem, was ich gewollt habe. Immer nur angestellt, weggestellt, und jeden Monat werde ich älter um ein Jahr. Ich habe nichts gesehen von der Welt, habe nichts vom Leben gehabt als nur das, daß ich immer geglaubt habe: jetzt kommt es endlich, jetzt fängt es an. Aber jetzt weiß ich schon, es kommt nichts mehr, es kommt nichts Gutes mehr. Ich bin fertig, ich komme nicht mehr auf. Und so einem soll man ausweichen … Ich weiß, es tut niemand gut, deine Schwester hat es gleich richtig gespürt und hat sich vor den Franzl gestellt, daß ich ihn nicht anfasse und mitreiße, und dich würde ich auch nur mitreißen. Es hat keinen Sinn. Machen wir wenigstens anständig Schluß, wie zwei Kameraden.«


»Ja, aber … Was willst du tun?«


Er antwortet nicht. Er bleibt starr und stumm und wartet.


Da sieht sie hin und erschrickt. Er hat den Stock fest in die Faust genommen und mit der Spitze ein kleines Loch vor sich hingegraben in die Erde. Auf dieses Loch starrt er so, als wolle er sich mit dem ganzen Körper hineinstürzen, als risse es ihn hinab. Plötzlich versteht Christine, plötzlich wird ihr alles klar.


»Du willst doch nicht …«


»Ja«, antwortet er ruhig. »Ja, es ist das einzig Vernünftige, ich habe genug. Ich habe nicht Lust, noch einmal anzufangen, aber Schluß zu machen, dazu reicht es noch aus. Vier von uns haben es schon draußen getan. Es geht rasch und ich habe dann ihre Gesichter gesehen, gut, zufrieden, klar. Es ist nicht schwer. Es ist leichter, als so weiterzuleben!«


Sie hängt noch immer an ihm, so wie sie ihn gefaßt hat. aber plötzlich werden ihre Arme lahm, sie läßt sie lose herunterfallen und sagt nichts.


»Verstehst du das nicht?« fragt er, den Blick ruhig aufhebend. »Du bist doch sonst ehrlich zu mir?«


Sie denkt nach, dann sagt sie einfach: »Ich habe auch alle drei Tage das gleiche gedacht. Nur getraut habe ich mich nicht, so klar zu denken. Du hast recht, es hat keinen Sinn so weiter.«


Er blickt sie an, ungewiß, und es ist wie eine verzweifelte Lockung, wie er fragt: »Du würdest auch …?«


»Ja, mit dir.«


Ganz ruhig sagt sie es und entschlossen, als gelte es einen Spaziergang. »Allein habe ich nicht den Mut, ich weiß nicht … ich habe noch nicht darüber nachgedacht, wie man es tut, vielleicht hätte ich es sonst schon längst getan.«


»Du würdest …« Beglückt stammert er und nimmt ihre Hände.


»Ja«, sagt sie ganz ruhig, »wann du willst, aber zusammen. Es hat keinen Sinn, dich mehr anzulügen. Die Versetzung nach Wien ist nicht bewilligt, und da in dem Dorf gehe ich zugrunde. Besser schnell als langsam. Und nach Amerika habe ich gar nicht geschrieben. Ich weiß, sie helfen mir nicht, sie würden mir zehn Dollar schicken oder zwanzig Dollar – was hilft das? Lieber rasch, als sich quälen, du hast recht!«


Er sieht sie lange an. Nie hat er sie so leidenschaftlich betrachtet. Sein hartes Gesicht ist gelöst, und nach und nach kommt ein Lächeln hinter den verhärteten Augen heraus. Er streichelt ihr die Hände. »Daran hab’ ich gar nicht gedacht, daß du… daß du mich so weit begleiten willst. Jetzt ist mir doppelt so leicht, ich habe doch Sorge um dich gehabt.«


Sie sitzen da, die Hände verschränkt. Würde jemand vorbeigehen, er würde meinen, ein neues Liebespaar, eben verbunden, eben verlobt, sei den kleinen Passionsweg hinaufgewandelt, um das Verlöbnis zu bekräftigen vor dem Kruzifix. Nie sind sie so sorglos, so sicher nebeneinander gesessen. Und erstmalig spüren sie Sicherheit einer an dem andern und in die Zukunft. Und sie sitzen lange und sehen sich an, zufrieden und klar und gut das Gesicht, mit verschmolzenen Händen, dann fragt sie ruhig: »Wie … wie willst du es tun?«


Er greift in die rückwärtige Tasche und holt einen Armeerevolver heraus. Die Novembersonne springt auf den blanken Lauf und er leuchtet auf. Gar nicht schreckhaft scheint ihr die Waffe.


»In die Schläfe«, sagt er. »Du mußt dich nicht fürchten, ich habe eine sichere Hand, ich werde nicht zittern… Und mir dann ins Herz. Es ist ein Armeerevolver schwersten Kalibers, man kann ganz sicher sein. Ehe sie im Dorfe die zwei Schüsse hören, ist alles vorbei. Du mußt keine Angst haben.«


Sie sieht sich den Revolver an, ruhig, ohne Erregung, mit einer sachlichen Neugier. Dann sieht sie auf. Vor ihr, drei Meter vor der Steinbank, auf der sie sitzen, erhebt sich aus dunklem Holz riesig groß das Kruzifix mit dem Schmerzensmann, der drei Tage am Kreuz gelitten.


»Nicht hier«, sagt sie hastig, »nicht hier und nicht jetzt. Denn …« Sie sieht ihn an, und ihre Hand faßt dabei wärmer als die seine, »ich möchte, daß wir zuvor noch einmal beisammen sind … wirklich beisammen, ohne Angst und ohne Grauen … Eine ganze Nacht … vielleicht hat man sich noch manches zu sagen … so dieses Letzte, das man sich sonst im Leben nie sagt … Und dann … ich möchte einmal mit dir sein, ganz mit dir sein eine Nacht… Am Morgen sollen sie uns dann finden.«


»Ja«, antwortet er. »Du hast recht, man soll noch das Beste vom Leben nehmen, ehe man es wegwirft. Verzeih mir, daß ich nicht daran gedacht habe.«


Sie sitzen wieder stumm, und um sie ist ein leise streichender Wind. Sie spüren die Sonne weich, gut und lau. Es ist schön, dazusitzen. Einmal froh und auf wunderbare Weise sorglos. Da schlägt es drüben an, einmal, zweimal, dreimal, die Glocke vom Turm. Sie schrickt auf. »Dreiviertel zwei!«


Ein helles Lachen hellt ihm das Antlitz auf. »Siehst du, so sind wir. Du bist tapfer und hast keine Angst zu sterben. Aber ins Amt zu spät zu kommen, hast du Angst. So verknechtet sind wir, so tief steckt es uns schon im Blut. Es ist wirklich Zeit, frei zu werden von all dem Unsinn. Willst du wirklich noch hinübergehen?«


»Ja«, sagt sie, »es ist besser so. Ich möchte noch zuvor alles in Ordnung bringen. Es ist dumm, aber ich weiß nicht … es wird mir dann leichter sein, wenn ich alles zurechtgemacht habe und noch ein paar Briefe geschrieben. Und dann … wenn ich heute da drinnen bin, bis abends um sechs Uhr, dann ahnt es niemand und sucht mich niemand. Und abends fahren wir nach Krems oder nach St. Pölten oder nach Wien. Ich habe noch Geld für ein gutes Zimmer, und wir essen zu Abend und leben einmal so, wie wir wollen … nur schön soll es sein, ganz schön und morgen früh, wenn sie uns dann finden, das ist dann alles gleichgiltig. Um sechs Uhr holst du mich dann ab, jetzt liegt ja nichts mehr daran, wenn sie mich sehen, sollen sie reden, sollen sie denken, was sie wollen … Dann sperre ich die Tür zu hinter mir und hinter allem, allem … Dann bin ich frei … dann sind wir wirklich frei.«


Er blickt sie immer wieder an, diese unvermutete Festigkeit beglückt ihn.


»Ja«, sagt er, »ich komme um sechs Uhr. Bis dahin gehe ich spazieren und schaue mir noch einmal die Welt an. Also – auf Wiedersehen.«


Heiter, leicht wie noch nie, läuft sie rasch den Passionsweg hinunter und blickt noch einmal zurück. Er steht da, sieht ihr nach, dann zieht er sein Taschentuch und winkt ihr. »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen!«


Christine geht in ihr Amt. Plötzlich ist alles leicht. Nicht länger mehr feindselig warten die Gegenstände, Schreibtisch, Sessel, Pult, Waage, Telefon und das gehäufte Papier. Sie höhnen nicht stumm und boshaft ihr: »Tausendmal, tausendmal, tausendmal«, denn sie weiß, die Tür steht offen, ein Schritt und sie wird frei sein.


Eine wunderbare Ruhe ist plötzlich in ihr, eine heitere Ruhe wie die einer Wiese, wenn es Abend wird und schon die Schatten über sie fallen. Alles geht ihr leicht von der Hand und wie im Spiel. Sie schreibt ein paar Briefe, einen an die Schwester, einen ans Amt, einen an Fuchsthaler, um Abschied zu nehmen, und wundert sich selbst, wie klar ihre Schrift ist, wie jede Zeile beginnt, genau über der andern, kalligraphisch ist der Abstand gewahrt von Wort zu Wort. So sauber wie in den Schultagen die Hausarbeiten, die sie unbewußt schrieb. Dazwischen kommen Leute, geben Briefe auf, wollen telefonisch verbunden sein, stapeln Pakete, zahlen Geld ein. Und mit besonderer Sorgfalt und Höflichkeit erledigt sie jede Handreichung. Unbewußt ist schon in ihr der Wille, diese fremden, gleichgiltigen Leute, der Thomas, die Huberbäuerin, der Forstadjunkt, der Lehrbub von der Kramerei, die Fleischersfrau, sollen alle eine angenehme Erinnerung an sie haben: es ist die letzte kleine weibliche Eitelkeit. Leicht muß sie lächeln, wenn einer sagt: »Auf Wiedersehen«, und sie antwortet dann doppelt herzlich: »Auf Wiedersehen!«, weil in ihr schon alles andere Luft atmet, die, erlöst zu sein. Dann nimmt sie die unaufgearbeiteten Rückstände, zählt, rechnet, ordnet: nie ist ihr Pult so sauber geordnet, selbst die Tintenflecke putzt sie weg und den Kalender hängt sie gerade – die Nachfolgerin soll sich nicht zu beklagen haben. Niemand soll sich zu beklagen haben, nun da sie froh ist. Wie sie jetzt Ordnung in ihrem Leben macht, soll auch hier alles in Ordnung sein.


So freudig arbeitet sie, so flink und emsig richtet sie alles zurecht, daß sie die Zeit nicht spürt und wirklich überrascht ist, als die Tür geht.


»Ist es wirklich schon sechs Uhr? Mein Gott, ich habe es gar nicht bemerkt. Zehn Minuten noch, zwanzig Minuten und ich bin mit allem fertig, ich möchte gern, du verstehst, alles tadellos zurücklassen. Nur den Abschluß muß ich noch machen und dann die Kasse, dann gehöre ich dir.«


Er will draußen warten. »Aber nein, setze dich nur herein, ich laß draußen die Rolläden hernieder, und wenn sie uns auch zusammen dann fortgehen sehen, jetzt ist es schon gleichgiltig, morgen wissen sie ohnehin schon mehr.«


»Morgen«, lächelt er. »Ich freue mich, daß es kein Morgen mehr gibt. Wenigstens für uns nicht. Wunderbar war dieser Spaziergang, der Himmel, die Farben, der Wald; hm, er war doch ein ganz guter Architekt, der liebe alte Gott, etwas unmodern, aber doch besser als ich je einer geworden wäre.«


Sie führt ihn in den geheiligten Raum hinter der Glasscheibe, den nie sonst ein Fremder betritt. »Ich habe keinen Sessel dir anzubieten, so splendid ist unsere Republik nicht, aber setz dich aufs Fensterbrett und rauche eine Zigarette, in zehn Minuten bin ich fertig« – sie atmet wie befreit –, »mit allem fertig.«


Sie addiert Kolonnen um Kolonnen. Es geht leicht und flink. Dann holt sie zum Vergleich aus der Kasse die schwarze Tasche, ähnlich einem Dudelsack, und vergleicht. Sie stapelt die Noten auf, am Schreibtisch nebeneinander, die Fünfer, Zehner, die Hunderter und die Tausender, feuchtet den Finger am Schwamm und zählt mit eingelernter Hurtigkeit die blauen Blätter mit dem nassen Zeigefinger. Es geht schnell und mechanisch, zehn, zwanzig, dreißig, vierzig, fünfzig, sechzig, dazwischen notiert sie rasch mit dem Bleistift immer die Gesamtzahl der einzelnen Banknotensorte, ungeduldig schon, die Zahl in den Büchern, den Barbestand zu vergleichen und dann den Strich zu ziehen, jenen letzten, befreienden Bleistiftstrich.


Plötzlich hört sie jemand atmen neben sich, stark und gepreßt, sie sieht empor. Ferdinand muß leise aufgestanden und durch das Zimmer gegangen sein. Jetzt steht er und sieht ihr über die Schulter.


»Was ist?« schreckt sie auf.


»Erlaubst du« – seine Stimme ist stark beledert –, »erlaubst du, daß ich da einen Augenblick eine nehme. Ich habe so lange keine Tausendschillingnote gesehen und in meinem Leben noch nicht so viel beisammen.«


Er nimmt eine vorsichtig in die Finger, wie etwas Zerbrechliches, und sie merkt, wie die Hand dabei bebt. Was hat er? Er starrt so merkwürdig das blaue Blatt an, seine schmalen Nasenflügel beben, in den Augen ist ein merkwürdiges Licht.


»So viel Geld … So viel Geld hast du immer hier?«


»Ja, natürlich, heute ist es sogar wenig, 11570 Schilling. Aber so am Ende des Quartals, wenn die Weinbauern ihre Steuern einzahlen oder von der Fabrik der Arbeitslohn angewiesen wird, dann sind’s oft vierzig-, fünfzig-, ja sechzigtausend – einmal waren es sogar achtzigtausend.«


Er sieht starr auf das Pult. Er hat die Hände auf den Rücken gelegt, als habe er Furcht.


»Und das ist dir … das ist dir nicht unbehaglich, so viel Geld da im Pult zu haben? Hast du gar keine Angst?«


»Angst, wovor? Das Lokal ist doch vergittert, schau da, ganz dicke eiserne Stäbe, und nebenan ist doch die Kramerei, oben wohnt der Weidenhofbauer, sie würden es doch hören, wenn da einer einbricht. Und abends ist es immer in der Tasche, nein, da geschieht nichts.«


»Ich hätte Angst gehabt«, antwortet er gepreßt.


»Unsinn, wovor denn?«


»Vor mir selbst.«


Sie blickt auf und trifft einen halbverschlossenen Mund, einen weggewandten Blick. Dann beginnt er im Zimmer auf und ab zu gehen.


»Ich könnte es nicht ertragen, nicht eine Stunde, ich könnte nicht atmen neben so viel Geld. Ich würde immer rechnen, da tausend Schilling, ein Blatt ein viereckiges, ein blödes Blatt Papier, und wenn ich es nehme und in die Tasche stecke, bin ich frei, drei Monate, ein halbes Jahr, ein Jahr frei, kann tun, was ich will, und mein eigenes Leben leben, und mit dem, was da liegt – wieviel hast du gesagt? –, 11570 Schilling, davon könnten wir leben, zwei Jahre, drei Jahre, die Welt sehen und jede Minute wirklich leben, nicht so wie wir gelebt haben, sondern wirklich, so wie man will, den Menschen leben, zu dem man geboren ist, ihn aus sich wachsen lassen und werden, nicht angenagelt sein. Ein Griff, so nur, diese fünf Muskeln spannen und fort und frei – nein, ich hätte es nicht ertragen können, ich wäre wahnsinnig geworden davon, es anzuschauen, es so nahe zu haben, es zu riechen, zu spüren und zu wissen, es gehört diesem sinnlosen Popanz, dem Staat, ihm, der nicht atmet und nicht lebt und nichts will und nichts weiß, dieser stupidesten Erfindung der Menschheit, die den Menschen zermalmt. Wahnsinnig wäre ich geworden … Ich hätte mich eingesperrt in der Nacht, nur damit ich nicht den Schlüssel nehme und die Lade aufsperre, und du konntest damit leben! Hast du noch niemals daran gedacht?«


»Nein«, sagt sie ganz erschrocken. »Daran habe ich niemals gedacht.«


»Da hat eben der Staat Glück gehabt. Schurken haben immer Glück. Aber mach dich fertig jetzt« – er sagt es beinahe zornig–, »mach fertig, tu schon weg das Geld. Ich kann es nicht mehr sehen.«


Sie verschließt rasch die Lade. Jetzt zittern ihr mit einmal die Finger. Dann gehen sie hinaus in der Richtung zur Bahn. Es ist schon dunkel, man sieht in die erleuchteten Fenster hinein, die Leute sitzen beim Abendessen, und wie sie an dem einen letzten vorübergehen, rollt ein leises, rhythmisches Murmeln heraus: das Abendgebet. Er spricht nicht, sie spricht nicht, als wären sie nicht allein. Der Gedanke geht mit ihnen wie ein Schatten. Sie spüren ihn vor sich und hinter sich, in sich und, wie sie jetzt vom Dorfe wegbiegend, die Straße verlassen und unwillkürlich rascher gehen, geht er mit.


Hinter den letzten Häusern stehen sie plötzlich in vollkommener Nacht. Der Himmel ist heller als die Erde, in sein gläsernes helles Licht schneidet sich die Allee in schwarzer Silhouette ein. Wie verbrannte Finger greifen, schwarze Skelette, die entlaubten Äste in die reglose Luft. Auf der Straße kommen und gehen einzelne Bauern und Gefährte, man hört sie mehr, als man sie sieht, das Rollen der schweren Wagen, Schritte im Dunkel – man ist nicht allein.


»Gibt es hier nicht einen Feldweg zum Bahnhof? Irgendeinen Weg, wo man niemanden trifft?«


»Ja«, antwortet Christine, »hier rechts.« Ihr ist wohl, daß er gesprochen hat, so muß sie eine Minute den Gedanken nicht denken, der sie verfolgt, vom Postamt her, unhörbar und zäh, Schritt für Schritt, der gefährliche Schatten.


Er geht eine Zeitlang schweigsam neben ihr, als habe er sie vergessen. Nicht einmal seine Hand berührt ihre Hand. Plötzlich – es fällt wie ein Stein aus seiner Stummheit – fragt er: »Du meinst, daß du dreißigtausend am Ende des Monats beisammen haben könntest?«


Sie versteht sofort, was er meint, aber sie rückt ihre Stimme ganz fest zusammen, um es nicht merken zu lassen: »Ja, ich glaube schon.«


»Und wenn du außerdem noch die Ablieferungen verzögerst … Wenn du die Steuern oder was du da hast, noch ein paar Tage zurückbehältst, ich kenne doch mein Österreich, da kontrolliert man nicht so scharf – wieviel könntest du da zusammenbringen?«


Sie denkt nach. »Vierzigtausend gewiß. Vielleicht sogar fünfzigtausend … Aber warum …?«


Er antwortet beinahe streng: »Du weißt schon warum.«


Sie wagt keinen Widerspruch. Er hat recht, sie weiß warum. Sie gehen still und stumm, in einem nahen Teich quaken die Frösche wie toll, und es tut geradezu weh, plötzlich dieser schnarchende, höhnische Laut. Plötzlich bleibt er stehen.


»Christine, wir haben keinen Grund, uns etwas vorzumachen. Die Sache steht verflucht ernst mit uns beiden, und da muß man verflucht aufrichtig zueinander sein. Überlegen wir zusammen ruhig und klar.«


Er zündet sich eine Zigarette an. Einen Augenblick sieht sie im weißen Licht sein gespanntes Gesicht. »Überlegen wir, ja, wir waren heute entschlossen, Schluß zu machen, wir wollten, wie es im Zeitungsdeutsch so schön heißt, ›aus dem Leben flüchten‹. Das ist gar nicht wahr. Wir wollten gar nicht aus dem Leben flüchten, du nicht und ich nicht. Nur aus unserem verpfuschten Leben wollten wir endlich heraus, und da war kein anderer Ausweg. Nicht aus dem Leben wollten wir flüchten, sondern aus unserer Armut, aus dieser stupiden, widerlichen, unerträglichen und unentrinnbaren Armut. Nur das. Und da glaubten wir, der Revolver sei der letzte, der einzige Weg. Das war aber falsch gesehen. Jetzt wissen wir’s beide, es gibt allenfalls noch einen andern Weg, einen vorletzten. Jetzt ist nur die Frage, ob wir den Mut haben, ihn zu gehen, und wie?«


Sie schweigt und er zieht an der Zigarette.


»Ganz ruhig und ganz sachlich muß das erwogen und überlegt sein, wie eine Rechenaufgabe… Ich mache dir natürlich nichts vor. Ich sage dir offen, daß wahrscheinlich mehr Mut dazugehört als zum andern. Die andere Sache war leicht. Ein Fingerzug, ein Muskel, den man spannt, ein Blitz, und es ist vorbei. Der andere Weg ist schwerer, weil er länger ist. Da spannt man sich nicht eine Sekunde lang, da dauert es Wochen, Monate, und unablässig muß man sich decken und verstecken. Das Unbestimmte ist immer schwerer, als das Bestimmte durchzuhalten, kurze scharfe Angst leichter als die lange unfaßbare. Da muß man zuvor überlegen, ob man dazu Kraft genug hat, ob man diese Spannungen durchhalten kann und ob es dafürsteht. Ob man glatt und schnell Schluß machen soll mit dem Leben oder noch einmal anfangen. Das ist mein Bedenken.«


Er geht wieder weiter, sie folgt ihm automatisch. Ihre Knie gehen für sie, ihr ganzes Denken harrt wie hilflos auf sein Wort, auf das, was er sagen will Aus sich selbst heraus hat sie keine Kraft, zu denken, in ihr ist alles so tödlich erschrocken und willenlos.


Er bleibt wieder stehen. »Mißversteh mich nicht. Ich habe keine Spur sittlicher Bedenken, ich fühle mich vollkommen frei gegen den Staat. Er hat an uns allen, an unserer Generation, so ungeheure Verbrechen begangen, daß wir zu allem recht haben. Wir können ihn schädigen, soviel wir wollen, wir, unser ganzes geschlagenes Geschlecht, es wird immer nur Schadenersatz bleiben, was wir tun. Wenn ich stehle, wer hat’s mich gelehrt, wer hat mich dazu angehalten, als er im Krieg: requirieren hat man’s damals genannt, oder expropriieren oder regressieren, wie es im Friedensvertrag steht. Wenn wir betrügen, wem haben wir es zu danken, diese Kunst, als ihm, der uns erzogen hat, wie man durch drei Generationen erspartes Geld in vierzehn Tagen zu Dreck macht, wie man Wiesen, Häuser, Felder, seit hundert Jahren in einem Geschlecht, einem wegschwindelt? Und selbst wenn ich jemand morde, wer hat mich dazu gedrillt und abgerichtet? Sechs Monate im Kasernenhof und dann Jahre an der Front! Beim lieben Gott steht unser Prozeß gegen den Staat ausgezeichnet, wir werden ihn in allen Instanzen gewinnen, nie kann er die ungeheure Schuld tilgen, nie das zurückgeben, was er uns genommen hat. Gewissen gegen den Staat zu haben, das war giltig in früheren Zeiten, wo der Staat ein gütiger Vormund war, sparsam, anständig, korrekt. Jetzt, wo er wie ein Lump an uns gehandelt hat, haben wir jeder das Recht, Lumpen zu sein. Nicht wahr, du verstehst mich? – Ich habe nicht den Schatten einer Hemmung und glaube, du brauchst auch keine zu haben, wenn wir für unsere Person Revanche nehmen, wenn ich mir nun meine Invalidenrente, die mir nach Fug und Recht zugehört und die mir das hochlöbliche Ärar verweigert, nun selber nehme und dazu das, was man deinem Vater und meinem Vater an Geld, was man uns und meinesgleichen an lebendigem Lebensrecht gestohlen hat. Nein, ich schwöre dir’s, mein Gewissen ist dabei so gleichgiltig wie ihm unser Leben oder Sterben und Krepieren, und kein einziger Armer dieses Staates wird vermehrt, ob wir da hundert blaue Zettel stehlen oder tausend oder zehntausend, er spürt es so wenig wie die Wiese, der die Kuh ein paar Halme wegfrißt. Das beunruhigt mich also gar nicht, und ich glaube, wenn ich ihm zehn Millionen gestohlen hätte, würde ich so gut schlafen wie ein Bankdirektor oder ein General mit dreißig verlorenen Schlachten. Ich denke nur an uns, an dich und mich. Wir dürfen nichts unüberlegt tun, wie ein fünfzehnjähriger Kommis, der zehn Schilling aus der Portokasse stiehlt und sie nach einer Stunde verpulvert und nicht weiß, wozu und warum er es getan hat. Zu solchen Experimenten sind wir zu alt. Wir haben nur zwei Karten mehr in der Hand, die eine oder die andere. Eine solche Entscheidung will überlegt sein.«


Er geht wieder weiter, um sich Luft zu machen. Sie spürt, wie konzentriert sein ganzes Denken arbeitet, und gleichzeitig ergreift sie ein Schauer, wie ruhig und logisch er redet. Nie hat sie seine Überlegenheit so stark, ihre eigene Hingegebenheit so mächtig gefühlt.


»Also ganz langsam, Christine, Schritt für Schritt. Keine Sprünge bei einem solchen Entschluß. Nur keine falschen Hoffnungen und Phantastereien. Überlegen wir. Wenn wir heute Schluß machen, sind wir alles los. Ein Ruck und das Leben ist hinter uns – eigentlich ein wunderbarer Gedanke, immer erinnere ich mich an unseren Lehrer im Gymnasium, wie er dozierte, es sei die einzige Überlegenheit des Menschen über das Tier, daß er auch sterben kann, wann er will, nicht nur wenn er muß. Es ist vielleicht das einzige Stück Freiheit, das man sein ganzes Leben lang ununterbrochen besitzt, die Freiheit, das Leben wegzuwerfen. Aber wir beide, wir sind eigentlich noch jung, wir wissen noch gar nicht, was wir wegwerfen. Wir werfen eigentlich nur ein Leben weg, das wir nicht gewollt haben, das wir verneinen, und vielleicht ist doch noch eines denkbar, zu dem wir Ja sagen könnten. Mit Geld ist das Leben anders, ich glaube es wenigstens, und du glaubst es auch. Sobald wir aber noch irgend etwas glauben – nicht wahr, du verstehst mich? –, so ist dieses Nein zum Leben eigentlich nicht ganz wahr, und wir zerstören etwas, wozu wir gar kein Recht haben, nämlich das noch nicht gelebte Leben in uns, eine neue und vielleicht großartige Möglichkeit. Vielleicht könnte wirklich mit der Handvoll Geld noch etwas aus mir werden, etwas, das in mir da ist und noch nicht da ist und doch da ist, etwas das so nur nicht heraus kann, das zugrunde geht wie der Halm, den ich da abreiße, aber eben weil ich ihn abreiße. Etwas, das in mir noch gewachsen wäre, und du? – Du könntest vielleicht noch Kinder haben, du könntest… Man weiß es ja nicht … Und eben daß man es nicht weiß, ist das Wunderbare … Nicht wahr, du verstehst mich, ich meine … eine Art Leben, wie das hinter uns liegt, das war nicht wert, daß man es fortsetzte, eine solche klägliche Fretterei von Woche zu Woche, von Urlaub zu Urlaub. Aber vielleicht, vielleicht könnte man noch irgend etwas daraus machen, nur Mut gehört dazu, mehr Mut als zum andern. Und schließlich, wenn es schiefgeht, einen Revolver bekommt man noch immer zu kaufen. Meinst du also nicht, man sollte … man sollte, wenn einem das Geld so geradezu in die Hand gesteckt wird, es einfach nehmen?«


»Ja, aber … Aber wohin sollte man mit dem Geld?«


»Ins Ausland. Ich kann Sprachen, ich kann französisch, sehr gut sogar, ich kann russisch, ausgezeichnet, auch englisch ein bißchen, und das andere lernt man.«


»Ja, aber … Sie werden einem doch nachforschen, glaubst du nicht, daß sie einen finden würden?«


»Das weiß ich nicht, das kann niemand wissen. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, vielleicht auch nicht. Ich glaube, es liegt mehr an einem selbst, ob man durchhalten kann, ob man klug genug ist, vorsichtig genug und wachsam, ob man sich’s richtig überdacht hat. Aber natürlich, es erfordert ungeheure Spannung. Ein gutes Leben wird’s wahrscheinlich nicht sein, vielleicht ein Gejagtsein, eine ewige Flucht. Da kann ich dir keine Antwort geben, du mußt selbst wissen, ob du den Mut hast.«


Christine denkt nach. Es ist so schwer, all das plötzlich zu überdenken. Dann sagt sie: »Allein habe ich zu gar nichts Mut. Ich bin eine Frau – für mich allein kann ich gar nichts, nur für jemand andern, mit jemand anderm kann ich etwas tun. Für zwei, für dich, da kann ich alles. Wenn du also willst …«


Er geht rascher.


»Das ist es ja, ich weiß nicht, ob ich will. Du sagst, es sei dir zu zweit leicht. Mir wäre es wieder leichter, es allein zu tun. Da wüßte ich, was setze ich ein, ein verpfuschtes, ein verstümmeltes Leben – gut, weg damit. Aber ich habe Angst, dich mitzureißen, du hast den Gedanken ja gar nicht gedacht, er ist von mir. Ich will dich in nichts hineinreißen, ich will dich zu nichts verleiten, und wenn du etwas tun willst, mußt du es aus dir tun und nicht aus mir.«


Hinter den Bäumen kommen kleine Lichter hervor. Der Feldweg ist zu Ende, sie müssen gleich am Bahnhof sein.


Christine geht noch immer wie betäubt. »Aber … wie willst du das machen«, sagt sie ganz ängstlich. »Ich begreife es nicht. Wohin sollen wir denn damit? Ich lese doch immer in der Zeitung, daß sie alle diese Menschen abfassen. Wie denkst du dir denn das?«


»Ich habe noch gar nicht angefangen, darüber nachzudenken. Du überschätzt mich. Die Idee, die hat man in einer Sekunde, und nur die Dummköpfe führen sie ebenso hastig aus. Darum werden sie auch immer gefaßt. Es gibt zweierlei Verbrechen – was man so im üblichen Sinne als Verbrechen nennt – diejenigen aus Leidenschaft und die überlegten und durchdachten. Die aus Leidenschaft sind vielleicht die schöneren, aber sie mißlingen meist. So machen es die kleinen Kommis, sie greifen in die Portokasse und fahren auf den Rennplatz und glauben, sie gewinnen oder der Chef wird’s nicht merken, alle glauben sie an ein Wunder. Aber ich glaube an kein Wunder, ich weiß, daß wir zwei da ganz allein sind, ganz allein einer ungeheuren Organisation gegenüberstehen, die seit Jahrhunderten aufgebaut ist und die Intelligenz, die Erfahrung von Tausenden einzelnen Spürhunden in sich birgt, ich weiß, der einzelne Detektiv ist ein Dummkopf und ich bin hundertmal klüger und gerissener als er, aber sie haben die Erfahrung, das System. Wenn wir – du siehst, ich sage noch ›wenn‹ – uns wirklich entschließen, diesen Coup zu wagen, so denke ich nicht an eine leichtsinnige Kinderei. Was man rasch macht, macht man falsch. So ein Plan muß durchdacht sein bis ins kleinste, jede Möglichkeit errechnet. Es ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Laß uns alles durchdenken, konzentriert und genau, und komme dann Sonntag nach Wien, dann wollen wir uns entscheiden, nicht heute.«


Er bleibt stehen. Mit einmal wird seine Stimme wieder hell. Es ist die andere, die verschüttete Kinderstimme in ihm, die sie so liebt.


»Ist es nicht sonderbar, heute nachmittag, als du in dein Amt gingst, bin ich noch spazierengegangen. Ich habe mir noch einmal die Welt angesehen und dachte, es sei das letztemal. Sie war da, schön und hell, voll des warmen sonnigen Lebens, und ich war da, ziemlich jung und frisch noch und lebendig. Da habe ich es alles zusammengerechnet und mich gefragt, was habe ich eigentlich in dieser Welt getan, und die Antwort war bitter. Es ist traurig, daß ich eigentlich für mich gar nichts getan und gedacht habe. In der Schule habe ich gedacht und gelernt, was die Lehrer wollten. Im Krieg habe ich die Griffe und Schritte gemacht, die man mir kommandierte, in der Gefangenschaft hat man nur wild geträumt: einmal heraus! und ist müde geworden vor lauter Untätigkeit, und dann nachher habe ich immer nur für andere geschuftet, sinnlos, zwecklos, nur für das bißchen Futter und daß man die Luft bezahlen kann, die man in die Nase zieht. Jetzt werde ich zum erstenmal drei Tage, bis Sonntag, an etwas denken, was mich allein angeht, mich und dich; eigentlich freue ich mich darauf. Weißt du, ich möchte, daß wir es so konstruieren, wie man eine Brücke baut, wo jeder Nagel und jede Schraube an ihrem Platz sein muß, und ein Millimeter, falsch gestellt, die ganzen Gesetze der Statik zuschanden macht. Ich möchte diese Sache so bauen, daß sie hält für Jahre. Ich weiß, es ist eine große Verantwortung, aber zum erstenmal Verantwortung für mich und für dich, nicht diese kleine dreckige Verantwortung wie beim Militär oder in diesen Betrieben, wo man doch nur eine Null ist, angehängt einem Nenner, den man selber nicht kennt. Ob wir es tun oder nicht, das wird sich entscheiden, aber schon eine Idee ausdenken, durchdenken, bis in die letzte Weiterung durchrechnen und kombinieren, das ist eine Freude, auf die ich gar nicht mehr gerechnet habe. Es war doch gut, daß ich heute zu dir gekommen bin.«


Der Bahnhof ist ganz nahe, man unterscheidet schon die einzelnen Lichter. Sie bleiben stehen.


»Es ist besser, du begleitest mich nicht. Vor einer halben Stunde war es noch gleichgiltig, ob man uns zusammen sah. Jetzt darf dich niemand mit mir sehen, das gehört schon« – er lacht – »zu unserem großen Plan. Niemand darf vermuten, daß du einen Helfer hast und eine Beschreibung meiner Person wäre nicht förderlich. Ja, Christine, jetzt müssen wir anfangen, an alles zu denken, das wird nicht leicht sein, ich habe es dir gleich gesagt, das andere wäre leichter gewesen. Aber anderseits habe ich, haben wir noch nie das gekannt, was man wirklich Sein nennt. Ich habe nie das Meer gesehen, bin nie im Ausland gewesen. Ich habe nie gekannt, was das Leben ist, wenn man nicht unablässig denken muß bei jedem Ding, was es kostet, wir sind nie frei gewesen. Vielleicht weiß man erst dann, was diese Sache wert ist, die man Leben nennt. Warte es ruhig ab, quäl dich nicht, ich will alles ausarbeiten bis ins kleinste, schriftlich sogar, und dann gehen wir es zusammen durch, Punkt für Punkt, dann wägen wir’s ab, Möglichkeit gegen Unmöglichkeit. Und dann wollen wir uns entscheiden. Willst du?«


»Ja«, sagt sie stark und fest.


Die Tage bis zum Sonntag sind unerträglich für Christine. Sie hat zum erstenmal Furcht vor sich selbst, Furcht vor den Menschen, Furcht vor den Dingen. Die kleine Kasse morgens aufzusperren, Banknoten anzufassen, wird ihr zur Qual. Gehören sie ihr, gehören sie dem Staat? Sind sie noch alle da? Und immer und immer wieder zählt sie die blauen Blätter und kommt nie zu einem Ende. Entweder zittert ihr die Hand oder sie verliert beim Addieren die Zahl. Alle Sicherheit ist von ihr gefallen und mit ihr alle Unbefangenheit. Ein unsicheres Gefühl im Unterbewußtsein macht sie wirr: Sie bildet sich ein, alle Menschen müssen ihre Absicht merken, alle ihre Bedenken mitdenken, alle sie beobachten und belauern. Vergeblich sagt sie sich mit klarer Vernunft: es ist doch Irrsinn. Ich habe doch nichts getan. Wir haben doch nichts getan. Alles ist in Ordnung, jede Note liegt noch im Schrank, die Rechnung stimmt Ziffer für Ziffer, ich kann jeder Kontrolle standhalten. Aber doch, sie erträgt keinen Blick, und wenn das Telefon anklingelt, zuckt sie zusammen und ihre Gelenke benötigen die ganze Kraft, um den Hörer bis ans Ohr zu heben. Und als Freitag morgen schweren Schritts, mit klirrendem Bajonett der Gendarm plötzlich eintritt, wird es ihr blau vor den Augen, mit beiden Händen klammert sie sich an den Tisch, als wolle sie sich nicht wegreißen lassen, aber der Gendarm, die Virginia quer im Munde, will nur eine Postanweisung aufgeben an ein Mädel, von dem er ein uneheliches Kind hat, die Monatsalimentation, und er spaßt gutmütig bitter über diese langfristige Schuld für ein so kurzes Vergnügen. Aber sie kann nicht lachen, die Schrift ist zittrig auf der Anweisung, mit der sie die Zahlung bestätigt. Sie kann erst wieder atmen, als die Tür hinter ihm zukracht und sie mit einem Ruck aus der Lade sich überzeugt hat, daß das Geld noch da ist, 32712 Schilling und 40 Groschen, genau wie auf dem Rechnungsblatt. In der Nacht kann sie nicht schlafen, und wenn sie schläft, sind die Träume fürchterlich, denn der Gedanke ist immer grauenhafter als die Tat, das Ungeschehene erregender als das Geschehene.


Am Sonntagmorgen erwartet sie Ferdinand an der Bahn. Er sieht sie prüfend an. »Du Arme! Wie du schlecht aussiehst, ganz verquält. Du hast Angst gehabt, nicht wahr, ich habe es gleich gefürchtet. Es war vielleicht ein Fehler, daß ich es dir vorher sagte. Aber es ist bald vorbei, heute können wir alles entscheiden, ob ja oder nein!«


Sie blickt ihn an von der Seite. Er hat helle Augen, merkwürdig frische Bewegungen, ihre ganze Schwere scheint sonderbar entspannt. Er merkt den Blick.


»Ja, es geht mir gut. Seit Wochen und Monaten habe ich mich nicht so wohl gefühlt als in den drei Tagen, jetzt weiß ich eigentlich erst, wie herrlich es ist, einmal etwas für sich allein durchdenken zu können, nur für sich und ganz allein … Nicht nur immer ein kleines Stück an einem Ganzen zu tun, an etwas, das einen gar nichts angeht, sondern von Grund auf bis zum First etwas aufzubauen, nur für sich. Ein Luftschloß meinetwegen, und vielleicht bricht es schon in einer Stunde. Vielleicht bläst du es um mit einem Wort, vielleicht hauen wir es selber zusammen. Aber immerhin, es war einmal Arbeit für mich und hat mir Spaß gemacht. Es war verflucht lustig, es einmal durchzudenken bis in die letzte Möglichkeit hinein, so einen Feldzugsplan auszuarbeiten gegen alle die Armeen, Staat, Polizei, Zeitung, gegen alle die Mächte der Erde, einmal seine Gedanken manövrieren zu lassen, und jetzt habe ich eigentlich Lust auf den wirklichen Krieg. Höchstens wird man besiegt, und das sind wir reichlich schon lange. Nun, du wirst gleich alles sehen!«


Sie verlassen den Bahnhof. Nebel umhüllt die Häuser mit grauem Frost, mit erloschenen Mienen stehen die Träger und Dienstmänner und warten. Alles atmet Nässe, und vor den Lippen verwandelt die feuchte Kälte jedes Wort in einen leichten Rauch. Die Welt ist ohne Wärme. Er faßt ihren Arm, um sie zwischen den Automobilen durch über die Straße zu geleiten, und spürt, wie sie unter der Berührung nervös zusammenschreckt.


»Was hast du, was ist dir?«


»Nichts«, sagt sie. »Ich bin nur so verschreckt alle diese Tage. Bei jedem, der mich anruft, glaube ich, er beobachtet mich. Von jedem glaube ich, daß er an das denkt, woran ich selber denke. Ich weiß ja, es ist eine dumme Angst, aber mir ist, als könnte mir’s jeder von der Stirn absehen, als müßten die Leute im Dorf schon alles wissen und wittern. Wie mich der Forstadjunkt in der Bahn gefragt hat ›Was machen’s denn in Wien?‹, bin ich so rot geworden, daß er angefangen hat zu lachen, und dann war ich froh. Besser er denkt das als das andere. Aber sag mir, Ferdinand« – und sie preßt sich plötzlich an ihn –, »das wird doch nicht immer so sein, wenn wir… wenn wir das wirklich tun? Denn dazu, das spüre ich jetzt, hätte ich nicht die Kraft. Das könnte ich nicht durchhalten, so immer in Angst zu leben, sich vor jedem Menschen zu fürchten und nicht schlafen zu können, nicht schlafen aus Furcht, es klopft an die Tür. Nicht wahr, das wird nicht immer so sein?«


»Nein«, antwortet er, »ich glaube nicht. Das ist nur hier, wo du als die lebst, die du gewesen bist. Bist du einmal draußen in andern Kleidern mit einem andern Namen, in einer andern Welt, so vergißt du die von hier in dir. – Du hast es mir ja selbst erzählt, wie du schon einmal völlig eine andere warst. Gefährlich wäre nur eines, wenn du das, was wir tun wollen, mit schlechtem Gewissen tust. Wenn du das Gefühl hast, ein Unrecht zu begehen, wenn wir diesen Hauptstehler, den Staat, bestehlen, dann steht es freilich schlecht, dann lasse ich die Hände davon. Was mich betrifft, ich fühle mich vollkommen im Recht. Ich weiß, mir ist Unrecht getan worden, hier wage ich meine Haut in eigener Sache und nicht im Krieg für eine verstorbene Idee, für den habsburgischen Hausgedanken oder für ein Mitropa oder sonst eine politische Konstruktion, die mich nichts angeht. Aber wie gesagt, es ist noch nichts entschieden, wir spielen doch erst mit dem Gedanken, wie man so sagt, und beim Spielen soll man froh sein. Kopf hoch, ich weiß doch, daß du tapfer sein kannst.«


Sie atmet tief. »Ich glaube, daß ich einiges durchhalten kann, du hast recht, und dann, ich weiß, wir haben nichts zu verlieren. Ich habe schon manches durchgehalten, aber nur das ist so schwer, das Unsichersein. Wenn es einmal getan ist, kannst du dich wieder auf mich verlassen.«


Sie gehen weiter. »Wohin gehen wir?« fragt sie.


Er lächelt. »Sonderbar, die ganze Sache hat mir gar keine Mühe gemacht, es war geradezu ein Spaß für mich, alle die Möglichkeiten durchzudenken, wie wir uns flüchten und verstecken und sicherstellen, und ich glaube wirklich, ich habe jede Einzelheit ausgeknobelt, ich kann ruhig sagen: es stimmt, es klappt. Ich habe alles berechnet, alles war so kinderleicht einzuteilen, wie wir leben und uns verteidigen, wenn wir einmal Geld haben, nur eines konnte ich nicht – den Ort, die vier Wände, das Zimmer bestimmen, wo wir jetzt ruhig die ganze Sache durchsprechen können. Ich habe wieder gesehen, daß es leichter ist, mit Geld zehn Jahre zu leben als ohne Geld einen einzigen Tag, wirklich Christine« – er lächelt sie beinahe stolz an –, »es war schwerer, diese vier Wände für uns ausfindig zu machen, wo uns niemand hört und sieht, als unser ganzes Abenteuer. Ich habe mir alle Möglichkeiten durchdacht. Aufs Land hinauszufahren, ist es zu kalt, in einem Hotel kann uns jemand hören von nebenan, und dann, ich weiß, du wirst doch unruhig und verstört, und wir brauchen Klarheit. In einem Gasthaus, gerade wenn’s leer ist, beobachten einen die Kellner, im Freien fällt man auf, wenn man bei dieser Kälte irgendwo sitzt, ja, Christine man sollte nicht glauben, wie schwer es ist, wenn man kein Geld hat, in einer Millionenstadt wirklich allein zu sein. Ich habe die tollsten Möglichkeiten ausgedacht – ja wirklich, ich habe sogar daran gedacht, ob wir nicht auf den Stephansturm steigen sollten. Dort geht bei solchem Nebelwetter kein Mensch hinauf, aber ich finde es zu absurd. Schließlich habe ich mich herangemacht an den Bauwächter, der an unserem verkrachten Bau Dienst hat. Es ist eine Holzhütte mit einem eisernen Ofen, einem Tisch und, ich glaube, nur einem Sessel, eine Baracke. Ich kenne den Mann gut, ich habe ihm ein Langes und Breites vorgeschwafelt von einer polnischen vornehmen Dame, die ich vom Krieg her kenne und die mit ihrem Mann im Sacher wohnt und zu nobel ist und zu bekannt, als daß sie sich mit mir auf der Straße zeigen kann. Du kannst dir denken, wie der dumme Kerl gestaunt hat, und selbstverständlich machte er sich eine große Ehre daraus, mir zu dienen. Wir kennen uns lange, und ich habe ihm zweimal aus der Patsche geholfen. Der legt mir den Schlüssel an einer bestimmten Stelle unter den Balken und hinterläßt mir seine Legitimation, damit wir selbst im äußersten Fall gesichert sind, und den Ofen, hat er mir versprochen, in der Früh noch anzuzünden. Dort sind wir allein, es wird nicht bequem sein, aber es geht ja um ein besseres Leben, und so werden wir auf zwei Stunden zusammen in diese Hundehütte kriechen. Dort hört uns niemand, dort sieht uns niemand. Dort können wir uns in Ruhe entscheiden.« Der Bauplatz, weit draußen in Floridsdorf, liegt eingeplankt und leer, mit hundert blinden, fensterlosen Augen steht der Rohbau in sinnloser Verlassenheit. Teerfässer, Karren, Zementhaufen und gehäufte Ziegel lagern in wilder Unordnung auf dem durchweichten Grund, es ist, als hätte irgendein katastrophales Naturereignis das schaffende Getümmel unterbrochen, und die Stille ist unnatürlich für einen Werkplatz. Der Schlüssel liegt unter der Planke, der nasse Nebel deckt vor jeder Sicht. Er schließt die kleine Holzhütte auf, und tatsächlich, der Ofen brennt, es ist weich und warm und riecht nach gutem Holz. Ferdinand schließt die Tür hinter sich zu und wirft noch ein paar Stücke Holz in den Ofen. »Wenn jemand kommen sollte, so werfe ich rasch die ganzen Papiere in den Ofen, es kann nichts geschehen, habe keine Angst, und überdies, niemand kann kommen, niemand kann uns hören, wir sind allein.«


Christine steht fremd in dem Raum, alles scheint ihr phantastisch, nur das einzige ist wirklich, dieser Mann hier. Ferdinand zieht einige Lagen Foliobögen aus der Tasche, entfaltet sie und sagt:


»Bitte setz dich, Christine, und höre jetzt gut zu. Das ist der Plan der ganzen Sache, ich habe ihn genau ausgearbeitet, dreimal, viermal, fünfmal geschrieben, ich glaube, jetzt ist er völlig klar. Ich bitte dich, ihn genauest durchzulesen, Punkt für Punkt, wo dir etwas nicht richtig scheint, schreibe immer rechts mit Bleistift deine Fragen oder Bedenken hin, und dann sprechen wir sie alle zusammen durch. Es geht um viel, es darf nichts improvisiert sein. Aber zuerst noch etwas anderes, was in diesem Entwurf nicht geschrieben steht. Das können wir nur zusammen besprechen. Das geht nur uns an. Also – wir tun diese Sache zusammen, du und ich. Wir werden damit gleich schuldig, obwohl nach dem Gesetz, wie ich fürchte, du als die eigentliche Täterin giltst. Du bist als Beamtin verantwortlich, nach dir wird gefahndet, du wirst verfolgt, du giltst als die Verbrecherin vor deiner Familie, vor den Menschen, während, solange man uns nicht beide faßt, niemand von mir als Mittäter und Anstifter weiß. Dein Einsatz ist also größer als der meine. Du hast eine Stellung, die dir Lebensunterhalt und Pension bis an dein Ende sichert, ich habe nichts. Ich riskiere also viel weniger im Sinne des Gesetzes und vor – wie soll ich es ausdrücken, sagen wir vor Gott. Unsere Partie ist also ungleich. Du trägst die höhere Gefahr, meine Pflicht ist, dir das zu sagen und dich zu warnen.« Er merkt, wie sie den Blick senkt.


»Das mußte ich dir ganz hart sagen, und ich werde auch weiterhin dir keine Gefahr verschweigen. Vor allem: was du tust, was wir tun, es ist unwiderruflich. Es gibt da kein Zurück mehr. Selbst wenn wir mit diesem Geld uns Millionen erarbeiten und den Schaden fünfmal ersetzen, kannst du niemals mehr hierher zurück und niemand dich pardonieren. Wir sind damit endgiltig ausgestoßen aus der Reihe der gesicherten Menschen, der braven verläßlichen Staatsbürger, wir sind ein Leben lang in Gefahr. Das mußt du wissen. Und wenn wir uns noch so sehr sichern, immer kann ein Zufall, ein wirklich unerrechenbarer und unberechenbarer Zufall uns aus der herrlichen Sorglosigkeit herausholen und ins Gefängnis werfen und in das, was die Leute Schande nennen. Sicherung gibt es bei einem solchen Wagnis keine, wir sind nicht sicher, wenn wir drüben sind, über der Grenze, heute nicht und morgen nicht und nie. Das mußt du sehen, so wie man bei einem Duell auf die Pistole seines Gegners sieht. Der Schuß kann vorbeigehen, er kann treffen, aber man steht vor der Pistole.«


Er macht wieder eine Pause und bemüht sich, ihren Blick zu sehen. Er sieht zur Erde, und man merkt, die Hand, die auf dem Tisch liegt, zittert nicht.


»Nochmals also, ich will dir gar keine falschen Hoffnungen machen. Ich kann dir gar keine Sicherung geben, gar keine, auch nicht für mich. Wenn wir dieses Wagnis gemeinsam unternehmen, soll das nicht sagen, daß wir lebenslänglich aneinander gebunden sind. Wir tun diese Sache, um frei zu werden, frei zu leben – vielleicht wollen wir auch eines Tages frei voneinander sein. Vielleicht schon gar bald. Ich kann nicht einstehen für mich, ich weiß nicht, wie ich bin, ich weiß noch weniger, wie ich sein werde, wenn ich einmal Freiheit geatmet habe. Vielleicht ist die Unruhe, die heute in mir steckt, nur davon, daß etwas in mir steckt, das heraus will, vielleicht bleibt sie aber auch, vielleicht wächst sie sogar. Wir kennen uns noch nicht sehr, wir sind nur immer ein paar Stunden beisammen gewesen, es wäre Wahnwitz zu sagen, wir können und wollen ewig miteinander leben. Was ich dir versprechen kann, ist einzig, daß ich ein guter Kamerad sein werde in dem Sinn, daß ich dich nie verrate und nie versuchen werde, dich zu etwas zu zwingen, was du nicht selber willst. Wenn du wirst von mir gehen wollen, werde ich dich nicht halten. Aber ich kann dir nicht versprechen, bei dir zu bleiben. Ich kann gar nichts versprechen. Weder daß die Sache gelingt, noch daß du nachher glücklich oder sorglos sein wirst, nicht einmal, daß wir zusammenbleiben – nichts kann ich dir versprechen. Ich rede dir also nicht zu, im Gegenteil, ich warne dich: denn deine Situation ist ungünstiger, du giltst als die Täterin, überdies bist du eine Frau und dadurch abhängiger. Du wagst viel, furchtbar viel, ich möchte dich nicht verleiten. Ich rede dir nicht zu. Bitte, lies den Plan, überlege dir’s dann und entscheide dich, aber wie gesagt: du mußt wissen, daß diese Entscheidung dann eine unwiderrufliche ist.«


Er legt ihr das Blatt hin. »Bitte, lies es mit dem äußersten Mißtrauen, mit der äußersten Wachsamkeit, so als ob dir jemand ein schlechtes Geschäft anbieten würde und einen gefährlichen Kontrakt vorlegte. Ich selbst gehe inzwischen draußen auf und ab und schaue mir noch einmal den Bau an. Ich will nicht dabei sein. Du sollst nicht das Gefühl haben, ich bedrücke dich durch meine Gegenwart.«


Er steht auf und geht hinaus, ohne sie anzusehen. Vor Christine liegen, sauber geschrieben, die ineinandergefalteten Folioblätter. Ein paar Minuten muß sie warten, so heftig schlägt ihr das Herz, dann beginnt sie zu lesen.

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.