VII.


Vier Wochen erträgt Christine diesen grausamen, krankhaft überreizten Zustand dieser gewaltsamen und bösartigen Einsamkeit. Dann kann sie nicht mehr, der Traumstoff ist aufgezehrt, jede Sekunde der erlebten Zeit wieder erinnert, das Vergangene gibt keine Kraft. Müde, ausgeschöpft, mit einem ständigen Schmerz zwischen den Schläfen geht sie an die Arbeit und tut sie dösend und halbbewußt. Am Abend versagt sich ihr der Schlaf, unruhig sind ihre Nerven in dieser Ruhe des viereckigen Mansardensarges, so heiß der eigene Körper in dem kalten Bett. Sie kann es nicht mehr ertragen. Unerträglich wird das Verlangen, einmal von einem andern Fenster ein anderes Bild zu sehen als das widrige Wirtshausschild vom ›Goldenen Ochsen‹, in einem andern Bett zu schlafen, etwas anderes zu erleben, ein paar Stunden eine andere zu sein. Plötzlich kommt es über sie: sie holt aus der Schublade die zwei Hundertfrankenscheine, die ihr vom Spielgewinst des Onkels noch geblieben, sie nimmt ihr bestes Kleid, ihre besten Schuhe und läuft Samstag gleich nach dem Dienst hin auf den Bahnhof und nimmt eine Karte nach Wien.


Sie weiß nicht, warum sie in die Stadt fährt, sie weiß nicht deutlich, was sie will. Nur fort sein, fort aus dem Dorf, aus dem Dienst, fort aus sich selbst, aus dem Menschen, der sie verurteilt ist, hier zu sein. Nur Räder wieder einmal unter sich rollen fühlen, nur einmal Lichter sehen, andere, hellere, geschmücktere Menschen. Nur wieder einmal fremd dem Zufall gegenüber sein, nicht hier eingestampft wie ein einzelner Stein im Pflaster. Nur einmal wieder sich bewegen, Welt spüren und sich selbst, eine andere, nicht dieselbe sein.


Es ist sieben Uhr abends, wie sie in Wien ankommt, rasch hinterlegt sie den Koffer in einem kleinen Hotel in der Mariahilfer Straße und dringt rasch, ehe er die Rollläden herabläßt, bei einem Friseur ein. Es ist ein Wiederholungszwang, der sie treibt, das gleiche zu tun wie damals, um eine andere zu sein, eine wahnwitzig wilde Hoffnung, durch ein paar flinke Hände, etwas Rot noch einmal die andere zu werden, die sie war. Wieder fühlt sie warme Wellen sich überrieseln und flinke Hände ihr Haar umschmeicheln, ein geschickter Stift zeichnet ihr neu die frühere, die so begehrte und geküßte Lippe in das blasse ermüdete Gesicht, etwas Farbe frischt ihr die Wangen, ein dunkler Puder zaubert Erinnerung an das Sonnenbraun des Engadins. Wie sie aufsteht, in eine Wolke von Duft gehüllt, spürt sie schon wieder in den Knien die alte Kraft. Aufrechter, selbstbewußter geht sie jetzt die Straße hinab. Und wäre sie ihres Kleides sicher, so meinte sie, vielleicht schon Fräulein von Boolen zu sein. Der Septemberabend gibt noch ein spätes Licht, es ist gut zu gehen, jetzt in der Abendkühle und mit einer gewissen Erregung spürt sie, daß ab und zu ein freundlicher Blick sie streift. Ich lebe noch, atmet sie, ich bin noch da. Manchmal bleibt sie vor einer Auslage stehen, sieht die Pelze an, die Kleider, die Schuhe, und ihre Blicke brennen im Spiegelglas. Vielleicht doch noch einmal, denkt sie: sie hat wieder Mut. Sie geht die Mariahilfer Straße entlang über den Ring, ihr Auge wird immer heller an den Menschen, die plaudernd und sorglos und manche mit wirklicher Anmut hier spazierengehen. Es sind die gleichen, denkt sie, und nur durch einen schmalen Luftraum ist man von ihnen getrennt. Irgendwo ist eine unsichtbare Treppe, die muß man empor, nur einen Schritt, nur einen einzigen Schritt. Bei der Oper bleibt sie stehen, anscheinend muß gleich die Vorstellung beginnen, denn Autos fahren vor, blaue, grüne, schwarze, mit spiegelnden Gläsern und leuchtendem Lack, von einem livrierten Diener am Eingang empfangen. Christine tritt ein in den Vorraum, um die Gäste zu sehen. Sonderbar, denkt sie, da schreiben sie in den Zeitungen von der Wiener Kultur, der kunstsinnigen Bevölkerung und der Oper, die sie geschaffen, und ich, achtundzwanzig Jahre bin ich alt, mein ganzes Leben habe ich hier verbracht, und jetzt stehe ich zum erstenmal hier und auch hier nur außen, auch hier nur im Vorraum. Von den zwei Millionen sehen nur hunderttausend dieses Haus, die andern lesen davon in den Zeitungen und lassen sich erzählen und sehen die Bilder, und nie dürfen sie wirklich hinein. Und wer sind diese andern? Sie sieht die Frauen an und ist beunruhigt und empört zugleich. Nein, sie sind nicht schöner als ich selbst damals gewesen, sie gehen nicht leichter und freier als ich damals, nur das Kleid haben sie und das Unsichtbare der Sicherheit. Nur einen Schritt hinauf, einen einzigen Schritt mit ihnen hinein, die marmorne Treppe hinauf in die Loge, in das Goldgehäuse der Musik, in die Sphäre der Sorglosen und des Genießens.


Die Signalglocke schwirrt, die Letztangekommenen eilen, den Mantel im Laufe ausziehend, rasch den Garderoben zu, der Raum wird wieder leer. Jetzt beginnt es drinnen, es ist aus, und in dem schmalen Raum dazwischen steigt sie wieder auf, die unsichtbare Wand. Christine geht weiter. Die Laternen lassen ihre weißen Monde über der Ringstraße schweben, der Korso ist noch belebt. Christine geht mit, ziellos den Opernring entlang. Vor einem großen Hotel macht sie halt, wie magnetisch angezogen. Eben ist ein Auto vorgefahren, die livrierten Boys stürzen heraus, nehmen Koffer und Tasche einer etwas orientalisch aussehenden Dame ab, die Drehtür schwenkt und schluckt sie auf. Christine kann nicht weiter, wie ein Trichter zieht sie diese Türe an, unwiderstehlich verlangt sie, wenigstens eine Minute die ersehnte Welt zu sehen. Ich werde hineingehen, denkt sie sich, was kann mir geschehen, wenn ich den Portier frage, ob Frau van Boolen aus New York schon angekommen ist, es wäre ja wirklich möglich. Aber einen Blick tun, einen einzigen, sich neu erinnern, sich stärker erinnern, wieder für eine Sekunde die andere sein. Sie tritt ein, der Portier parlamentiert mit der neueingelangten Dame, so kann sie ungehindert durch den Vorraum schreiten, sich alles ansehen, die Fauteuils, in denen zigarettenrauchende und plaudernde Herren sitzen in gutgeschnittenen, smarten Reisekleidern oder Smokings, mit zierlichen Lackpantoffeln. In einer Nische sitzt eine ganze Gesellschaft, drei junge Frauen, die laut französisch auf zwei junge Leute einsprechen und zwischendurch lachen, jenes sorglose lockere Lachen, jene Musik der Sorglosen, die sie selber berauscht. Rückwärts wartet eine weite Halle mit Marmorsäulen, das Restaurant. Befrackte Kellner halten am Eingang Wacht. Ich könnte doch hineingehen und hier essen, denkt Christine und fühlt automatisch die Ledertasche an, ob das Portemonnaie drin ist mit den zwei Hundertfrankenscheinen und den siebzig Schilling, die sie mitgenommen hat. Ich kann doch hier essen, was wird das kosten? Aber nur einmal wieder hier sitzen in einem Saal, bedient sein, beachtet, bewundert, verzärtelt und dazu Musik, ja auch hier hört man Musik von innen, locker und gedämpft. Aber die alte Angst ist wieder da. Sie hat nicht das Kleid, den Talisman, der diese Tür öffnet. Sie fühlt sich unsicher, plötzlich wächst sie auch hier wiederum empor, die unsichtbare Wand, das magische Pentagramm der Angst, das sie nicht zu überschreiten wagt. Die Schultern zittern ihr, rasch, wie fliehend geht sie aus dem Hotel heraus. Niemand hat sie angesehen, niemand hat sie aufgehalten, dieses Unbeachtetsein macht sie noch schwächer, als sie war, als sie hereinkam.


Und wieder weiter, die Straßen entlang. Wohin gehen? Wozu bin ich eigentlich gekommen? Die Straßen werden allmählich schütter und leer, hastig schreiten ein paar Menschen vorbei, man merkt, sie wollen zum Abendessen. Ich werde essen gehen, denkt Christine, in irgendein Wirtshaus, nicht in ein so vornehmes Restaurant, wo mich jeder ansieht, sondern irgendwohin, wo es hell ist und wo Menschen sind. Sie findet eines und tritt ein. Fast alle Tische sind besetzt, sie findet einen leeren und setzt sich hin. Niemand beachtet sie. Der Kellner bringt ihr zu essen, sie kaut irgendwelche Speisen, gleichgiltig und nervös. Dazu bin ich hergekommen, denkt sie, was mache ich hier? Ihr ist langweilig, dazusitzen, das weiße Tischtuch anzusehen. Man kann nicht immer essen, immer bestellen, man muß auch einmal aufstehen und wieder weitergehen. Aber wohin? Es ist erst neun Uhr. Ein Zeitungsausträger – willkommene Unterbrechung – tritt an den Tisch, bietet ihr Abendblätter an, sie kauft zwei, drei, nicht um zu lesen, sondern nur, um sie anzusehen und so zu tun, als ob sie beschäftigt sei, als ob sie auf jemand warte. Gleichgiltig sieht sie die Nachrichten durch. Was kümmert sie all das, Schwierigkeiten in der Regierungsbildung, Raubmord in Berlin, Anzeigen von der Börse, was dieses Geschwätz über die Sängerin an der Oper, ob sie bleibt oder nicht, ob sie zwanzigmal oder siebzigmal im Jahr singt, ich werde sie doch niemals hören. Schon legt sie das Blatt hin, da springt ihr in dicken Lettern auf der letzten Seite die Rubrik ›Vergnügung‹ entgegen: »Wohin gehen wir heute abends?« Und darunter Unterhaltungen, Theater, Tanzlokale, Bars. Nervös nimmt sie das Blatt und liest die Annoncen. »Tanzmusik: Café Oxford«, »Die Freddi Sisters, Carltonbar«, »Ungarische Zigeunerkapelle«, »Die berühmte Neger-Jazz-Band, geöffnet bis drei Uhr, Rendez-vous der besten Gesellschaft Wiens!« Einmal noch wieder dabei sein, wo die andern sich vergnügen, tanzen, sich auflockern lassen, den Panzer zersprengen, den unerträglichen, um die Brust. Sie notiert sich ein Lokal, zwei Lokale, beide, wie sie sich vom Kellner erklären läßt, nicht weit.


In der Garderobe gibt sie ihren Mantel ab, leichter ist ihr jetzt, seit diese widerliche Hülle von ihr gefallen und Musik von unten scharf und schnell erklingt, sie geht die Stufen hinab ins Untergeschoß der Bar. Aber Enttäuschung, es ist noch halb leer. Im Orchester trommeln in weißen Jacken ein paar Burschen auf die Instrumente los, als wollten sie gewaltsam die paar Leute, die verlegen an den Tischen sitzen, in den Tanz treiben, aber nur ein einziges Paar, sichtlich berufsmäßiger Eintänzer, ein wenig schwarz geschminkt unter den Augenlidern, ein wenig zu genau frisiert und zu affektiert künstlich im Tanz, führt eine der Bardamen ohne Animo hin und her den quadratischen Tanzraum der Mitte entlang. Von den zwanzig Tischen sind vierzehn oder fünfzehn leer. An einem sitzen drei Damen, zweifellos im Beruf, die eine das Haar zu Asche entfärbt, die andere sehr männisch adjustiert in einem schwarzen Kleid und anliegendem Rock, der wie ein Smoking wirkt, die dritte, eine fette, vollbusige Jüdin, die langsam aus einem Strohhalm Whisky trinkt. Alle drei schauen sie mit merkwürdig abschätzenden Blicken an und beginnen dann leise zu lachen und zu tuscheln, mit dem geschulten Blick langjähriger Dienstzeit vermuten sie eine Anfängerin oder eine Provinzlerin. Die Herren, an den Tischen verstreut, Geschäftsreisende anscheinend, mangelhaft rasiert, abgemüdet und auf irgend etwas wartend, das sie aus ihrem Phlegma stimuliert, lümmeln vereinzelt an ihren Tischen, trinken Kaffee oder ein kleines Glas Schnaps. Christine hat ein Gefühl beim Hereinkommen wie jemand, der, eine Treppe niedersteigend, mit dem Fuß ins Leere tritt. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt, aber der Kellner stürzt sich beflissen auf den Gast, fragt, wo das gnädige Fräulein Platz nehmen will, und so setzt sie sich hin, irgendwohin und wartet wie die andern in diesem unvergnüglichen Vergnügungsraum auf etwas, das kommen soll und das nicht kommt. Einmal steht einer der Herren (es war wirklich ein Manufaktursagent aus Prag) schwerfällig auf und zerrt sie im Tanz herum, dann aber stellt er sie wieder ab: er hat offenbar keinen Mut oder keine Lust, auch er spürt irgendwie das ›halb und halb‹ an dieser Fremden, das Sonderbare und Unentschiedene, das Wollen und Nichtwollen, und der Fall ist ihm (er muß morgen um 6 Uhr 30 mit dem Schnellzug weiter nach Agram) zu kompliziert. Immerhin, eine Stunde sitzt Christine da. Zwei neueingetroffene Herren haben sich inzwischen zu den Damen hinübergesetzt und machen dort Konversation, nur sie bleibt allein. Plötzlich ruft sie den Kellner, bezahlt und geht weg, die neugierigen Blicke der andern im Rücken, wütend, erbost, verzweifelt.


Wieder auf der Straße. Es ist Nacht. Sie geht und weiß nicht wohin. Es ist alles einerlei. Alles ist jetzt einerlei, wenn man sie nehmen würde und hineinschleudern ins Wasser dort, in den Donaukanal, wenn das Auto, das beim Übergang gerade noch knapp vor der unaufmerksamen stoppt, sie niedergefahren hätte – alles ist ihr jetzt gleichgiltig. Auf einmal merkt sie, daß ein Schutzmann sie sonderbar ansieht und ihr schon nachschreiten will, als ob er sie etwas fragen wolle, da fällt ihr ein, man halte sie vielleicht für so etwas wie die Frauen da, die langsam zwischen den Schatten hervorkommen und die Männer ansprechen. Sie geht weiter und weiter. Es ist doch besser, ich kehre jetzt nach Hause zurück, was mache ich da, was tue ich denn? Plötzlich spürt sie einen Schritt hinter sich. Ein Schatten schiebt sich neben sie, der Herr des Schattens folgt nach, sieht ihr scharf ins Gesicht. »Nein, Fräulein, wirklich schon nach Hause?« Sie antwortet nicht. Aber er weicht nicht von ihrer Seite, beginnt zu sprechen, eindringlich, lustig, unwillkürlich tut es ihr wohl. Ob sie nicht noch wohingehen wolle? »Nein, keinesfalls.« »Aber ja, wer geht denn jetzt schon nach Hause? Nur in ein Café.« Sie gibt schließlich nach, nur um nicht allein zu sein. Es ist ein ganz netter Kerl, Bankbeamter, wie er erzählt, aber gewiß verheiratet, denkt sie sich. Wirklich, er hat einen Ring am Finger. Nun, gleichgiltig, sie will ja nichts von ihm, nur nicht jetzt schon allein sein, lieber da sich ein paar Spaße erzählen lassen, die man halb hört und halb nicht hört. Manchmal sieht sie ihn zwischendurch an: er ist nicht mehr jung, hat Falten unter den Augen, überarbeitet sieht er aus, abgehetzt und selber irgendwie zerknittert und zerdrückt wie sein Anzug. Aber er plaudert ganz nett. Zum erstenmal spricht sie wieder mit einem Menschen oder läßt ihn sprechen und weiß doch, es ist nicht das, was sie will. Seine Heiterkeit tut ihr irgendwie weh. Lustig ist manches, was er erzählt, aber, so spürt sie, ihre Kehle ist verätzt von Bitterkeit, und allmählich ergreift sie etwas wie Haß über diesen fremden Menschen, der sich freut und unbesorgt ist, während ihr alles sich im Zorne staut. Wie sie das Café verlassen, schiebt er ihr den Arm unter und drückt ihn an. Es ist die gleiche Geste, wie sie jener droben getan vor dem Hotel, und die Erregung, die sie verbrennt, kommt nicht von diesem kleinen plaudernden Burschen neben ihr, sondern von dem andern, von einer Erinnerung. Auf einmal faßt sie Angst. Am Ende könnte sie diesem fremden Menschen da nachgeben, sich hinwerfen an einen, den sie gar nicht will, nur aus Zorn, nur aus Ungeduld – und plötzlich, da gerade ein Taxi vorüberfährt, hebt sie den Arm, reißt sich von dem Verdutzten los und springt hinein.


Dann liegt sie noch lange wach in dem fremden Zimmer, hört draußen die Räder rollen, die Wagen fahren. Es ist vorbei, man kann nicht hinüber, man kann nicht durch die unsichtbare Wand, und so atmet sie im Bett erregt und schlaflos und weiß nicht, wozu dieser Atem geht.


Auch der Sonntagvormittag wird lang wie die wirre, schlaflose Nacht. Die meisten Geschäfte sind verschlossen und halten ihre Lockung hinter niedergelassenen Läden versteckt. So setzt sie sich, um die Zeit zu töten, in ein Café und blättert in den Zeitungen. Sie weiß schon nicht mehr, worauf sie sich gefreut hat, sie hat vergessen, warum sie nach Wien gekommen ist, wo niemand sie erwartet, wo keiner sie will. Es fällt ihr ein, die Schwester müßte sie einmal besuchen und den Schwager, sie hat es ihnen versprochen, und es gehört sich doch. Am besten, sie geht gleich nach Tisch hin, keinesfalls früher, sonst könnten sie meinen, es sei wegen des Mittagessens. Die Schwester ist ja so eigen, seit sie die Kinder hat, denkt nur an sich und spart um jeden Knochen. Bis dahin sind noch zwei Stunden, drei Stunden, sie geht dem Zufall nach über den Ring und merkt, daß der Eintritt in die Gemäldegalerie heute umsonst ist; sie geht gleichgiltig durch die Säle, setzt sich hin auf eine der Samtbänke, sieht sich die Menschen an, geht wieder weiter und dann noch in einen Park, und wie die Zeit wächst, wächst auch das Alleinsein in ihr. Wie sie endlich um zwei Uhr zum Schwager kommt, ist sie müde, als wäre sie durch tiefen Schnee gestapft. Gerade beim Haustor stößt sie auf die ganze Familie, der Schwager, die Schwester, beide Kinder, alle sichtlich sonntäglich angetan und wirklich (es tut ihr wohl) redlich erfreut über ihr Kommen. »Na, so etwas, so eine Überraschung! Vorige Woche hab ich erst Nelly gesagt, wir müssen ihr einmal schreiben, warum sie sich gar nicht sehen läßt, und wirklich, zum Mittagessen hättest du doch kommen können, aber nicht wahr, du gehst doch jetzt mit uns, wir wollen nach Schönbrunn hinaus, den Kindern die Viecher zeigen, und dann, es ist ein so schöner Tag.« »Gern«, sagt Christine. Es ist gut, ein Irgendwohin zu wissen. Es ist gut, mit Menschen zu sein. Der Schwager hakt ihr den Arm unter und erzählt ihr allerhand Geschichten, während die Schwester die Kinder führt. Der Mund steht nicht still in seinem breiten, gutmütigen Gesicht, und freundlich tätschelt er ihr den Arm. Es geht ihm gut, man sieht’s ihm auf zweihundert Schritte an, er ist zufrieden und hat eine ganz naive Freude an diesem Zufriedensein. Noch sind sie nicht bei der Tramway, so hat er ihr schon das große Geheimnis anvertraut, morgen wird er zum Bezirksvorsteher gewählt von der Partei, aber darauf hat er auch ein Recht, ein Vertrauensmann war er schon, kaum daß er vom Krieg zurückgekommen ist, und wenn’s gut geht und man die Schwarzen unterkriegt, kommt er in den nächsten Gemeinderat.


Christine geht an seiner Seite und hört ihm freundlich zu. Er ist sehr sympathisch seit je, dieser einfache kleine Mann, der sich an kleinen Dingen freut, ein guter Mensch, gefällig, leichtgläubig, zutraulich. Sie versteht, daß die Kameraden ihn gern zu seinem bescheidenen Amt wählen, er verdient es wahrhaftig. Aber doch, wenn sie ihn mit einem halben Blick von der Seite ansieht, klein, rotbackig, gemächlich, die Speckfalte unter dem Kinn und das Bäuchlein, das bei jedem Schritt schüttelt, denkt sie wirklich wie erschreckt an ihre Schwester: aber wie kann sie nur … Ich würde es nicht ertragen, mich anrühren zu lassen von diesem Mann. Aber gut ist es, mit ihm zu sein am hellen Tag zwischen vielen Menschen. Vor den Gitterstäben der Menagerie wird er mit den Kindern selbst zum Kind. Mit einem heimlichen Neid denkt Christine: noch einmal sich so freuen können über solche Kleinigkeiten, nicht nur nach Unmöglichem sich verzehren. Schließlich um fünf Uhr (die Kinder müssen früh schlafen gehen) wird der Rückweg beschlossen. Zuerst stopft man die Kinder in einen der sonntäglich überfüllten Straßenbahnwagen hinein, dann sich selbst und steht da gepreßt im hastigen Geratter des Wagens. Unwillkürlich erinnert sich Christine: das spiegelnde Auto, sauber im Morgenlicht, die Luft aromatisch durchwürzt um die Schläfen fahrend, den gefederten Sitz, im Nu überflogene Landschaft. Mit geschlossenen Augen schwebt sie inmitten des Gedränges in fremder Sphäre. Wie lange dies dauert, sie weiß es nicht. Da tippt sie der Schwager mahnend an die Schulter: »Aussteigen müssen wir, du kommst doch noch zu uns bis zu deinem Zug, auf einen Kaffee. Warte, ich gehe voran, ich druck euch einen Platz durch.«


Er schiebt sich vor, und klein, feist und massig wie er ist, bohrt er wirklich glücklich mit dem vorgeschobenen Ellenbogen einen schmalen Gang durch die mühselig zurückweichenden Bäuche, Schultern und Rücken. Schon ist er bei der Tür, da bricht plötzlich ein Krach aus. »Stoßen Sie nicht so, Sie Tölpel, einen in den Magen hinein«, schreit ein schmaler hoher Mann im Havelock ihn böse und zornig an. »Wer ist ein Tölpel? Sie haben es alle gehört, nicht wahr?« fährt cholerisch der Schwager auf. »Wer ist ein Tölpel?« Mühsam quetscht sich der eingekeilte magere Mann im Havelock durch, die andern starren auf. Ein Wortgefecht will beginnen, da schlägt plötzlich dem Schwager die zornige Stimme um: »Ferdinand, nein so was, na, das wäre was gewesen, jetzt hätte ich dir beinahe Krach gemacht.« Auch der andere staunt und lacht. Plötzlich fassen sich die beiden an den Händen und sehen sich in die Augen. Gar nicht los können sie voneinander, der Kondukteur muß mahnen: »Wenn die Herrschaften aussteigen wollen, dann aber schnell! Wir haben keine Zeit.« »Komm, du mußt mit uns aussteigen, wir wohnen gleich nebenan, nein, so was! Komm nur, komm!« Der schmale hohe Mann im Havelock hat ein ganz helles Gesicht bekommen. Von oben herab legt er dem Schwager die Hand auf die Schulter. »Gern, Franzi, natürlich komm ich mit dir.« Sie steigen beide ab. An der Haltestelle bleibt der Schwager stehen und schnaubt von der Anstrengung der Überraschung, sein ganzes Gesicht glänzt wie mit Fett beschmiert. »Nein, so was, daß man sich doch noch einmal im Leben wiedersieht, wie oft habe ich mir gedacht, wo du bist, und immer hab ich mir vorgenommen, ich muß einmal schreiben hinunter ins Hotel, wo du bist. Aber du weißt ja, man vergißt immer und schiebt alles wieder auf. Und jetzt bist du doch einmal da, nein, so was, was ich für eine Freud’ hab.«


Der Fremde steht ihm gegenüber, er freut sich auch, man sieht es an dem kleinen Zittern um die Lippen. Nur ist er, der Jüngere, mehr beherrscht. »Na, na, laß es gut sein, ich glaube dir schon, Franzi«, sagt er und klopft dem kleinen Mann von oben herab auf die Schulter, »aber jetzt stelle mich den Damen vor, eine wird ja wohl die Nelly sein, deine Frau, von der du mir immer erzählt hast.« »Natürlich, natürlich, warte nur, ich war nur ganz baff. Nein, wirklich, was ich für eine Freud’ habe, Ferdinand!« Und dann zu den andern: »Du weißt doch, Ferdinand, der Farmer, der, von dem ich dir immer erzählt habe. Zwei Jahre sind wir zusammen gelegen in derselben Baracken drüben in Sibirien. Der einzige – ja, wirklich, Ferdinand, du weißt es ja – der einzige, der ein anständiger Kerl war unter dem ruthenischen und serbischen Glump, mit denen man uns zusammengepfropft hat, der einzige, mit dem man hat reden können und auf den ein Verlaß war. Nein, so was! Aber jetzt kommst gleich zu uns herauf, ich bin ja furchtbar neugierig auf alles. Nein, so was, wenn mir das heute jemand gesagt hätt’, daß ich noch so eine Freud’ haben werde – eine Tramway später, wenn ich gnommen hätte, und man hätte sich vielleicht nie mehr im Leben gesehn.«


Nie hat Christine den behaglichen, dickblütigen Schwager so behende, so belebt gesehen, er läuft geradezu die Treppen des Hauses hinauf, schiebt als ersten den Freund hinein, der mit einer leisen, nachsichtig lächelnden Überlegenheit der immer wieder ausbrechenden Begeisterung seines Kriegskameraden nachgibt. »Da, den Rock zieh aus, mach dir’s bequem, hier, setz dich her in den Fauteuil – Nelly, einen Kaffee für uns, Schnaps und Zigaretten – so, jetzt laß dich einmal anschauen. Jünger bist du nicht geworden, eigentlich siehst du verflucht schmal aus. Dich sollte man einmal gründlich auffüttern.« Der Fremde läßt sich gutwillig anblicken, die kindliche Freude tut ihm sichtlich wohl. Sein hartes, gespanntes Gesicht mit der stark vorgeschobenen Stirn und den vorgemeißelten Backenknochen lockert sich allmählich auf. Auch Christine sieht ihn an und bemüht sich zu erinnern, an irgendein Bild, das sie heute vormittag in der Galerie gesehen, Bildnis eines Mönchs von einem Spanier, sie erinnert sich nicht mehr an den Namen, nur an das gleiche asketische, knöcherne, fast fleischlose Gesicht und an den gespannten Zug um die Nasenflügel. Der Fremde klopft mit der Hand dem Schwager gutmütig auf den Arm. »Kannst schon recht haben, wir hätten halt weiter teilen sollen wie damals unsere Konserven, etwas von deinem Speck könntest du mir schon ablassen, du könntest es leicht entbehren und deine Frau hätte, so hoffe ich, auch nichts dawider.«


»Aber jetzt erzähl, Ferdinand, ich brenn’ ja schon vor Neugierde: damals wie uns die vom Roten Kreuz transportiert haben, ich im ersten Schub, und du mit den siebzig andern hättest nachkommen sollen am nächsten Tag. Da sind wir noch zwei Tage an der österreichischen Grenze gesessen. Es waren keine Kohlen da für die Züge. Und die zwei Tage habe ich gewartet jede Stunde, wann du eigentlich kommst, zehnmal, zwanzigmal sind wir zum Bahnvorstand gegangen, er solle telegrafieren, aber damals war ja das heiligste Durcheinander, und nach zwei Tagen erst sind wir weitergefahren, siebzehn Stunden von der tschechischen Grenze bis Wien. Und du, was war denn mit euch?«


»Na, du hättest noch zwei Jahre an der Grenze sitzen können und auf uns warten, ihr habt eben Glück gehabt und wir sind zum Handkuß gekommen. Eine halbe Stunde nach eurem Transport sind die Telegramme geflogen: die Eisenbahnlinien gesprengt von den tschechischen Legionen, und dann ging’s noch einmal zurück nach Sibirien. Das war kein Spaß, aber wir haben es nicht schwergenommen. Wir haben geglaubt acht Tage, vierzehn Tage, einen Monat. Aber daß das zwei Jahre würden, daran hat keiner gedacht, und nur ein Dutzend von uns siebzig hat’s zu Ende erlebt. Die Roten, die Weißen, Wrangell, immer Krieg, immer vor und zurück, immer hin und her, wie die Körner im Sack hat man uns herumgeschüttelt. Erst 1921 hat das Rote Kreuz uns zurückgeholt über Finnland: ja, mein Lieber, man hat allerhand mitgemacht, und du verstehst, daß man nicht viel Fett dabei ansetzt.«


»So ein Pech, hörst du, Nelly! Wegen einer halben Stunde. Und ich hab’ nichts gewußt davon. Keine Ahnung habe ich gehabt, daß ihr da im Dreck stehenbleiben müßt und gerade du! Gerade du! Und was hast du die ganzen zwei Jahre gemacht?«


»Mein Lieber, wenn ich dir das alles erzählen sollt’, würden wir heute nimmer fertig. Ich glaube, ich habe alles gemacht, was ein Mensch überhaupt machen kann. Beim Mähen geholfen, beim Bauen in den Fabriken, Zeitungen habe ich ausgetragen und auf der Schreibmaschine gehämmert und vierzehn Tage bei den Roten gekämpft, wie sie vor unserer Stadt standen, und bei den Bauern mich durchgebettelt, wie sie in die Stadt hereinkamen. Na reden wir nicht davon; wenn ich heute darüber nachdenke, verstehe ich selbst nicht, daß ich dasitze und eine Zigarette rauchen kann.«


Der Schwager ist furchtbar aufgeregt. »Nein, so was! Nein, so was! Da weiß man gar nicht, was für ein Glück man gehabt hat, wenn ich denke, zwei Jahre wäret ihr hier noch allein gewesen, du und die Kinder, es ist gar nicht zum Ausdenken, und einen braven Kerl wie dich, den hat’s so auf den Schädel geschlagen! Nein, so was! Nein, so was! Gott sei Dank, daß du wenigstens gut beieinander bist, eigentlich hast du bei all deinem Pech doch noch Glück gehabt, daß dir gar nichts geschehen ist.«


Der Fremde nimmt die brennende Zigarette und knüllt sie bös in die Aschenschale hinein. Sein Gesicht ist plötzlich dunkel geworden. »Ja, ich hab’ sozusagen Glück gehabt – gar nichts ist mir geschehen, oder fast nichts, nur da, zwei Finger gebrochen, und die noch am letzten Tag, ja. ich hab sozusagen Glück gehabt. Nur ganz leicht hat’s mich erwischt. Es war am letzten Tag, da haben wir es nicht mehr ausgehalten, alle die letzten, die man zusammengepfercht hat in ein Quartier, und haben noch im Bahnhof einen Getreidewagen ausgeräumt, nur um weiter, weiter zu kommen, siebzig Menschen statt der vorgeschriebenen vierzig in einem Waggon, einer neben dem andern. Nicht umdrehen hat man sich können, und wenn einer ein Bedürfnis gehabt hat – na, das kann ich vor den Damen nicht erzählen. Aber immerhin, man ist gefahren und war schon darüber froh. Bei einer nächsten Station gingen noch zwanzig herein. Mit Kolben haben sie sich geschlagen, wer zuerst vorkam, und hineingepreßt einer den andern, und immer noch einer und noch einer, obwohl man schon fünf oder sechs niedergetreten hat, und so sind wir gefahren sieben Stunden, einer hineingeschraubt in den andern, und dabei das Stöhnen, das Schreien, das Röcheln, der Schweiß und der Gestank. Ich bin mit dem Gesicht an der Wand gestanden und hab’ die Hände vor mich gespreizt, daß sie mir den Brustkorb nicht eindrücken am harten Holz, zwei Finger sind mir dabei gebrochen und die Sehne zerrissen, und sechs Stunden bin ich so gestanden, kein Zoll Luft in der Brust, halb erstickt. In der nächsten Station ist es besser geworden, da hat man fünf Tote herausgeschmissen, zwei zertreten, drei erstickt, und so sind wir weitergefahren bis abends. Ja, sozusagen hab’ ich Glück gehabt, nur die Sehne kaputt und zwei Finger gebrochen – eine Kleinigkeit.«


Er hebt die Hand und zeigt: der dritte Finger ist schlaff und läßt sich nicht biegen. »Eine Kleinigkeit, nicht wahr, ein einziger Finger nach einem Weltkrieg und vier Jahren Sibirien. Aber man glaubt es nicht, was so ein toter Finger macht an einer lebendigen Hand. Man kann nicht zeichnen damit, wenn man Architekt werden will, man kann nicht maschineschreiben in einem Büro, man kann nirgends zugreifen, wo es schwere Arbeit gibt. Ein kleines Luder von einer Sehne, dünn wie ein Strich, und an so einem Faden hängt die ganze Karriere. Das ist so, wie wenn man in einem Grundriß von einem Haus einen Millimeter sich verzeichnet – nur eine Kleinigkeit – und das ganze Haus kracht zusammen.«


Franz ist ganz bestürzt, immer wiederholt er sein hilfloses, ratloses: »Nein, so was! Nein, so was!« Man sieht, am liebsten würde ihm Franz über die Hand streichen; auch die Frauen sind ernst geworden und sehen interessiert den Fremden an. Endlich faßt sich der Schwager wieder und fragt: »Ja, erzähl weiter – was hast du dann gemacht, wie du zurückgekommen bist?«


»Nun, das, was ich dir immer gesagt habe. Weiter studieren hab’ ich wollen auf der Technik, dort anstückeln, wo der Faden abgerissen ist, mich wieder hinsetzen auf die Schulbank mit fünfundzwanzig, wo ich mit neunzehn aufgestanden. Schließlich hätte ich es ja auch gelernt, mit der linken Hand zu zeichnen, aber da war wieder etwas im Wege, auch so eine Kleinigkeit.«


»Na, was denn?«


»Ja, das ist halt so eingerichtet in dieser Welt, daß das Studium allerhand kostet, und diese Kleinigkeit hat mir eben gefehlt – immer sind’s ja Kleinigkeiten.«


»Ja, aber wie denn? Ihr habt doch immer Geld gehabt, ein Haus hattest du unten in Meran und Felder und Wirtschaft und die Tabaktrafik und die Krämerei … und … Du hast mir doch alles erzählt … und dabei die Großmutter, die immer nur gespart hat und keinen Knopf hergegeben und im kalten Zimmer geschlafen, weil ihr leid war um den Span zum Anzünden und um das Papier. Was ist denn mit ihr?«


»Ja, einen schönen Garten hat sie noch und ein schönes Haus, geradezu ein Palais. Eben bin ich von dort in der Tramway gekommen, draußen von Lainz aus dem Versorgungshaus, dort hat man sie mit schwerer Mühe und Not aufgenommen. Und Geld hat sie überdies auch, einen schweren Haufen, eine ganze Kassette voll bis zum Rand. Zweihunderttausend Kronen sind darin in guten alten Tausendern. Bei Tag hat sie sie im Kasten, in der Nacht unter ihrem Bett. Alle Ärzte lachen sie aus, und die Wärter haben ihren Spaß. Zweihunderttausend Kronen, sie war ja eine gute Österreicherin und hat drunten alles verkauft, die Weingärten, die Wirtschaft und die Trafik, weil sie nicht Italienerin werden wollte, und hat alles angelegt in schönen, funkelnagelneuen Tausendkronenscheinen, wie man sie im Krieg so prächtig geboren hat. Na, und die hat sie jetzt unter dem Bett in ihrer Kassette versteckt und schwört darauf, sie werden einmal noch etwas wert sein, es könnte ja nicht möglich sein, daß so etwas, was einmal zwanzig Hektar waren oder fünfundzwanzig und ein schönes steinernes Haus und gute alte ererbte Möbel und fünfzig Jahre Arbeit oder vierzig, daß das ewig nichts sein sollte. Ja, die Gute begreift es nicht mehr mit ihren fünfundsiebzig Jahren. Sie glaubt eben noch immer an den lieben guten Gott und seine irdische Gerechtigkeit.«


Er hat eine Pfeife aus seiner Tasche geholt, stopft sie sich heftig an und beginnt stark zu paffen. Christine spürt sofort, es ist Zorn in dieser Bewegung. Diese kalte, harte, höhnische Wut ist ihr vertraut, und sie tut ihr irgendwie brüderlich wohl. Ihre Schwester sieht geärgert zur Seite. Irgendein Widerwillen wächst sichtlich in ihr gegen diesen Mann, der das Zimmer rücksichtslos vollpafft und mit ihrem Mann wie mit einem Schuljungen umspringt. Sie ärgert sich über diese Unterwürfigkeit vor diesem schlecht angezogenen, feindseligen und – sie spürt es atmosphärisch – mit dem Geiste der Revolte geladenen Menschen, der hier Steine in den Teich ihrer Gemütlichkeit wirft. Franz selbst ist wie betäubt, er schaut nur immer seinen Kameraden an, gutmütig und erschreckt zugleich, und stammelt immer sein leeres »Nein, so was! Nein, so was!« Er braucht einige Zeit, sich zu fassen, dann fängt er immer von neuem an. »Aber, ja dann – so erzähl doch weiter, was hast du dann gemacht?«


»So allerhand hin und her. Zuerst habe ich geglaubt, wenn ich etwas nebenbei verdiene, so wird das reichen, daß ich das Studium fortsetzen kann, aber es hat halt nie gereicht, kaum zum täglichen Futter. Ja, mein lieber Franzi, in Banken und Ämtern und Geschäften hat man eben nicht auf Männer gewartet, die überflüssigerweise noch zwei Winter Urlaub in Sibirien genommen haben und dann heimgekommen sind mit einer halben Hand. Überall: ›Bedaure, bedaure‹, überall sind die andern schon gesessen mit dicken Ärschen und gesunden Fingern, überall war ich mit meiner ›Kleinigkeit‹, die ich erwischt hatte, in der Hinterhand.«


»Aber – da hättest du doch ein Recht auf die Invaliditätsrente, du bist doch arbeitsunfähig oder vermindert arbeitsfähig, da mußt du doch einen Zuschuß bekommen, darauf hast du doch ein Recht.«


»Meinst du? Na, ich mein’s eigentlich auch. Ich mein’s auch, daß der Staat eine gewisse Pflicht hätte, einem zu helfen, wenn man ein Haus verloren hat, Weingärten und einen Finger und geschlagene sechs Jahre Zeit. Aber, mein Lieber, in Österreich gehen alle Wege krumm, ich habe auch geglaubt, es wird ausreichen, und gehe hin auf das Invalidenamt und zeige ihnen, da und dort habe ich gedient und da ist mein Finger. Aber nein, ad eins, hatte ich den Nachweis zu erbringen, daß ich diese Verletzung im Kriege bezogen habe oder sie eine Kriegsfolge darstellt. Das ist nicht ganz leicht, wenn der Krieg 1918 aus war und sie 1921 zwischen Umständen passiert war, wo keiner ein Protokoll aufgenommen hat. Aber schließlich, das wäre noch gegangen. Doch dann machten die Herrschaften eine große Entdeckung – ja, Franz, da wirst du staunen, nämlich, daß ich gar nicht österreichischer Staatsbürger bin. Ich sei nach Taufschein geboren und zuständig in der Bezirkshauptmannschaft Meran, und um österreichischer Staatsbürger zu werden, hätte ich rechtzeitig optieren müssen. No, und dann war alles futsch!«


»Ja, aber warum … warum hast du denn wirklich nicht optiert?«


»Donnerwetter, jetzt fragst du auch schon genauso blöd wie die. Als ob die draußen in den Strohhütten und Baracken von Sibirien 1919 das deutsch-österreichische Amtsblatt plakatiert hätten. Mein Lieber, in unserem Tatarendorf haben wir nicht gewußt, ob Wien vielleicht in Böhmen liegt oder in Italien, und es war uns auch verflucht wurscht, uns hat es nur gekümmert, wo wir ein Stück Brot zwischen die Zähne kriegten und die Läuse aus dem Pelz, und wie man fünf Stunden weit ein Packel Zündhölzel kriegte oder eine Handvoll Tabak. Sehr nett da hätte ich optieren sollen für Österreich. Na, schließlich hat man mir wenigstens ein Käseblatt gegeben, ausgefüllt, daß ich voraussichtlich ›im Sinne des Artikels 65 sowie der Artikel 71 und 74 des Friedensvertrags von Saint-Germain vom 10. September 1919 österreichischer Staatsbürger‹ sei. Aber ich verkauf dir den Wisch für ein Packel Ägyptische, denn herausgekriegt habe ich bei allen Ämtern nicht einen Heller.«


Jetzt kommt in Franz Bewegung. Plötzlich wird ihm wohl, weil er fühlt, daß er hier helfen kann. »Na, das richte ich dir, da verlaß dich drauf. Das werden wir schon durchdrücken. Wenn einer, so kann ich deinen Kriegsdienst bezeugen, und die Abgeordneten kenne ich von der Partei her, die machen schon einen Weg für mich, und vom Magistrat bekommst du eine Empfehlung – ah, das setzen wir schon durch, da kannst du dich verlassen.«


»Dank dir, lieber Freund, für Speis und Trank! Aber ich geh’ keinen Schritt mehr. Ich habe genug, du weißt ja nicht, was ich für Papiere hab’ herschleppen müssen, Militärpapiere, Zivilpapiere, vom Bürgermeisteramt, von der italienischen Gesandtschaft, Mittellosigkeitsnachweis und ich weiß nicht was noch für papierenen Dreck. An Stempeln und Porto habe ich mehr ausgegeben, als der Bettel ausmacht in einem ganzen Jahr, und mir die Füße abgelaufen, daß es mir aufs Herz gebrannt hat. Im Bundeskanzleramt war ich, beim Heeresministerium, bei der Polizei, beim Magistrat, nirgends ist eine Tür, an die man mich nicht gewiesen hat, keine Stiege, die ich nicht auf- und niedergeklettert bin, kein Spucknapf, in den ich nicht hineingespuckt hätte. Nein, mein Lieber lieber krepieren als noch einmal diesen Eselsweg von Amt zu Amt.«


Franz sieht ihn erschrocken an, als habe er ihn bei einem Unrecht ertappt. Seine eigene Behaglichkeit drückt ihn, man spürt es, wie eine Schuld. Er rückt näher heran:


»Ja, aber was machst denn jetzt?«


»So allerhand. Was sich gerade trifft. Bis auf weiteres bin ich in Flondsdorf bei einem Bau technischer Aufseher, so halber Architekt und halb Aufpasser. Ganz leidlich bezahlt übrigens, und sie werden mich halten, bis der Bau fertig ist oder die Firma pleite. Dann werde ich schon wieder etwas anderes finden, ich sorge mich nicht. Aber mit dem, was ich dir drüben erzählt habe, drüben auf unserer Holzpritsche, mit dem Architektsein und Brückenbauen, damit ist es pritsch. Die Zeit, die ich drüben hinter dem Stacheldraht verduselt, verraucht und verblödelt habe, die hole ich nicht mehr ein. Die akademische Tür ist zu, die sperre ich nicht mehr auf, dazu haben sie mir damals mit dem Kolben bei Beginn des Kriegs den Schlüssel aus der Hand geschlagen, der liegt im sibirischen Dreck. Aber lassen wir das, gib mir lieber noch einen Cognac – der Schnaps und die Zigaretten sind das einzige, was man drüben im Krieg gelernt hat.«


Gehorsam schenkt ihm Franz sein Glas ein. Seine Hände zittern dabei. »Nein, so was, nein, so was! Ein Kerl wie du, so fleißig, so gescheit und so brav, muß sich so herumrackern. Wirklich, das ist eine Schande, auf dich hätte ich geschworen, daß du hochkommst, und wenn’s einer verdient hat, bist du’s. Na, aber das muß auch anders werden. Es muß sich da was ergeben.«


»Es muß sich? So! Habe ich auch geglaubt, die ganzen fünf Jahre, seit ich zurück bin. Aber das Muß ist eine harte Nuß, und auch die fällt nicht immer vom Baum, wenn man ihn noch so schüttelt. In der Welt sieht es eben doch ein bissel anders aus, als wir es im Lesebuch gelernt haben mit ›Üb immer Treu und Redlichkeit …‹ Wir sind keine Eidechsen, denen die Schwänze prompt anwachsen, wo man sie ihnen ausgerissen hat. Mein Lieber, wenn man einem sechs Jahre, die besten, von achtzehn bis vierundzwanzig, herausgeschnitten hat aus dem lebendigen Leib, da bleibt man irgendwie ein Krüppel, auch wenn man, wie du sagst, das Glück gehabt hat, daß man glücklich nach Hause gekommen ist. Wenn ich eine Arbeit suche, weiß ich nicht mehr als irgendein besserer Lehrling oder ein verbummelter Gymnasiast, und wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich aus wie vierzig Jahre. Nein, wir sind in einer schlechten Zeit zur Welt gekommen, das heilt einem kein Doktor zu, diese sechs Jahre Jugend mitten aus dem Leib gerissen, und wer gibt mir etwas dafür? Der Staat? Dieser Oberlump, dieser Oberdieb? Sag mir doch eines unter euren vierzig Ministerien, für Justiz, für Volkswohlfahrt und Handel und Wandel im Frieden und im Krieg, zeige mir eines für Gerechtigkeit. Hineingejagt haben sie uns und dazu den Radetzkymarsch geblasen und das ›Gott erhalte‹, und jetzt blasen sie einem was anders vor. Ja, mein Lieber, vom Dreck aus gesehen, sieht die Welt nicht sehr lieblich aus.«


Franz sitzt noch immer betroffen, er merkt den geärgerten Blick seiner Frau, und aus Verlegenheit beginnt er den Freund zu entschuldigen. »Nein, wie du redest, Ferdl, ich erkenne dich kaum. Ihr hättet ihn drüben sehen sollen, der bravste, der geduldigste Kerl von allen, der einzige anständige unter der Bagage. Ich erinnere mich noch, wie sie ihn eingebracht haben, ein schmales Bürschel, neunzehn Jahre war er damals. Die andern waren alle mordsglücklich, daß für sie der Wirbel zu Ende war, nur er war ganz blaß vor Wut, daß sie ihn beim Rückzug abgefangen haben, gleich aus dem Waggon heraus, daß er nicht hat kämpfen können und sterben für das Vaterland. Am ersten Abend, ich erinnere mich noch, das hatten wir noch nie gesehen, frisch vom Pfarrer und von der Mutter her ist er in den Krieg gekommen – ist er hingekniet und hat gebetet. Wenn einer gespaßt hat über den Kaiser oder über die Armee, hat er ihm an die Gurgel fahren wollen. So einer war das, der anständigste unter uns allen, der hat noch geglaubt an alles, wie es in den Zeitungen gestanden ist und im Regimentsbefehl, und jetzt red’t er so!«


Ferdinand sieht ihn finster an: »Ich weiß, daß ich wie ein Schulbub alles geglaubt habe. Aber ihr habt mir’s ausgetrieben! Habt ihr mir nicht gleich vom ersten Tag an gesagt, daß alles nur Schwindel war, unsere Generäle Trotteln und daß die Proviantoffiziere stahlen wie die Raben, daß jeder ein Esel war, der nicht die Hände hochgeschmissen hat? Und wer war dort der Oberbolschewik, ich oder du? Wer, du Wurschtel, hat die Reden gehalten vom Weltsozialismus und der Weltrevolution? Wer hat als erster die rote Fahne genommen und ist hinüber ins Offizierslager, den Offizieren die Rosetten abzureißen? Na, erinnere dich doch ein bissel! Wer hat vom Gouverneurspalais neben dem Sowjetkommissär die große Ansprache gehalten, daß die gefangenen österreichischen Soldaten nicht mehr Söldner des Kaisers sind, sondern Soldaten der Weltrevolution, daß sie nur nach Hause marschieren werden, um die kapitalistische Ordnung zu zerschlagen, das Reich der Ordnung und Gerechtigkeit aufzubauen? Na, und was ist mit dem Aufräumen geworden, wie du erst wieder dein geliebtes Beinfleisch gekriegt hast und dein Krügel Pils? Wo, Herr Obersozialist, habt ihr sie denn gemacht, darf ich gehorsamst fragen, eure Weltrevolution?«


Nelly steht brüsk auf und macht sich am Geschirr zu schaffen. Sie verbirgt nicht mehr den Zorn, daß sich ihr Mann in seinem eigenen Zimmer von diesem Fremden wie ein Bub rüffeln läßt. Auch Christine bemerkt ihren Zorn, und es ist ihr merkwürdig wohl dabei, am liebsten hätte sie laut herausgelacht, wie sie ihren Schwager, den zukünftigen Bezirksvorsteher, ganz geduckt sitzen sieht und endlich sich verlegen entschuldigen.


»Wir haben doch alles getan, was zu tun war. Du siehst doch, gleich am ersten Tage haben wir Revolution gemacht …«


»Revolution? Du erlaubst doch noch eine Zigarette, daß ich darauf blasen kann, auf eure Lamperlrevolution. Das k.k. Firmenschild habt’s umgedreht und neu angestrichen, aber in der Butike drinnen habt ihr alles gehorsam respektvoll beim alten gelassen, das Oben schön oben und das Unten schön unten, ihr habt euch gehütet, mit der Faust da gründlich hineinzufahren und umzukrempeln. Ein Nestroystück habt ihr aufgeführt, aber keine Revolution gemacht«.


Er steht auf, geht heftig im Zimmer auf und ab, dann bleibt er plötzlich vor Franz stehen. »Nicht daß du mich mißverstehst, ich bin nicht von der Roten Fahne. Ich habe von zu nah gesehen, was ein Bürgerkrieg ist, und wenn man mir die Augen ausbrennte, könnte ich es nicht mehr vergessen. Wenn damals die Sowjets ein Dorf wieder genommen haben – dreimal ist es hin und her gegangen zwischen den Roten und den Weißen –, hat man uns alle zusammengeholt, die Leichen zu begraben. Ich habe sie mit eigenen Händen eingescharrt, verkohlte, zerfetzte Kadaver, Kinder und Weiber und Pferde, alles durcheinander, ein Grauen, ein Gestank; seitdem weiß ich, was das heißt, Bürgerkrieg, und wenn ich wüßte, ich könnte damit die ewige Gerechtigkeit vom Himmel holen und man müßte dafür lebendige Menschen so zurichten, ich täte nicht mehr mit. Mich geht es ja nichts mehr an, mich interessiert es nicht, ich bin nicht mehr für die Bolschewiken und nicht dagegen, nicht mehr Kommunist oder Kapitalist, mir ist alles einerlei, mich kümmert nur mehr eines, der Mensch, der ich bin, und der einzige Staat, dem ich dienen möchte, ist meine Arbeit. Aber wie die nächste Generation glücklich wird, ob so oder so, ob kommunistisch oder faschistisch oder sozialistisch, ist mir ganz wurscht, was kümmert es mich, wie die leben und leben werden, mich kümmert’s nur, daß ich endlich einmal mein zerfetztes Leben wieder zusammenkriege und da zum Austrag bringe, zu dem ich geboren bin. Wenn ich dort einmal bin, wo ich sein will, wenn ich wieder einmal Zeit habe zu atmen, vielleicht, wenn ich mein eigenes Leben in Ordnung habe, dann werde ich vielleicht einmal nach dem Abendessen nachdenken, wie man die Welt in Ordnung bringt. Aber erst muß ich wissen, wo ich stehe; ihr habt Zeit, euch um andere Sachen zu kümmern, ich nur um meine eigenen mehr.«


Franz macht eine Bewegung.


»Aber nein, Franz, ich meine es doch nicht gegen dich. Ich weiß, du bist ein guter Kerl, ich kenne doch jeden Faden von dir, ich weiß, wenn du es könntest, möchtest du für mich die Nationalbank ausräumen und mich zum Minister machen. Ich weiß, du bist gutmütig, das aber ist ja unsere Schuld, unser Verbrechen, daß wir so gutmütig waren, so gutgläubig, und darum haben die andern mit uns alles gemacht, was sie wollten. Nein, mein Lieber, das ist bei mir vorbei. Ich lasse mir nicht mehr etwas vormachen, daß es andern schlechter geht, ich lasse mir nicht mehr einreden, daß ich ›Glück‹ gehabt habe, weil ich noch meine Knochen beisammen habe und ohne Krücken herumgehe. Ich lasse mir nicht einreden, daß das genug ist, wenn man atmet und gerade sein Futter hat, und daß damit alles schon in Ordnung ist. Ich glaube an nichts mehr, an keinen Gott und keinen Staat und keinen Sinn der Welt, an nichts, solange ich nicht spüre, daß ich zu meinem Recht komme, zu meinem Recht auf Leben, und solange ich das nicht habe, werde ich sagen, man hat mich bestohlen und betrogen. Ich gebe nicht früher nach, als bis ich spüre, daß ich mein wirkliches Leben lebe und nicht den Abhub bekomme von dem, was die andern wegschmeißen oder auskotzen. Kannst du das verstehen?«


»Ja.«


Alle schauen brüsk auf. Jemand hat laut und leidenschaftlich »Ja« gesagt. Christine merkt, daß alle sie anblicken, und wird rot. Sie ist sich nur bewußt, dieses Ja gedacht und innen stark gefühlt zu haben; ohne daß sie es weiß, ist es ihr über die Lippen gefahren. Nun sitzt sie verlegen im Brennkreis plötzlicher Neugierde. Schweigen. In diesem Augenblick springt Nelly auf. Jetzt hat sie endlich Gelegenheit, ihren Zorn zu entladen.


»Was red’st denn du mit? Was verstehst du denn davon, als ob du je mit dem Krieg etwas zu tun gehabt hättest!«


Auf einmal brennt das Zimmer von Energien. Auch Christine ist froh, ihren Zorn abspringen lassen zu können. »Gar nichts! Gar nichts! Nur daß wir auf den Hund dadurch gekommen sind. Daß wir einen Bruder gehabt haben, hast du auch schon vergessen, und wie der Vater zugrunde gegangen ist und alles … alles.«


»Aber du nicht, dir hat nichts gefehlt, du hast deine gute Stellung und solltest froh sein.«


»So, froh soll ich sein. Mich bedanken soll ich noch, daß ich da draußen sitze in diesem Mistnest. Dir scheint es nicht sehr gefallen zu haben, denn du bist nur alle heiligen Zeiten hinausgekommen zur Mutter. Alles ist wahr, was Herr Farmer sagt. Jahre hat man uns gestohlen und nichts gegeben, nicht einen Augenblick Ruhe, Freude, keinen Urlaub und kein Ausruhen.«


»So, keinen Urlaub. Aus der Schweiz kommt sie, aus den nobelsten Hotels, und da will sie sich beklagen.«


»Ich habe mich bei niemand beklagt, nur dich habe ich klagen gehört während dem ganzen Krieg. Das mit der Schweiz … Gerade weil ich’s gesehen habe, kann ich mitreden. Jetzt erst weiß ich, was … was man uns genommen hat … wie man unser Leben zugerichtet hat … was ich für …«


Sie wird plötzlich unsicher, Sie spürt, der fremde Mensch blickt sie eindringlich und erregt an. Verlegen spürt sie, daß sie vielleicht schon zuviel von sich verraten habe, und dämpft den Ton. »Ich möchte mich natürlich nicht vergleichen, natürlich haben die andern mehr mitgemacht. Aber jeder von uns hat genug, jeder für seinen Teil. Ich habe nie etwas gesagt, nie bin ich jemand zur Last gefallen, nie habe ich mich beklagt. Aber wenn du mir sagst …«


»Ruhig Kinder! Nur keinen Streit«, schiebt sich Franz dazwischen. »Was habt ihr denn davon, wir vier werden es hier nicht gutmachen. Nur keine Politik, da kommt man immer gleich gegeneinander. Reden wir doch von etwas anderm, und vor allem laßt mir meine Freude. Ihr wißt ja gar nicht, wie mir’s wohltut, daß ich ihn da wieder neben mir sehe, und wenn er noch so schimpft und mich zusammenrüffelt, ich freue mich doch.«


Es wird wieder Friede zwischen den paar Menschen und wie nach einem Gewitter kühlere Luft.


Einen Augenblick genießen sie alle das Schweigen, diese Entspannung, dann erhebt sich Ferdinand vom Sessel: »Ich muß jetzt gehen, ruf mir noch einmal deine Buben herein, ich möchte mir sie gern noch einmal anschauen.«


Die Kinder werden gebracht, sie schauen neugierig und verwundert auf den fremden Mann.


»Das ist der Roderich, das Vorkriegskind. Von dem weiß ich. Und da der zweite, der Baux, sozusagen der Posthumus, wie heißt er?«


»Joachim.«


»Joachim! Hätte er nicht eigentlich anders heißen sollen, Franz?« Franz erschrickt. »Mein Gott, Ferdl. Ganz habe ich daran vergessen. Denk dir, Nelly, daß mir das nicht eingefallen ist, wir haben uns versprochen, daß wir einer den andern als Paten nehmen, wenn wir noch einmal zurückkommen und ein Kind kriegen. Ganz hab’ ich vergessen daran. Du bist mir doch nicht böse?«


»Mein Lieber, ich glaube, wir zwei können einander nie mehr böse sein. Wenn wir uns hätten je streiten sollen, wir hätten Zeit genug gehabt, aber siehst du, daran liegt es. Daß wir alle an die Zeit vergessen, das macht’s aus. Aber vielleicht ist es besser so« – er fährt dem Kind übers Haar und ein gutes Licht läuft über seine Augen. »Vielleicht hätte ihm der Name kein Glück gebracht.«


Er ist jetzt ganz ruhig geworden. Seit der Berührung mit dem Kind ist etwas Kindliches in seinem Gesicht aufgewacht. Ganz versöhnlich, ohne jede Unruhe geht er auf die Frau zu: »Nichts für ungut, Frau … Ich weiß, ich bin kein gemütlicher Gast und habe schon gemerkt, eine rechte Freude haben Sie nicht dran, wie ich mit dem Franz rede. Aber wenn man sich so einmal zwei Jahre lang gegenseitig die Läuse aus dem Haar geklaubt hat und einer den andern rasiert und aus demselben Trog gefressen und in demselben Dreck gelegen, dann wär’s wirklich ein Schwindel, wollten wir uns einer vor dem andern aufzäumen und nobel reden. Wenn man einen alten Kameraden trifft, so ist auch die alte Rede von damals da, und wenn ich ihn auch ein bissel heruntergeputzt hab, so war’s doch nur, weil es mich einen Moment geärgert hat. Aber er weiß und ich weiß, ganz kommen wir nie auseinander. Nur Sie möchte ich halt um Entschuldigung bitten, ich versteh’, daß Sie froh sind, wenn ich jetzt wieder die Treppen runtergeh’. Mein Wort, ich versteh’s.«


Nelly verbirgt den Ärger. Er hat genau das gesagt, was sie sich gedacht hat. »Nein, nein, wann immer Sie kommen, werde ich mich freuen, und es tut ihm nur gut, wenn er jemand hat. Kommen Sie doch einen Sonntag zum Mittagessen, wir werden uns alle immer freuen.«


Aber das Wort »Freude« hat keinen Klang, es klingt nicht ganz echt, und auch die Hand, die er fühlt, ist kühl und fremd. Dann verabschiedet er sich von Christine ohne ein Wort. Eine Sekunde nur spürt sie seine Augen, neugierig und warm, dann geht er zur Tür und Franz ihm nach.


»Ich begleite dich noch bis zur Haustür.«


Sie sind kaum draußen, so stößt Nelly heftig die Fenster auf. »Wie sie das Zimmer vollgedampft haben, es ist zum Ersticken«, sagt sie entschuldigend zu Christine und klopft die volle Aschenschale auf das Fensterblech, daß es scharf klingt und schrill wie ihre Stimme. Christine versteht ihre Bewegung. Alles, was von diesem Menschen hereingeströmt ist, will sie draußen haben mit diesem Fensteraufreißen. Wie eine Fremde sieht sie die Schwester an: wie hart sie geworden ist, wie mager, wie dürr, und war doch früher so leicht und flink. Das kommt von der Gier, jetzt krallt sie sich an diesen Mann heran wie ans Geld. Nicht einmal an einen Freund will sie etwas hergeben von ihm. Ganz muß er ihr bleiben, ganz untertänig und brav arbeiten und sparen, damit sie nur bald Frau Bezirksvorsteher wird. Zum erstenmal in ihrem Leben sieht sie die Schwester, der sie immer respektvoll untergeordnet war, mit Verächtlichkeit an und mit Haß, weil sie nicht versteht, was sie nicht verstehen will.


Glücklicherweise kommt jetzt Franz herauf. Die Stille steht zwischen ihnen schon wieder gefährlich und dick im Zimmer. Unsicher nähert er sich den beiden Frauen. Mit weichen kleinen Schritten, so wie man auf unsichern Boden tritt.


»Ein langes Standerl hast noch unten mit ihm gemacht, na, mir kann’s recht sein, wir werden wahrscheinlich noch öfter jetzt das Vergnügen haben. Wenn einer drunten ist, kommt er gern die Stiegen zu den andern herauf.« Franz steht ganz erschrocken da. »Aber Nelly … was fällt dir denn ein, du weißt ja gar nicht, was das für ein Mensch ist. Wenn er hätte kommen wollen und was haben, wäre er doch schon längst gekommen. Meine Adresse hätte er doch gewußt aus dem Amtskalender. Verstehst du denn nicht, daß er gerade deshalb nicht gekommen ist, weil es ihm schlecht geht. Er weiß doch, daß ich ihm alles geben täte, was er braucht.«


»Ja, großer Hergeber bist schon, wenn’s solche Leute gilt. Von mir aus kannst ihn ja treffen, ich verbiete es dir nicht. Aber hier im Haus hab’ ich genug, da schau her, das Loch, das er mit seiner Zigarette gebrannt hat, und da schau, auf dem Fußboden, nicht einmal die Stiefel hat er sich abgeputzt, dein Freund, da kann man dann zusammenfegen. Na, wenn’s dir Vergnügen macht, ich hindere dich nicht.«


Christine hält die Finger geballt, sie schämt sich für die Schwester, sie schämt sich für den Schwager, der da unterwürfig steht und in den harten Rücken seiner Frau hinein erklären will. Die Luft wird unerträglich. Sie steht auf. »Jetzt muß ich auch gehen, ich krieg’ sonst den Zug nicht mehr, seid nicht böse, daß ich euch so lang aufgehalten hab’.«


»Aber nein«, sagt die Schwester, »komm nur bald wieder.«


Sie sagt es, wie man einem Fremden guten Tag oder guten Abend sagt. Irgendein Fremdes steht zwischen den beiden, die eine haßt die Revolte, die andere die Bequemlichkeit bei der andern.


Während Christine die Treppen hinabsteigt, überkommt sie plötzlich ein unbestimmtes Gefühl, unten werde jener Fremde auf sie warten. Vergebens sucht sie diesen Gedanken zu entkräften, jener Mann hat sie ja nur flüchtig neugierig angeblickt und kein einziges Wort zu ihr gesprochen – und sie weiß gar nicht, ob sie eine solche Begegnung wünscht oder nicht, aber der Gedanke hakt sich mit einer merkwürdigen Festigkeit ein und dringt von Stufe zu Stufe, die sie niedersteigt, beinahe als eine Gewißheit immer tiefer in sie ein.


So ist sie eigentlich gar nicht überrascht, als unten, kaum daß sie aus dem Haustor getreten ist, der graue Havelock über die Straße weht und mit unruhigem, verschüchterten Gesicht der Fremde vor ihr steht.


»Verzeihen Sie, Fräulein, daß ich auf Sie gewartet habe«, spricht er plötzlich mit einer andern, einer gleichsam zweiten Stimme, einer schüchternen, verlegenen, zurückhaltend betroffenen, und nicht wie vordem mit jener kahlharten, energischen und aggressiven – »aber ich habe mir die ganze Zeit schon Sorge gemacht, ob Sie nicht … ob Ihre Schwester nicht auf Sie ungehalten ist … Ich meine, weil ich so grob mit dem Franzi geredet hab und weil Sie … weil Sie mir recht gegeben haben … Es tut mir ja selber leid, daß ich ihn so scharf angegangen bin … Ich weiß, es hat sich nicht gehört, wenn man in ein fremdes Haus kommt und vor fremde Leute, und, mein Wort, ich hab’s gar nicht bös gemeint, im Gegenteil … er ist ja so ein guter, braver Kerl, ein so famoser Freund, ein ganz, ganz guter Mensch, wie man ihn kaum wiederfindet … Wirklich, es hat mich gerissen, wie ich ihn so plötzlich vor mir gesehen hab’, daß ich ihm um den Hals falle und ihn abküsse oder ihm irgendwie meine Freude zeige, so wie er sie mir gezeigt hat … Aber, Sie müssen es verstehn, ich habe mich geniert … geniert vor Ihnen und Ihrer Schwester, es sieht ja so komisch aus vor andern, wenn man voreinander sentimental tut … eben weil ich mich geniert hab’, nur darum bin ich so dumm aufsässig gewesen gegen ihn … ich kann nichts dafür, ich kann wirklich nichts dafür. Aber gegen meinen Willen hat’s mich gerissen, wie ich ihn da sitzen gesehen hab’, rund und zufrieden mit seiner braven Wampen, seiner Schale Kaffee und seinem Grammophon, daß ich ihn ein bissel frotzeln und kitzeln hab’ müssen … Sie haben ihn ja nicht gekannt da draußen, der allerwütigste ist er gewesen, von früh bis spät abends hat er nichts geredet als Revolution und Zusammenschlagen und Ordnungmachen, und jetzt, wie ich ihn so brav hab’ sitzen gesehn, so schlafhäuberisch und so mollert, so zufrieden mit allem, seiner Frau, seinen Kindern, seiner Partei und seiner Gemeindehauswohnung mit den Blumen am Balkon, so gottzufrieden und kleinbürgerisch … da hat ’s mich halt packt, ihn ein bissel zu zwiefeln und zu zwicken, und Ihre Schwester hat natürlich geglaubt, ich bin ihm neidig, weil er es so gut hat … Aber ich schwöre es Ihnen, ich hab’ mich nur gefreut, daß er es so gut hat, und wenn ich ihn ein bissel angepfiffen hab’ … so war’s … so war’s gerade, weil ich solche Lust hatte, ihm auf die Schulter zu klopfen oder ihn unter den Arm zu nehmen oder auf sein Bäucherl zu klopfen, dem Franzi, und ich habe mich nur geniert vor Ihnen …«


Christine muß lächeln. Sie versteht alles, auch die Lust, den braven dicken Schwager ein bißchen gutmütig höhnisch auf sein Bäuchlein zu klopfen. »Nein«, sagt sie, um ihn zu beruhigen, »ich habe das sofort verstanden. Es war ja ein bissel peinlich, daß er so stürmisch war in seiner Freude, am liebsten hätte er Sie in Watte eingewickelt, und ich verstehe, daß man sich da geniert.«


»Das … das freut mich, daß Sie das sagen. Ihre Schwester, die hat es nicht gemerkt, oder vielleicht hat sie es richtig gemerkt, daß er sofort, wie er mich gesehen hat, irgendein anderer geworden ist … Einer, den sie gar nicht kennt und von dem sie gar nicht weiß, daß wir aus der Zeit, wo wir zusammengesperrt waren wie zwei Sträflinge in einer Zelle, Tag und Nacht und Nacht und Tag, so viel voneinander wissen, wie die eigene Frau nicht von ihm weiß, und daß, wenn ich wollte, ich ihn zu allem kriegen könnte und er mich. Das hat sie gespürt, obwohl ich es verstecken wollte und so tun, als ob ich einen Zorn auf ihn hätt’ oder einen Neid … Es ist wahr, ich stecke vielleicht voller Zorn … aber Neid hab’ ich auf niemanden, ich mein’ so einen Neid, daß ich sagen möchte, ich will’s gut haben und die andern sollen’s schlecht haben … Ich gönne jedem seine Freude, nur das natürlich … dafür kann ich nichts, dafür kann niemand, daß er sich manchmal sagt, wenn er die andern warm in der Wolle sieht … warum nicht auch ich … Sie verstehen mich recht … Ich meine nicht, warum nicht ich statt dem … nur, warum nicht ich auch.«


Christine bleibt unwillkürlich stehen. Der Mann neben ihr hat schon genau gesagt, was sie denkt, die ganze Zeit schon. Ganz klar hat er ausgesprochen, was sie nur dumpf gefühlt hat. Niemand etwas wegnehmen, nur auch sein Recht haben, sein Stück Leben, nur nicht immer draußen stehen und drunten, die Füße im Schnee, während die andern drinnen sitzen.


Er mißversteht ihr Stehenbleiben, er meint, sie habe genug von seiner Begleitung, sie wolle ihn verabschieden. Unentschlossen steht er vor ihr und macht schon eine Bewegung, zum Hut zu greifen. Sie verfolgt den ganzen Körper entlang die Geste, die aus ihm wächst, und dann mit einem rapiden Blick die schlechten, zertretenen Schuhe, die ungebügelte, an ihren Rändern zerfranste Hose, sie versteht, daß es nur die Abgetragenheit und Armut ist, die diesen energischen Mann vor ihr so unsicher macht. In dieser einen Sekunde sieht sie sich selbst vor dem Hotel und spürt das Zittern von damals in ihrer koffertragenden Hand, und sie versteht seine Unsicherheit, so als ob sie den Körper mit ihm getauscht hätte. Und sofort hat sie das Bedürfnis, ihm selbst – das heißt sich in diesem Menschen – zur Hilfe zu kommen.


»Ich muß jetzt zur Bahn«, sagt sie und merkt mit einem kleinen Stolz, wie er erschrickt. »Aber wenn Sie mich begleiten wollen …«


»Oh, bitte, mit größtem Vergnügen«, und in diesem glücklich erschreckten Aufglimmen der Stimme ist wieder etwas, was ihr wohl tut.


Er darf jetzt an ihrer Seite gehen. Aber noch immer entschuldigt er sich. »Es war doch ein Unsinn von mir, und ich ärgere mich, ich hätte es nicht tun sollen. Ich hätte nicht so vorbeireden dürfen an Ihrer Schwester und so vorbeidenken, sie ist doch seine Frau, und ich bin ihr doch ganz fremd. Es hätte sich doch gehört, daß ich zuerst nach den Kindern gefragt hätte, und ob sie gute Zeugnisse haben, und in welche Klasse sie gehen und überhaupt etwas, was sie beide angeht. Aber mich hat’s eben so gepackt, wie ich ihn gesehen hab’, da hab’ ich alles vergessen, mir war auf einmal so voll und warm, schließlich ist er doch der einzige Mensch, der von mir etwas weiß und mich versteht … nicht daß wir eigentlich zusammenpassen… Er ist ganz anders als ich, viel besser, viel anständiger … und dann ganz von woanders her, und alles, was ich will und eigentlich möchte, davon versteht er nichts … Aber doch, es hat uns eben einmal zusammengeschmissen, zwei Jahre, Tag für Tag und Nacht für Nacht, und so ganz außer der Welt wie auf einer Insel… Nichts könnte ich ihm wahrscheinlich erklären von all dem, was mich angeht, aber doch, er möchte es irgendwo besser spüren als jeder andere. Wir brauchten gar nicht zu reden miteinander, wir müßten uns nur gegenübersitzen. In dem einen Augenblick, wo ich ins Zimmer getreten bin, hab’ ich alles gewußt von ihm – mehr vielleicht, als er selber von sich weiß, und er hat wieder gewußt… und darum war er ja auch so verlegen, als ob ich ihn ertappt hätte bei etwas, und hat sich geschämt… ich weiß nicht über was, vielleicht über sein Bäucherl, oder daß er so bürgerbrav geworden ist … In dem einen Augenblick war er doch wieder der andere, und die Frau war nicht da, und Sie waren nicht da, und beide hätten wir gern euch beide weggehabt, nur um zu sprechen, die ganze Nacht hätten wir uns erzählt – ja, und natürlich, das hat Ihre Schwester gespürt, und doch, seit er weiß, daß ich da bin, und ich weiß, daß er da ist, ist uns wärmer allen beiden. Beide spüren wir, daß, wenn einen jetzt was drückt, man hätte jemand, zu dem man hingehen und sich ausplaudern kann. Denn die andern – nein, das können Sie nicht begreifen, ich kann’s auch vielleicht nicht recht erklären, aber seit ich zurück bin von diesen sechs Jahren in einer andern Welt, da ist mir, als wäre ich zurückgekommen vom Mond. Irgend etwas ist mir fremd an den Menschen, mit denen ich früher gelebt habe. Wenn ich mit den Verwandten oder der Großmutter am Tisch sitze, weiß ich nicht, was ich mit ihnen reden soll, ich verstehe nicht, woran sie sich freuen, und alles kommt mir so fremd vor, was sie tun, so sinnlos. Es ist so wie … wie wenn man von der Straße aus hinter einer Glaswand im Café Tanz sieht, und man hört nicht die Musik. Man weiß nicht, warum sie sich so drehen zu einem Takt, den man nicht hört, und so verzückte Gesichter machen. Irgend etwas an ihnen begreift man nicht und sie nicht an einem, und sie halten einen dann für neidisch oder für böse, und es ist doch nur, weil man sie nicht versteht und sie einen nicht mehr verstehen… Es ist, als redete man eine andere Sprache und wollte etwas anderes, als sie wollen… Aber verzeihen Sie, Fräulein, ich rede da so hin, und das ist ja alles Unsinn, und ich verlange gar nicht, daß Sie es verstehen können.«


Christine bleibt wieder stehen und sieht ihn an. »Sie irren«, sagt sie, »ich verstehe das ganz genau, was Sie sagen. Ich verstehe jedes Wort. Das heißt… vor einem Jahr, vor ein paar Monaten noch, hätte ich Sie vielleicht nicht verstanden, aber seit ich zurück bin von…«


Sie besinnt sich und reißt sich im letzten Augenblick zurück.


Beinahe hätte sie angefangen, alles diesem Fremden zu erzählen. So wechselt sie schnell den Ton: »Übrigens – ich muß Ihnen noch etwas sagen, ich gehe gar nicht direkt zur Bahn, ich muß noch zuvor meinen Koffer abholen in dem Hotel, wo ich heute übernachtet habe. Ich bin nämlich schon gestern abends gekommen, und nicht, wie sie dort meinten, heute früh… Meiner Schwester wollte ich es nicht sagen, sie wäre beleidigt gewesen, daß ich nicht bei ihnen übernachtet habe, aber ich falle niemand gern zur Last, ich wollte Sie nur bitten… wenn Sie meinen Schwager sprechen, so sagen Sie ihm nichts davon.«


»Aber selbstverständlich.«


Sofort spürt sie die Freude und Dankbarkeit für ihr Vertrauen. Sie holen gemeinsam den Koffer ab, er will ihn tragen, aber sie verbietet es ihm: »Nein, nicht mit ihrer Hand, Sie haben doch selbst erzählt…« Sie schweigt, denn sie merkt seine Beschämung. Ich hätte es nicht sagen sollen, denkt sie sofort, nicht zeigen, daß ich mich daran erinnere, daß es ihm vielleicht schwerfällt. So überläßt sie ihm doch den Koffer. Auf dem Bahnhof sind noch dreiviertel Stunden Zeit bis zum Personenzug. Sie setzen sich in den Wartesaal und plaudern miteinander. Über ganz sachliche Dinge sprechen sie, über ihren Schwager, über das Postamt, über die politischen Verhältnisse in Österreich, über Kleinigkeiten und Äußerlichkeiten. Sie sind ganz ohne Intimität, nur klar und einverständlich, und sie merkt mit Respekt seine scharf abgrenzende, rasch begreifende Intelligenz. Schließlich ist es so weit, sie steht auf und sagt: »Ich glaube, ich muß jetzt gehen.«


Auch er steht auf, in einer gewissen erschrockenen Art, und daß es ihm sichtlich schwerfällt, das Gespräch abzubrechen, ist ihr ergreifend und wohltuend zugleich. Er wird heute abend ganz allein sein, denkt sie und spürt gleichzeitig mit einem gewissen Stolz, daß endlich wieder unvermuteterweise ein Mensch da ist, der sich um sie bemüht, daß sie, das zwecklose Wesen, Postassistentin, angestellt um Marken zu verkaufen, Telegramme zu stempeln und Kontakte auf Anrufe einzuschalten, irgend jemand irgend etwas gilt. Sein bestürztes Gesicht weckt bei ihr ein plötzliches Mitleid und mit einem plötzlichen Erinnern sagt sie: »Übrigens, ich könnte auch noch den späteren Zug nehmen. Um zehn Uhr zwanzig geht noch ein Zug, da könnte man noch spazierengehen und hier irgendwo zu Abend essen… Das heißt, wenn Sie nichts vorhaben…«


Während sie es sagt, genießt sie die unvermutete Freude, die von den erhellten Augen dieses Menschen auf das ganze Gesicht überschwemmt und dann den vokalisch jubelnden Aufschlag: »Oh, aber nicht das geringste.«


Sie verstauen den Koffer an der Bahn und gehen noch eine Zeit planlos die Gassen und Straßen entlang. Ein blauer Nebel, dunkelt allmählich der Septemberabend heran, Laternen schweben wie kleine weiße Monde zwischen den Häusern. Sie gehen mit langsamen, schlendernden Schritten nebeneinander und sprechen ein gewichtloses und gleichsam spaziergängerisches Gespräch. Irgendwo in der Vorstadt entdecken sie ein kleines billiges Gasthaus, man kann noch im Freien sitzen, in einem Hinterhof mit kleinen künstlichen Lauben, die einen Tisch vom andern mittels einer halb durchsichtigen Efeuwand abteilen. Man ist da allein und doch nicht allein, von den andern gesehen und doch nicht belauscht; beide freuen sie sich, als sie solch eine Ecke im Gasthausgarten noch frei finden. Rings um den Hof erheben sich die andern Häuser, ein Fenster steht auf, ein Grammophon klimpert undeutlich einen Walzer, von den Nebentischen hört man Lachen oder sieht das stille friedliche Glucksen behäbig einsamer Trinker, und auf jedem Tisch steht, wie eine gläserne Blüte, ein Windlicht, um das neugierig und schwarz kleine Insekten brummen. Angenehm kühl ist es. Er legt den Hut nieder, und da er ihr gerade gegenüber sitzt, sieht sie, abgehellt von der ruhigen Kerze, ganz deutlich sein Gesicht: tirolerisch hart und holzschnitzerisch die Knochen herausgemeißelt, an den Augenwinkeln und um den Mund kleine Strichel und Falten, ein straffes, strenges und doch irgendwie abgenütztes Gesicht. Aber hinter diesem Gesicht steht gewissermaßen ein zweites, wie hinter seiner Stimme im Zorn eine zweite ist, und dieses zweite beginnt, wenn er lächelt, wenn diese Falten sich spannen und das Stoßhafte in den Augen einer Helligkeit weicht. Dann kommt etwas knabenhaft Weiches hervor, beinahe ein Kindergesicht, zutraulich, zart und unwillkürlich muß sie sich erinnern, so hat ihn der Schwager gekannt, so muß er damals gewesen sein. Diese beiden Gesichter wechseln sonderbar im Gespräch durcheinander. Sofort wenn er die Brauen anspannt oder den Mund bitter zusammenzieht, fallen plötzlich Schatten herein, und es ist wie wenn eine Wolke plötzlich über das Grün einer Wiese hingeht und sie verdunkelt. Sonderbar, denkt sie, wie kann es möglich sein, als ob zwei Menschen in diesem Menschen wären. Dann erinnert sie sich an ihre eigene Verwandlung und an den vergessenen Spiegel, der irgendwo jetzt für andere Menschen in einem meilenweit entfernten Zimmer steht.


Der Kellner bringt ihnen die bestellten einfachen Speisen und in zwei Gläsern hellen Gumpoldskirchner Wein. Er nimmt sein Glas, glänzt ihr mit dem Blick entgegen und hebt es hoch, um mit ihr anzustoßen. Aber wie er sich aufrichtet, um es zu heben, gibt es einen kleinen, trocken klappernden Laut. Ein loser Knopf hat sich abgelöst von seinem Rock, kollert und kreiselt boshaft auf dem Tisch herum, ehe er hinabfällt. Der kleine Zwischenfall verdunkelt sofort sein Gesicht. Er bemüht sich, den Knopf zu haschen, ihn zu verstecken, aber sobald er merkt, daß ihr der kleine Unfall nicht entgangen ist, wird er verlegen, düster und verwirrt. Christine versucht, nicht hinzusehen. Das winzige Zeichen ergreift sie. Niemand denkt und sorgt für ihn! Aus dem Instinkt heraus merkt sie sofort, keine Frau kümmert sich um ihn. Schon früher hat sie mit geschultem Blick bemerkt, daß sein Hut unausgebürstet ist und dicke Krusten Staub das Band belagern, die bauchig zerknitterte, ungebügelte Hose ist ihr nicht entgangen, und sie versteht aus eigenem Erlebnis seine Verwirrung.


»Heben Sie ihn nur auf«, sagt sie. »Ich habe in meiner Tasche immer Nadel und Zwirn, unsereins muß sich ja alles selber machen, ich nähe ihn Ihnen hier gleich an.«


»Aber nein«, sagt er ganz erschrocken. Doch immerhin, er gehorcht und bückt sich hinab, den entlaufenen Verräter aus dem Kies zu holen, dann aber hält er ihn in der Hand versteckt, ungewiß und voll Widerstand.


»Nein, nein«, entschuldigt er sich, »das lasse ich schon zu Hause machen.« Und als sie noch einmal darauf besteht, wird er plötzlich heftig. »Nein, ich will nicht! Ich will nicht!« und krampfhaft macht er die beiden andern Knöpfe des Rockes zu. Christine drängt nicht mehr. Sie merkt, er schämt sich. Es ist etwas zerstört in ihrem guten Beisammensein, und plötzlich spürt sie an seinen gekniffenen Lippen: jetzt wird er etwas Böses sagen. Er wird irgendwie ausfallend werden, weil er sich schämt.


Und wirklich, es kommt. Er duckt sich gewissermaßen in sich zusammen und sieht sie herausfordernd an. »Ich weiß, ich bin nicht ordentlich angezogen, aber ich habe ja nicht gewußt, daß mich jemand anschauen wird. Für den Besuch im Versorgungshaus war es gerade gut genug. Wenn ich es gewußt hätte, hätte ich mich besser angezogen, oder übrigens – es ist gar nicht wahr. Die Wahrheit zu sagen, ich hab’ kein Geld, um mich anständig anzuziehen, ich hab’s nun einmal nicht, oder wenigstens nicht auf einmal. Einmal kauf ich mir neue Schuhe, inzwischen ist der Hut hin, einmal einen Hut, dann ist der Rock abgeschunden, und einmal das und einmal das, aber ich komme nicht nach. Ob es meine Schuld ist oder nicht, das ist mir gleichgiltig. Nehmen Sie es also zur Kenntnis, daß ich schlecht angezogen bin.«


Christine regt die Lippe, aber ehe sie noch sprechen kann, fährt er schon wieder drein. »Bitte, keine Tröstungen, ich weiß schon alles im voraus, Sie werden mir sagen, Armut ist keine Schande. Aber das ist nicht wahr, wenn man’s nicht verstecken kann, ist es doch eine Schand’, es hilft nichts, man schämt sich ja doch, so wie man sich schämt, wenn man einen Schmutzfleck macht auf einen fremden Tisch. Ist es verdient oder unverdient, redlich oder lumpig, Armut stinkt. Ja, sie stinkt, stinkt so wie ein Zimmer stinkt, das ebenerdig in einen Lichthof geht, und die Kleider, die man nicht oft genug wechselt. Man riecht es selber, als ob man selber Jauche wäre. Das läßt sich nicht abwischen. Das hilft so wenig, wenn man sich einen neuen Hut aufsetzt, wie wenn sich einer den Mund ausspült, der vom Magen her aus dem Munde riecht. Das sitzt um einen und hängt an einem und jeder spürt’s, der einen nur anstreift oder einen ansieht. Gleich hat’s Ihre Schwester gespürt, ich kenne diese zerfransenden Blicke der Frauen, wenn sie einem auf die zerfranste Manschette schauen, ich weiß, es ist peinlich für die andern, aber zum Teufel, es ist noch peinlicher für einen selbst. Da kann man nicht heraus, da kann man nicht darüber hinweg, höchstens daß man sich besauft, und hier«, er greift nach dem Glas und trinkt es demonstrativ schnell und wild – »hier liegt das große soziale Problem, warum die sogenannten niedern Klassen verhältnismäßig mehr dem Alkohol zusprechen. Das ganze Problem, über das sich dann die Gräfinnen, Patronessen in Wohltätigkeitsvereinen beim Tee den Kopf zerbrechen. Die paar Minuten, die paar Stunden spürt man’s nicht, daß man den andern lästig ist und sich selbst. Ich weiß, daß es keine sonderliche Ehre ist, mit jemand in einem solchen Aufzug gesehen zu werden, aber mir selbst ist es auch kein Vergnügen. Wenn Sie sich genieren, so sagen Sie es bitte, aber keine Höflichkeit und kein Mitleid!«


Er stößt den Sessel zurück, in der Hand zuckt die Drohung, aufzustehen. Christine legt ihm rasch die Hand auf den Arm: »Nicht so laut! Was geht das die Leute da an? Rücken Sie näher her.«


Er gehorcht. Das Herausfordernde schlägt sofort wieder um in Ängstlichkeit. Christine bemüht sich, ihr Mitleid zu verbergen. »Wozu quälen Sie sich, und warum wollen Sie mich quälen? Es ist doch alles Unsinn. Halten Sie mich wirklich für eine ›Dame‹, wie man so sagt? Wenn ich es wäre, so würde ich kein Wort verstehen von dem, was Sie jetzt gesagt haben, und Sie für überreizt, ungerecht und gehässig halten. Aber ich verstehe es und will Ihnen erzählen warum. Rücken Sie nur näher, die Leute brauchen es nebenan nicht zu hören.«


Sie erzählt ihm ihre Reise, alles erzählt sie: die Erbitterung, die Beschämung, die Begeisterung, die Verwandlung; es ist ihr eine Lust, zum erstenmal von diesem Rausch des Reichtums sprechen zu dürfen, und wieder eine andere, eine böse und selbstquälerische Lust, zu schildern, wie beim Weggehen der Portier sie anhielt wie eine Diebin, nur weil sie selbst ihren Koffer trug und das schlechte, schäbige Kleid. Er sitzt still und stumm, nur seine Nüstern spannen sich auf und zittern. Sie spürt, er atmet alles in sich hinein. Er versteht sie, so wie sie ihn versteht mit der Solidarität des Zorns und der Zurückgesetztheit. Und da sie den Damm aufgeschlossen, kann sie ihn nicht mehr schließen. Sie erzählt mehr als sie eigentlich will von sich, der Haß gegen das Dorf, die Wut wegen der vergeudeten Jahre, sie strömt stark und bildhaft heraus. Niemand hat sie sich jemals so sehr aufgeschlossen.


Er sitzt stumm, ohne sie anzusehen. Er beugt sich immer tiefer in sich hinein. »Verzeihen Sie«, sagt er schließlich gleichsam von unten her, »daß ich Sie so töricht angefahren habe. Ich könnte mich schlagen, daß ich immer gleich so tölpisch werde, so zornig, so aggressiv, als ob der erste beste, dem ich begegne, Schuld hätte an allem und allem. Und als ob ich der einzige wäre. Ich weiß doch, daß ich nur einer bin aus Legionen und Millionen. Jeden Morgen, wenn ich in meinen Dienst gehe, sehe ich die andern, wie sie aus den Haustoren treten, unausgeschlafen, unfreudig, mit ausgelöschten Gesichtern, wie sie zu einer Arbeit gehen, die sie nicht wollen und lieben und die sie nichts angeht, und ich sehe sie wieder abends in den Straßenbahnen, wie sie zurückkommen, Blei in den Blicken und Blei in den Füßen, alle sinnlos abgemüdet, oder um einen Sinn, den sie nicht verstehen. Nur, sie wissen es alle nicht, glauben und spüren es alle nicht so stark wie ich, diese grauenhafte Sinnlosigkeit. Für sie heißt Vorwärtskommen schon zehn Schilling mehr im Monat haben oder einen andern Titel bekommen, eine andere Hundemarke, oder sie gehen abends in ihre Versammlungen und lassen sich vorreden, die kapitalistische Welt stünde vor ihrem Untergang, der sozialistische Gedanke würde die Welt erobern, nur ein Jahrzehnt noch, zwei Jahrzehnte, und man werde sie schon unterkriegen, aber ich bin nicht so geduldig. Ich kann nicht warten, ein Jahrzehnt, zwei Jahrzehnte. Ich bin dreißig Jahre, davon sind elf vertan. Ich bin dreißig Jahre und weiß noch nicht, wer ich bin, und weiß noch nicht, wozu die Welt da ist, habe nichts gesehen als Dreck und Blut und Schweiß. Ich habe nichts getan als gewartet, gewartet und wieder gewartet. Ich kann es nicht mehr ertragen, dieses Untensein, dieses Außensein, es macht mich rasend, es macht mich krank, und ich spüre, die Zeit läuft mir weg unter den zerrissenen Schuhen, wenn man immer nur Handlanger ist von andern und dabei weiß, man ist nicht weniger als der Architekt, der einen kommandiert, man versteht ebensoviel von allem wie die andern, die oben sitzen, und hat dieselben Lungen, das gleiche Blut und ist nur zu spät gekommen; man ist vom Wagen gefallen und holt ihn nicht mehr ein, soviel man auch rennt und rennt. Man weiß, man könnte alles – ich habe einiges gelernt, bin vielleicht nicht dumm, war der Erste im Gymnasium, in der Klosterschule, habe ganz gut Musik gemacht, nebenbei bei einem Pater aus der Auvergne französisch gelernt. Aber ich habe kein Klavier und kann nicht darauf spielen und verlern’s, ich habe niemand, mit dem ich französisch sprechen kann, und verlern’s. Ich habe anständig auf der Technik gelernt in den zwei Jahren, während die andern in Burschenschaften sich herumgeschlagen haben, und weitergearbeitet in der Gefangenschaft im sibirischen Hundekotter, und doch, ich komme nicht vorwärts. Ein Jahr brauchte ich, ein freies Jahr, so wie man einen Anlauf braucht, um einen Sprung zu tun … Ein Jahr und ich wäre droben, ich weiß nicht wo, ich weiß nicht wie, nur das weiß ich, heute könnte ich noch die Zähne zusammenbeißen und alle Muskeln straffen, zehn Stunden lernen, vierzehn Stunden, – aber noch paar solche Jahre, und ich bin wie die andern, ich werde müde sein und zufrieden, werde mich abfinden und sagen: erledigt! Vorbei! Aber heute kann ich es noch nicht, heute hasse ich sie alle, diese Zufriedenen, sie reizen mich auf, daß ich manchmal gewaltsam die Faust in der Tasche ballen muß, um ihnen nicht in ihre Behaglichkeit hineinzuschlagen. Da sehen Sie, die drei nebenan. Die ganze Zeit, während ich mit Ihnen spreche, ärgern sie mich, ich weiß nicht warum, vielleicht aus Neid, weil sie so blöd lustig sind, so bürgerlich vergnügt. Sehen Sie sie an, das sind sie, Kommis wahrscheinlich der eine, in einem Kurzwarengeschäft, den ganzen Tag holt der die Ballen vom Laden und bückt sich und schwätzt ›Neueste Mode, der Meter 1.80, echt englische Ware, haltbar, dauerhaft‹, und dann schmeißt er den Ballen wieder hinauf und holt einen neuen und wieder einen andern und dann ein paar Litzen und Fransen, und geht abends heim und glaubt, er hat gelebt; und die andern, vielleicht ist der eine beim Zoll oder bei der Postsparkasse, den ganzen Tag hämmert er Zahlen, Zahlen, hunderttausend, Millionen Zahlen, Zinsen, Zinseszinsen, Debet und Kredit und weiß nicht, wem es gehört, wer zahlt und bezahlt, wer schuldet und warum, wer besitzt und warum, nichts weiß er und geht abends nach Hause und glaubt, daß er gelebt; und der dritte, wo ist er, ich weiß nicht, bei einem Magistrat oder irgendwo, aber an seinem Hemd sehe ich es, auch er schreibt den ganzen Tag Papier, Papier, Papier an demselben Holztisch mit derselben lebendigen Hand. Aber heute, weil es Sonntag ist, haben sie sich Pomade ins Haar und Vergnügen auf die Gesichter geschmiert. Sie waren beim Fußball oder beim Rennen oder mit einem Mädel und jetzt erzählen sie sich’s, und einer schmalzt sich vor dem andern groß, wie klug, wie geschickt, wie tüchtig er ist – da hören Sie nur, wie sie lachen, breit, bequem, selbstzufrieden, diese Maschinen auf Sonntagsurlaub, diese ausgeborgten Arbeitskadaver, hören Sie nur, wie sie lachen, heiß und fett, die armen Hunde, weil man sie einmal von der Kette losgelassen hat, glauben sie, ihnen gehört das Haus und die Welt; ins Gesicht könnte ich ihnen schlagen.«


Er atmet schwer. »Ich weiß, daß das Unsinn ist, immer wird der Falsche geschlagen, immer geht es auf die Unrechten. Ich weiß, sie sind arme Hunde und gar nicht dumm, sie tun das Klügste: sie finden sich ab. Sie lassen sich absterben, dann spürt man nichts mehr, aber mich Dummkopf reißt’s immer, jedem dieser kleinen Zufriedenen eins überzuziehen, ihn herauszuhetzen aus sich selbst – vielleicht nur, damit man selber innerhalb einer Meute ist und nicht so allein mit sich selbst. Ich weiß, es ist dumm, ich weiß, ich schneide mir damit ins eigene Fleisch, aber ich kann nicht anders, von diesen elf giftigen Jahren bin ich so vollgequollen von Haß, daß er mir die Kehle abdrückt bis an die Lippen. Gleich stößt es herauf bis an den Mund, und überall wo ich bin, laufe ich rasch nach Hause oder hinüber in die Volksbibliothek. Aber es freut mich nicht mehr, zu lesen. Die Romane, die sie heute schreiben, gehen mich nichts an. Die kleinen Geschichten, wie Hans die Grete kriegt und die Grete den Hans und wie die Paula den Johann betrügt und Johann die Paula, das Kotzen kommt mich an – und die Bücher vom Krieg – die braucht mir niemand zu erzählen, und auch zum Lernen habe ich nicht die rechte Kraft, seit ich weiß, es hilft nichts, und man kommt nicht weiter, wenn man nicht die akademische Hundemarke kriegt, und für die habe ich kein Geld, und weil ich kein Geld habe, komm ich nicht zu Geld, und so wächst einem die Wut im Leib, und man sperrt sich selber aus wie ein bissiges Tier. Nichts macht einen wütender, als wenn man wehrlos ist gegen irgend etwas, das man nicht fassen kann, gegen das, was von den Menschen kommt und doch nicht von einem einzelnen, dem man an die Gurgel fahren kann. Der Franzl, der weiß davon. Ich brauchte ihn nur zu erinnern, wie wir manchmal nachts in unserer Baracke am Boden gelegen sind und geheult haben und die Finger in die Erde gekrallt vor Wut, wie wir aus blöder Bosheit die Flaschen zerschlagen haben und wie wir überlegt haben, ob wir nicht mit der Hacke den armen Nikolai umlegen sollten, den braven Wachsoldaten, der eigentlich unser Freund war, gutmütig, still, aber nur weil er der einzige Faßbare war von ihnen allen, die uns da eingesperrt hielten, nur darum. Ja, nicht wahr, jetzt begreifen Sie auch, warum es mich so aufgezogen hat, wie ich den Franzl gesehen habe. Ich konnte mich gar nicht mehr erinnern, daß irgendeiner da ist, der mich begreifen könnte, aber gleich habe ich gespürt, er versteht mich – und dann Sie.«


Sie blickt auf und fühlt sich von seinem Blick überschwemmt. Und gleich schämt er sich wieder.


»Verzeihen Sie«, sagt er wieder mit der andern, der weichen, der ängstlichen, der kleinen Stimme, die so merkwürdig mit der harten und herausfordernden seines Zorns kontrastiert, »verzeihen Sie, ich sollte nicht so viel von mir sprechen, ich weiß, es ist ungezogen. Aber vielleicht den ganzen Monat habe ich mit allen zusammen nicht so viel gesprochen als mit Ihnen.«


Christine sieht vor sich in das Windlicht hinein. Es zittert leicht, ein kühler Wind läßt die Flamme erbeben und ihr blauer, herzförmiger Kern lodert plötzlich schmal nach oben. Dann antwortet sie: »Ich auch nicht.«


Sie sprechen eine Zeit nicht, das unvermutet schmerzhaft gespannte Gespräch hat beide erschöpft. Bei den Nachbartischen löschen schon die Lichter, die Hoffenster sind dunkel geworden, das Grammophon schweigt. Auffällig dringlich kommt der Kellner vorbei. Er räumt die Tische nebenan ab, und jetzt erinnert sie sich der Zeit.


»Ich glaube, ich muß jetzt gehen«, mahnt sie ihn, »um zehn Uhr zwanzig geht mein letzter Zug, wieviel Uhr ist es denn?«


Er sieht sie böse an, aber nur einen Augenblick, dann beginnt er zu lächeln.


»Sehen Sie, ich bessere mich schon«, sagt er beinahe heiter. »Wenn Sie mich das vor einer Stunde gefragt hätten, wäre der bissige Köter in mir gleich auf Sie losgefahren, aber jetzt kann ich es Ihnen schon wie einem Kameraden, so wie dem Franzi sagen: Ich habe meine Uhr versetzt. Nicht einmal so sehr wegen dem Geld, es ist nämlich eine schöne Uhr, Gold mit Brillanten. Mein Vater hat sie einmal gekriegt, wie er auf einer Jagd, wo der Erzherzog dabei war, die ganzen Fressalien zur höchsten Zufriedenheit besorgte und selbst die Küche geleitet hat, und Sie werden verstehen – Sie verstehen ja alles –, wenn man so auf einem Bau eine goldene Uhr mit Brillanten herauszieht, das sieht aus wie ein Neger im Frack. Und außerdem, dort wo ich wohne, wäre es nicht geheuer mit einer solchen Uhr, aber verkaufen hab’ ich sie nicht wollen, es ist so gewissermaßen noch eine eiserne Ration. So habe ich sie halt versetzt.«


Er lächelt sie an, wie wenn ihm eine große Leistung gelungen sei. »Sehen Sie – das habe ich Ihnen doch jetzt ganz ruhig erzählt, ich mache doch schon Fortschritte.«


Die Luft zwischen ihnen steht wieder klar wie nach einem Regen. Die krampfige Spannung ist gewichen, eine gute Erschöpfung kommt. Sie beobachten sich nicht mehr vorsichtig und ängstlich, sondern vertrauen einander. Etwas wie Freundschaft und Beruhigung ist plötzlich da. Sie gehen die Straße dem Bahnhof zu, und es ist gut, jetzt zu gehen, das Dunkel hat den Häusern die neugierigen schwarzen Augen zugestrichen und die ausgebrannten Steine atmen wieder Kühle. Aber je mehr sie sich dem Ziele nähern, desto nervöser und hastiger werden ihre Schritte: über dem weichen und eng geflochtenen Gewebe ihres Zusammenseins hängt schon das blitzende Schwert des Abschieds.


Sie kauft ihre Fahrkarte. Als sie sich umwendet, sieht sie sein Gesicht. Es ist plötzlich wieder ganz anders, von der Stirn nieder fallen Schatten über die Augen, das dankbare Leuchten, das sie so beglückt gespürt hat, ist erloschen, und eben zieht er – er hat sich noch unbeachtet gemeint, den Havelock mit einer Bewegung zusammen, als ob ihn friere. Mitleid ergreift sie: »Ich komme bald wieder herein«, sagt sie, »wahrscheinlich schon nächsten Sonntag. Und wenn Sie dann Zeit haben …«


»Ich habe immer Zeit. Und es ist so ziemlich das einzige, was ich habe, und das im Überfluß, aber ich möchte nicht … Ich möchte nicht …« Er stockt.


»Was möchten Sie nicht?«


»Ich möchte nicht … ich meine nur … nicht daß Sie sich meinetwegen inkommodieren … Sie waren so gut zu mir … ich weiß, es ist kein Vergnügen, mit mir zu sein … Aber vielleicht schon im Zuge oder morgen sagen Sie sich, wozu sich da anhalten lassen von fremdem Gejammer, ich weiß, mir geht es selbst so – höre zu und es ergreift mich, wenn jemand mir was Schweres von seinem Leben erzählt; aber dann, wenn er weg ist, sage ich mir: hole ihn der Teufel, was packt er mir noch seine Sorgen auf, wir haben genug jeder an uns selbst … Also nicht, daß Sie sich zwingen oder sich denken, dem muß man helfen, ich mach’ es schon allein mit mir aus …«


Christine sieht weg. Sie kann es nicht vertragen, ihn anzusehen, wenn er so gegen sich selbst wütet. Es quält sie. Aber er mißversteht ihre Bewegung. Er meint, sie sei beleidigt, und sofort kommt klein und schüchtern wieder die zweite, die Knabenstimme der zornigen und bösen nach. »Ich meine natürlich … es würde mich sehr freuen … aber ich dachte nur für den Fall … ich wollte damit nur sagen …«


Er stammen ganz unsicher und versucht sie anzusehen mit einem kindlich bestürzten Gesicht, das um Verzeihung bittet. Und sie begreift sein Stammern, sie versteht, daß dieser harte, leidenschaftliche von Scham verbogene Mensch sie bitten will, wiederzukommen, und daß er doch nicht den Mut hat.


Etwas wächst jetzt in ihr mächtig auf, mütterliche Wärme und Mitleid zugleich, ein Bedürfnis, diesen so wild Demütigen zu trösten, seinen harten Stolz zu wölben mit irgendeiner Geste, mit irgendeinem Wort. Am liebsten würde sie ihm über die Stirn streichen oder sagen: »Sie dummer Bub«, aber sie fürchtet sich, weil er so verletzlich ist. Aus Verlegenheit sagt sie: »Es tut mir leid – aber ich glaube, ich muß jetzt wirklich schon gehen.«


»Tut es Ihnen … tut es Ihnen wirklich leid?« Trotzig fragt er sie und sieht sie verlangend an, und dabei ist in seinem hilflosen Dastehn schon die Verzweiflung des Alleinseins, er steht schon da, sie fühlt es voraus, allein in der Halle, verzweifelt nachsehend dem Zug, der sie fortträgt, allein in der Stadt, allein in der Welt, und sie spürt, wie er mit dem ganzen Gewicht seines Gefühls an ihr hängt. Erschüttert spürt die Frau, spürt der Mensch in ihr sich zum erstenmal wieder begehrt und tiefer begehrt als von irgend jemand bisher, und herrlich fühlt sie sich bestätigt in ihrem Sein und Sinn. Wundervoll ist das, endlich sich so geliebt zu fühlen, und plötzlich bricht in ihr das Verlangen auf, die Lust zu entgelten.


Eine Entscheidung geschieht in ihr, blitzschnell und dem Gedanken voraus. Ein Ruck ist es, ein Riß. Sie wendet sich um, geht auf ihn zu und sagt, scheinbar überlegend (aber dies war schon unbewußt beschlossen): »Eigentlich … ich könnte ja noch mit Ihnen bleiben und dann morgen mit dem Frühzug fahren um fünf Uhr dreißig, da komme ich auch noch in meinen dummen Dienst zurecht.«


Er starrt sie an. Nie hat sie geahnt, daß Augen so plötzlich aufleuchten können. Es ist, wie wenn ein Zündholz aufflammt in einem dunklen Zimmer, so ist jetzt alles licht, alles lebt in seinen Zügen. Er hat verstanden, alles verstanden mit der hellsichtigen Intuition des Gefühls. Plötzlich hat er Mut und faßt ihren Arm. »Ja«, sagt er, glänzt er, »ja, bleiben Sie, bleiben Sie …«


Sie wehrt ihm nicht, daß er ihren Arm nimmt und sie wegzieht. Er ist warm und stark, dieser Arm, er bebt, er zittert vor Freude, und unwillkürlich geht dieses Beben in sie hinüber. Sie fragt nicht, wohin sie gehen, wozu fragen, es ist jetzt alles einerlei, sie hat sich entschieden. Sie hat ihren Willen weggegeben, freiwillig, und genießt dieses Hingegebensein. Alles ist entspannt in ihr und gleichsam ausgeschaltet, der Wille, das Denken, sie überlegt nicht, ob sie etwa diesen Mann liebt, den sie kaum kennt, ob sie ihn männlich will, nur das Losgelöstsein des Willens, das Unverantwortliche des Gefühls genießt sie, die Lust des Gelöstseins.


Sie kümmert sich nicht, was nun geschehen wird, nur einen Arm spürt sie, der sie führt, und überläßt sich der Führung, willenlos, wie Holz, das im Wasser treibt und an den rasenden Geschwindigkeiten die schwindelnde Lust des Stürzens spürt. Manchmal schließt sie die Augen, um es völliger zu empfinden, dieses Geführtwerden, dieses Gewolltsein.


Dann kommt noch einmal ein gespannter Augenblick. Er bleibt stehen und wird klein. »Ich hätte Sie so gern … so gern gebeten, zu mir zu kommen … aber … das geht nicht … ich wohne nicht allein … man muß durch ein anderes Zimmer gehn … wir können ja woanders … in irgendein Hotel … nicht in dem Ihren, wo Sie gestern … wir können ja …«


»Ja«, sagt sie, »ja«, und weiß nicht wozu. Das Wort Hotel schafft ihr kein Grauen, es gibt ihr neuen Glanz. Wie durch eine Wolke sieht sie das spiegelnde Zimmer, die funkelnden Möbel, die brausende Stille der Nacht und den mächtigen Atem des Engadins auftauchen.


»Ja«, sagt sie, »ja«, aus Träumen gewölbter, gehorsamer Liebe.


Sie gehen wieder weiter durch immer engere Straßen. Er scheint nicht sehr sicher und prüft ängstlich die Häuser. Endlich sieht er eines in einem kleinen versteckten Licht träumen, mit einer erleuchteten Aufschrift. Unmerklich lenkt er sie hin, sie wehrt sich nicht. Und dann gehen sie durch die Tür wie in einen finstern Schacht.


Sie treten in einen Korridor, der wahrscheinlich mit Absicht nur mit einer einzigen mattkerzigen Glühbirne beleuchtet ist. Ein Portier, schmutzig und verschmiert, kommt in Hemdärmeln hinter der Glastür heraus. Die beiden Männer flüstern miteinander, als machten sie verbotene Geschäfte. Etwas klirrt leise zwischen ihren Händen, Geld oder Schlüssel. Christine steht unterdessen allein im halbdunklen Korridor und starrt die grindige Wand an, unsäglich enttäuschungsvoll über diese erbärmliche Höhle. Sie will nicht daran denken, aber wie ein Zwang kommt die Erinnerung an den Eingang jenes andern Hotels (die Assoziation des Wortes reißt die Erinnerung her), die spiegelnden Scheiben, gekühltes, flutendes Licht, Reichtum und Bequemlichkeit.


»Nummer neun«, trompetet der Portier laut und fügt ebenso stark bei, »im ersten Stock«, als ob er will, daß es jemand bis hinauf hört. Ferdinand tritt zu ihr und nimmt ihren Arm. Sie sieht ihn flehend an: »Kann man denn nicht …« Sie weiß nicht, was sie sagen will. Aber er sieht in ihren Augen das Grauen und den Willen zur Flucht. »Nein, sie sind alle so … Ich weiß eben kein anderes … ich kenne es ja nicht.« Dann nimmt er ihren Arm und stützt sie die Treppe hinauf. Es ist nötig, denn ihr ist, als habe ein Messer ihre Kniekehlen durchschnitten und jede Sehne im Leib gelähmt.


Eine Zimmertür steht offen. Das Dienstmädchen tritt heraus, gleichfalls schmutzig, mit übernächtigtem Gesicht: »Gleich bitte, ich hole nur rasch frische Handtücher.« Sie treten inzwischen ein, ziehen rasch die Tür hinter sich zu. Grauenhaft eng ist dies einfenstrige Rechteck, ein einziger Sessel steht darin, ein Kleiderhaken, ein Waschtisch, sonst nur niederträchtig absichtsvoll, als wisse es, daß es hier das einzige wichtige Möbelstück ist, ein breites aufgeschlagenes Bett. Unsäglich schamlos in seiner Zweckhaftigkeit steht es da und füllt das enge Geviert. Man kann ihm nicht ausweichen, man kann nicht daran vorbeigehen, man kann es nicht übersehen. Die Luft ist stockig und säuerlich von kaltem Zigarettenrauch, schlechter Seife und irgend etwas anderem, das falsch und säuerlich riecht. Unwillkürlich preßt sie den Mund zu, um nichts davon einzuatmen. Dann kommt die Angst über sie, ohnmächtig zu werden vor Widerwillen und Ekel. Hastig macht sie einen Schritt auf das Fenster zu, reißt den Flügel auf und atmet, wie aus einer vergasten Mine gerettet, die kühl einströmende, neue und unverbrauchte Luft.


Es klopft leise. Sie schrickt zusammen, aber es ist nur das Stubenmädchen, das die frischen Handtücher hereinbringt und auf den Waschtisch legt. Wie sie merkt, daß die fremde Frau das Fenster im beleuchteten Zimmer geöffnet hat, äußert sie sich mit einer gewissen Ängstlichkeit: »Bitte dann die Vorhänge herabzulassen.« Dann geht sie höflich hinaus.


Christine bleibt am Fenster stehen, dieses »dann« hat sie getroffen, dazu kommt man ja in solche Seitengassenhäuser, in solche stinkenden Höhlen; nur dazu. Vielleicht – sie erschrickt – könnte er glauben, sie sei auch nur deswegen gekommen, nur deswegen.


Obwohl er ihr Gesicht nicht sieht, das beharrlich verbissen der Straße zugewandt ist, sieht er doch an der krampfig vorgebeugten Silhouette ihrer Gestalt, wie sehr ihre Schultern beben, und er versteht ihr Grauen. Zart tritt er an sie heran, er hat Angst, sie mit einem Wort zu verletzen, streift ihr mit der Hand zart die Schultern herab, immer tiefer hinab, bis er die Finger findet, die kalt sind und zittern. Sie spürt, daß er sie beruhigen will. »Verzeihen Sie mir«, sagt sie, ohne sich umzuwenden, »aber mir ist plötzlich ganz schwindlig geworden. Es wird gleich besser werden. Nur noch ein bißchen frische Luft … es ist nur, weil …«


Sie will eigentlich unwillkürlich sagen: weil es das erstemal ist, daß ich so ein Haus, so ein Zimmer sehe. Aber sie beißt die Lippen zusammen, was braucht er es zu wissen. Sie wendet sich plötzlich um, schließt das Fenster und befiehlt: »Machen Sie dunkel.«


Er dreht den Kontakt, mit einem Sprung tritt Nacht herein und löscht die Konturen aus. Das Schrecklichste ist fort, das Bett wartet nicht mehr so frech, sondern glänzt nur weiß und ungewiß im aufgelösten Raum. Aber das Grauen bleibt. Jetzt hört sie mit einem Mal in der Stille kleine Geräusche, Knacken, Seufzen, Lachen, Knirschen, den Hauch nackter Schritte und das Rieseln von Wasser von irgendwoher. Sie spürt, daß das Haus voll von fremdem und unzüchtigem Geschehen ist, einzig zweckhaft der Paarung bestimmt. Wie einen feinen Frost, Schicht um Schicht fühlt sie dieses Grauen in sich eindringen. Erst schauert es nur über die Haut, dann greift es schon an die Gelenke und macht sie starr, jetzt muß es schon nahe sein am Hirn, am Herzen, denn sie spürt, sie kann nichts mehr denken, nichts mehr fühlen, alles ist gleichgiltig, sinnlos und fremd, und auch dieser fremde Atem des fremden Mannes, der hier ihr ganz nahe ist. Glücklicherweise ist er zart und bedrängt sie nicht, er zieht sie nur nieder, und sie setzen sich beide angezogen nebeneinander auf den Bettrand, ohne zu sprechen, nur seine Hand streift immer wieder über den Stoff des Ärmels und über die nackte Hand. Er wartet geduldig, ob das Grauen nicht von ihr weichen will, das Entsetzen nicht auftauen, das sie umfrostet hält. Und diese Demut, diese Unterwürfigkeit ergreift sie. Und als er sie schließlich umfaßt, wehrt sie sich nicht.


Auch seine heiße und leidenschaftliche Umarmung kann ihr Grauen nicht ganz zerbrechen. Der Frost sitzt schon zu tief, er vermag ihn nicht zu erreichen. Etwas in ihr löst sich nicht, etwas ist nicht ganz trunken, sondern widersteht. Und als er ihr die Kleider nimmt und sie seinen Körper fühlt, nackt, stark, warm und glühend, spürt sie zugleich das fremd feuchte Laken wie einen nassen Schwamm. Überströmt von seiner Zärtlichkeit, fühlt sie sich gleichzeitig beschmutzt von der Ärmlichkeit und Erbärmlichkeit, innerhalb der es geschieht. Ihre Nerven beben, und während er sie an sich zieht, spürt sie, daß sie gleichzeitig weg will, nicht von ihm, nicht von diesem brennenden Menschen, sondern nur weg aus diesem Haus, wo sich die Menschen gegen Geld wie Tiere paaren – rasch, rasch, der Nächste, der Nächste –, wo sich Arme verkaufen wie eine Briefmarke oder eine Zeitung, die man wegwirft, an den nächsten Gast. Die Luft erdrückt ihr die Lungen, diese dicke, ölige, feuchte, eingesperrte Luft, dieser Dunst von fremder Haut, von fremder Hitze, von fremder Lust. Und sie schämt sich, nicht daß sie sich hingibt, sondern daß dies Festliche hier geschieht, wo alles widerlich und schmachvoll ist. Immer tiefer spannen sich ihre Nerven unter diesem Widerstand. Und plötzlich bricht es aus ihr, ein Stöhnen, ein niedergepreßtes Weinen der Enttäuschung, der Erbitterung, das in kleinen zitternden Stößen ihren nackten Körper durchreißt. Ferdinand liegt neben ihr, und dieses Schluchzen stößt bis an seinen Körper heran. Er spürt es wie einen Vorwurf. Um sie zu beruhigen, streichelt er immer wieder mit der Hand über ihre Schultern herab, er wagt kein Wort. Sie merkt, wie sehr er verzweifelt ist. »Sorg dich nicht um mich«, sagt sie, »es ist ein dummer Krampf. Sorg dich nicht, es geht gleich wieder vorbei, es ist nur weil …« Sie hält wieder inne und atmet nur. »Aber laß, du kannst ja nichts dafür.«


Er schweigt, auch er versteht alles. Er begreift ihre Enttäuschung, ihre wilde und körperliche Verzweiflung. Aber er schämt sich, die Wahrheit zu sagen, daß er kein besseres Hotel gesucht und kein besseres Zimmer genommen, weil er im ganzen nicht mehr bei sich gehabt hat als acht Schillinge, und daß er schon gedacht hat, seinen Ring dem Portier zu geben, im Falle das Zimmer höher im Preis gewesen wäre. Aber er kann und will nicht von Geld sprechen, so schweigt er lieber und wartet, wartet geduldig, demütig betroffen und stumm, ob der Schauer nicht endlich von ihr weichen will.


Mit der Feinhörigkeit überreizter Sinne hört sie immer wieder die Geräusche nebenan, von oben und unten und aus den Gängen, Schritte und Lachen, Husten und Stöhnen. Nebenan muß jemand mit einem leicht Betrunkenen sein, der grölt immer, und dann hört man wieder ein Klatschen auf nacktes Fleisch und das gekitzelte Lachen einer ordinären Frauenstimme. Es ist unerträglich, und sie hört es immer mehr, je mehr der einzig Verbundene neben ihr schweigt. Eine Angst kommt über sie und plötzlich fährt sie ihn an: »Bitte, sprich! Erzähl mir etwas. Nur damit ich es nicht höre, das von nebenan, oh, es ist so gräßlich hier. Welch ein furchtbares Haus, ich weiß nicht, was es ist, aber mir graut so vor allem, ich bitte dich, sprich, erzähl mir etwas, nur daß ich das … daß ich das nicht höre … Oh, es ist so schrecklich hier!«


»Ja«, er atmet tief, »es ist schrecklich, und ich schäme mich, daß ich dich hierher geführt habe. Ich hätte es nicht tun dürfen … ich habe es selbst nicht gewußt.«


Er streicht ihr mit zarter Liebkosung über den Körper, und sie fühlt es gütig und warm. Aber es tötet ihr nicht die Angst, die sie immer wieder erschauern läßt. Sie weiß nicht, warum sie so bebt und sich wehrt. Sie bemüht sich, es niederzuhalten, dieses Zucken in ihren Gelenken, diesen immer wieder erneuten Schauer des Ekels vor dem feuchten Bett und dem geilen Geschwätz von nebenan, dem ganzen furchtbaren Haus, aber es gelingt ihr nicht. Immer wieder laufen die Schauer über ihren Leib.


Er beugt sich zu ihr: »Glaube mir – ich verstehe, wie dir das schrecklich sein muß. Ich habe das selbst erlebt einmal … und gerade das erstemal, wie ich mit einer Frau war … das vergißt man nicht. Damals, wie ich zum Regiment kam und gleich in die Gefangenschaft, da wußte ich noch nichts, und die andern, auch dein Schwager, sie spotteten immer mich deswegen aus … Die Jungfer nannten sie mich immer und immer, ich weiß nicht ob aus Bosheit, ich weiß nicht ob aus Verzweiflung, aber immer redeten sie davon zu mir … Ja, von nichts anderem konnten sie sprechen Tag und Nacht, immer wieder redeten sie von Weibern, immer erzählten sie von der und von der und der und wie das gewesen war, und jeder erzählte es hundertmal, man wußte es schon auswendig. Und Bilder hatten sie oder zeichneten sie sich, gräßliche Bilder, wie sie die eingesperrten Gefangenen im Zuchthaus sich an die Wand zeichnen. Es ekelte mich immer zu hören, und doch, natürlich doch … ich war ja schon neunzehn Jahre, zwanzig Jahre, es reizt einen und macht einen krank. Dann kam die Revolution, und man transportierte uns weiter nach Sibirien, da war dein Schwager schon fort – und führte uns herum wie einen Trupp Schafe, bis einmal abends, da setzte sich ein Soldat zu uns … Er sollte uns eigentlich bewachen, aber wohin hätte man laufen können? … Er sorgte für uns und hatte uns gern … heute sehe ich noch sein wie mit dem Hammer breitgeschlagenes Gesicht mit der dicken Kartoffelnase, mit dem breiten, gutmütigen, gedehnten Mund … Ja, was wollte ich sagen … Ja, eines Abends also setzte er sich zu mir wie ein Bruder und fragte mich, wie lange ich keine Frau gehabt … Ich schämte mich natürlich zu sagen, ›Noch nie‹ … Jeder Mann schämt sich« (und jede Frau, dachte sie) »so sagte ich: ›Zwei Jahre‹. ›Boze moi …‹ Der Mund ging ihm auf vor Schrecken, heute sehe ich ihn noch, wie der Brave erschrak … Gleich rückte er näher und streichelte mich wie ein Lamm: ›Oh, du Armer, du Armer … Krank wirst du werden …‹ Er streichelte mich noch immer, und ich merkte, wie er krampfhaft dabei nachdachte. Denken, einen Gedanken hinter den andern zu schieben, war für diesen dickstirnigen schweren Sergej eine schwere Anstrengung, schwerer als einen Baumstamm zu heben. Sein ganzes Gesicht wurde dunkel dabei und seine Augen ganz innerlich. Endlich sagte er: ›Warte, Brüderchen, ich werde es schon machen. Ich finde eine für dich. Es sind viele im Dorf, Kriegerfrauen und Witwen, ich bringe dich zu einer, nachts. Ich weiß, du reißt mir nicht aus.‹ Ich sagte nicht ja, ich sagte nicht nein, ich hatte keine Lust, keine Gier… was konnte es sein … ein einfältiges tierisches Bauernweib, aber doch, nur einmal das Warme zu spüren, das Verbundensein mit einem Menschen … Nur nicht so gräßlich allein, nur … ich weiß nicht, ob du es verstehst? …«


»Ja«, atmet sie, »ich verstehe.«


»Und wirklich, abends kam er zu uns in die Baracke. Er pfiff leise, wie wir es verabredet hatten, im Dunkel stand draußen neben ihm eine Frau, breit und klein, das Haar fettig wie Öl unter buntem Kopftuch. ›Das ist er‹, sagte Sergej. ›Willst du ihn?‹ Mich sah im Dunkel die kleine schlitzäugige Frau scharf an. Dann antwortete sie ›Ja‹. Wir gingen ein Stück zu dritt, er begleitete uns. ›Wie weit sie ihn geschleppt haben, den Armen‹, sagte sie bedauernd zu Sergej. ›Und nie eine Frau, immer allein unter Männern, der Arme … Oh, oh, oh.‹ Es klang gut und tief, warm und gut hörte es sich an. Ich verstand, daß sie mich aus Mitleid zu sich nahm und nicht aus Liebe. ›Mir haben sie den Mann erschossen‹, erzählte sie dann, ›groß wie eine Esche, stark wie ein junger Bär war er. Nie hat er getrunken und nie mich geschlagen, er war der Beste im Dorf, jetzt lebe ich unter den Kindern und mit der Schwiegermutter, Gott ist streng mit uns.‹ Ich ging mit ihr zu ihrem Haus … mit Stroh weiß gedeckt, eine Hütte mit winzigen verschlossenen Fenstern, und als ich eintrat, von ihrer Hand gezogen, beizte mir der Rauch ins Gesicht. Dick war und heiß die Luft wie in einer giftigen Mine. Sie zog mich weiter, auf dem Ofen war das Lager, dort mußte ich hinauf; plötzlich rührte sich etwas, ich erschrak. ›Die Kinder sind es‹, sagte sie beruhigend. Jetzt erst spürte ich, daß das Zimmer voll von fremdem Atem war. Einmal hustete es, und wieder beruhigte sie mein Erschrecken: ›Die Großmutter, sie ist krank, die Brust löscht ihr aus.‹ All das Atmen, der Stank in diesem Raum, ich weiß nicht, ob ich mit fünf oder sechs oder mit wievielen ich beisammen war, und all das machte mir das Herz starr. Und es war mir grauenhaft, etwas mit einer Frau zu tun zu haben, grauenhaft, unsagbar grauenhaft, während nebenan im Zimmer die Kinder lagen und die Mutter, ich weiß nicht, die ihre oder die seine. Sie verstand mein Zögern nicht und kauerte sich an mich heran. Sie zog mich aus, wehmütig die Schuhe, sanft und zärtlich den Rock, sie streichelte mir über die Haut wie einem Kinde, rührend gut war sie zu mir … dann, ganz langsam verlangend zog sie mich an sich. Sie hatte Brüste, weich und warm und groß wie frisch gebackenes Brot, einen zärtlichen Mund, der still an dem meinen sog und rührende Bewegungen, demütig unterwürfig… Rührend war sie, wirklich, ich habe sie gern gehabt, dankbar war ich ihr, aber das Grauen krampfte mir den Hals. Ich konnte es nicht ertragen, wenn ein Kind sich rührte im Schlaf, wenn die Großmutter, die kranke, stöhnte, und ehe es recht zu dämmern begann, flüchtete ich hinaus … Ich hatte so eine tierische Angst vor dem Blick der Kinder, vor dem kranken Auge der Uralten … sie hätte das alles gewiß natürlich gefunden, daß da ein Mann bei der Frau lag, aber ich … ich konnte das nicht, ich flüchtete weg. Sie begleitete mich vor das Tor, demütig wie ein Haustier, rührend zeigte sie mir, daß sie von nun ab mir gehörte, in den Stall führte sie mich noch und melkte mir Milch, warm und frisch, gab mir Brot auf den Weg mit und eine Pfeife, sie mußte noch von ihrem Mann sein, und dann fragte sie mich noch, nein, sie bat… es war eine demütige und ehrerbietige Bitte. ›Du kommst doch wieder heute nacht?‹ … Aber ich kam nicht mehr, grauenhaft war mir die Erinnerung an diese Hütte mit dem Rauch und den Kindern und der Großmutter und dem Ungeziefer, das über den Boden rannte … Und dabei war ich dankbar, heute denke ich noch mit, ja, mit einer Art Liebe an sie … wie sie die Milch aus dem Euter melkte, wie sie mir das Brot gab, wie sie mir ihren Körper gab… Und ich weiß, ich habe sie gekränkt, daß ich nicht mehr kam … Und die andern … die haben es nicht verstanden … Alle haben sie mich beneidet, so arm waren sie, so verlassen, daß sie mir das noch neideten. Jeden Tag nahm ich mir vor, heute gehe ich zu ihr, und jedesmal …«


»Um Gottes willen«, ruft sie, »was ist denn los?« Christine ist mit einem Ruck aufgefahren und horcht.


»Nichts«, will er sagen. Aber er erschrickt selbst. Plötzlich ist da draußen etwas im Gange, laute Stimmen, Lärmen, Geschrei, ein helles Durcheinander, jemand schreit, jemand lacht, jemand befiehlt. Etwas ist geschehen. »Warte«, sagt er und springt aus dem Bett. In einer Minute hat er sich die Kleider übergeworfen und steht an der Tür und horcht: »Ich werde sehen, was geschehen ist.«


Etwas ist geschehen. Wie ein Schlafender plötzlich ächzend, schreiend, stöhnend auffährt aus einem schreckhaften Traum, murrt die bislang nur leise raunende Hotelspelunke plötzlich auf, in unerklärlichen und fremden Lauten. Es läutet, es klopft, es läuft Treppen auf und Treppen ab, ein Telefon klirrt, Schritte tappen, Fenster klirren. Es ruft, es redet, es fragt mit einmal wirr durcheinander, fremde Stimmen sind da, die nicht zum Haus gehören, fremde Knöchel, die hämmern an die Türen und klopfen, harte Schritte statt der bloßen und unbeschuhten. Etwas ist geschehen. Eine Frau schreit wild, Männer streiten laut und erregt, irgend etwas fällt um, ein Sessel, draußen poltert ein Automobil. Durch das ganze Haus muß die Erregung beben, über der Decke hört Christine rasche Schritte gehen, nebenan spricht der Betrunkene laut und ängstlich zu seiner Freundin, auch rechts und links nebenan rückt ein Sessel, schnarrt ein Schlüssel, vom Keller bis zum First surrt das enge Haus, jede Zimmerwabe des menschlichen Bienenkorbs.


Ferdinand kommt zurück, blaß, nervös, zwei scharfe Falten schneiden rechts und links um den Mund. Er bebt vor Erregung.


»Was ist?« fragt Christine, noch ins Bett gekauert. Als er jetzt Licht macht, erschrickt sie, daß sie halbnackt ist, und sie zieht unwillkürlich die Decke hoch.


»Nichts«, fährt es wie ein böser Pfiff durch die Zähne. »Eine Streife, sie kontrollieren das Hotel.«


»Wer?«


»Die Polizei!«


»Kommen sie auch zu uns?«


»Vielleicht, wahrscheinlich. Aber hab keine Angst.«


»Können sie uns etwas tun?… Weil ich mit dir bin?…«


»Nein, hab keine Angst, ich habe meine Legitimation mit mir, und unten habe ich mich richtig gemeldet, habe keine Angst, ich mache schon alles ab. Ich kenne das vom Männerheim in Favoriten, wo ich wohnte, es ist nur eine Formalität… Allerdings…« wieder wird sein Gesicht ganz dunkel und kantig, »allerdings, diese Formalitäten gelten immer nur für uns. Und manchmal brechen sie einem armen Teufel den Hals. Nur unsereinen stöbern sie auf in der Nacht, nur uns hetzen sie wie die Hunde herum… Aber keine Angst, ich bringe schon alles in Ordnung, nur … zieh dich an jetzt…«


»Mach dunkel.« Noch immer schämt sie sich, sie braucht alle Kräfte, um die paar leichten Dinge überzuziehen. Blei liegt in ihren Gelenken. Dann setzen sie sich wieder hin auf das Bett, es ist keine Kraft mehr in ihr. Von der ersten Sekunde in diesem gräßlichen Haus hat sie es wie ein Gewitter von Angst über sich gespürt, jetzt ist es da.


Immer wieder kommt von unten dieses Klopfen. Sie gehen das Parterre ab, man hört es von Zimmer zu Zimmer. Immer wenn der fremde Knöchel unten an das harte Holz pocht, spürt sie den Stoß bis in das erschrockene Herz. Er setzt sich zu ihr und streichelt ihre Hände. »Es ist meine Schuld, verzeihe mir. Ich hätte daran denken sollen, aber … ich wußte ja nichts anderes, und ich wollte … ich wollte so sehr gern mit dir sein. Verzeih mir.«


Er streichelt immer wieder ihre Hände, sie bleiben noch immer kalt und empfangen Schauer von ihrem jäh geschüttelten Leib.


»Habe keine Angst«, beruhigt er sie, »sie können dir nichts tun. Und wenn … wenn einer frech wird von diesen verfluchten Hunden, dann werde ich es ihnen zeigen. So leicht lasse ich mir nichts gefallen, dazu hat man nicht im Dreck gelegen, vier Jahre, daß man sich dann von solchen uniformierten Nachtwächtern kujonieren läßt, ich werde ihnen eines geigen.«


»Nein«, bittet sie ängstlich, wie sie sieht, daß er rückwärts an der Revolvertasche nestelt. »Ich beschwöre dich, bleibe ruhig. Wenn du mich nur ein bißchen lieb hast, bleibe ruhig, lieber will ich …« Sie kann nicht weitersprechen.


Jetzt kommen die Schritte die Treppe herauf. Ganz nahe scheinen sie zu sein. Ihr Zimmer ist das dritte, und bei dem ersten beginnt das Klopfen. Beide halten den Atem an, man hört jeden Laut durch die dünne Tür. Es geht rasch beim ersten Zimmer, jetzt sind sie nebenan. Poch, poch, poch, dreimal hört man den Schlag gegen das Holz, und jetzt, wie wer von nebenan die Tür aufreißt und mit stark betrunkener Stimme ruft: »Habt ihr nichts anderes zu tun, als anständige Menschen in der Nacht zu sekkieren? Schaut lieber, daß ihr die Raubmörder fangt!« Eine tiefe Stimme sagt streng: »Ihre Legitimation!« Dann fragt sie etwas leiser. »Meine Braut, jawohl, meine Braut«, sagt laut und herausfordernd die betrunkene Stimme, »ich kann es beweisen. Zwei Jahre gehen wir schon miteinander.« Es scheint zu genügen, die Türe schließt sich mit einem kräftigen Ruck nebenan.


Jetzt müssen sie kommen. Nur vier, fünf Schritte ist eine Tür von der andern, und sie kommen, tapp, tapp, tapp … Christine ist das Herz starr. Dann klopft es an. Ferdinand geht ruhig dem Polizeiinspektor entgegen, der diskret an der offenen Tür stehengeblieben ist. Er hat eigentlich ein freundliches Gesicht, rund, breit, mit einem kleinen koketten Schnurrbart, nur der enge Uniformkragen pumpt ihm zuviel Blut in das eigentlich gemütliche Gesicht. In Zivil oder in Hemdärmeln kann man sich ihn denken, wie er duselig den Kopf zu einem Walzergstanzl wiegt, jetzt zieht er gewaltsam die Brauen stramm und sagt: »Haben Sie Ihre Papiere bei sich?« Ferdinand geht näher zu ihm hin: »Da, und wenn Sie wünschen, meine Militärpapiere auch noch, wer die hat, wundert sich nicht, wenn einem allerhand Dreckiges passiert, der ist daran gewöhnt.« Der Inspektor überhört den scharfen Ton, vergleicht die Legitimation mit dem Meldezettel, dann tut er einen kleinen Blick auf Christine, die, das Antlitz weggewendet, ganz in sich gedrückt auf dem Sessel sitzt wie auf einer Anklagebank. Er dämpft die Stimme: »Sie kennen die Dame persönlich … ich meine … Sie kennen sie seit länger …?« Man sieht, er will es ihm leicht machen. »Ja«, sagt Ferdinand. Da dankt und salutiert der Kommissär und will sich entfernen. Aber Ferdinand, der vor Zorn bebt, wie er Christine so sitzen sieht, erniedrigt und nur mit seinem Versprechen losgekauft, geht ihm einen Schritt nach.


»Ich möchte nur fragen, ob … ob solche Nachtstreifungen auch im Hotel Bristol und andern Ringstraßenhotels abgehalten werden oder nur hier?« Der Inspektor zieht sein Dienstgesicht kalt über und antwortet wegwerfend: »Ich habe Ihnen keine Auskunft zu geben, ich befolge meinen Auftrag. Seien Sie lieber froh, daß ich meine Nachforschungen nicht allzu genau vornehme, es könnte doch sein, daß die Angabe in Ihrem Meldezettel, die Ihre Frau betrifft« – er betonte das Wort – »nicht so ganz stichhältig ist.« Ferdinand beißt die Zähne, es würgt ihn, und er nimmt beide Hände hinter sich und preßt sie zusammen, um nicht dem Staatsabgesandten ins Gesicht zu schlagen, aber der Kommissär scheint an derartige Ausbrüche bereits gewöhnt und schließt ruhig, ohne ihn weiter eines Blickes zu würdigen, die Tür. Ferdinand bleibt stehen und starrt die Tür an, die Wut zerbricht ihn fast. Dann erst erinnert er sich Christines, die über ihrem Sessel mehr liegt als sitzt. Es ist, als ob sie gestorben wäre vor Angst und noch nicht zurückgekehrt in ihren Körper. Leise streichelt er ihr über die Schulter.


»Da sieh, nicht einmal nach deinem Namen hat er dich gefragt… Es war wirklich nur eine Formalität, nur … nur daß sie mit diesen Formalitäten einem das Leben verstören und einen hinmachen. Vor acht Tagen hab’ ich es gelesen, jetzt erinnere ich mich, da hat sich eine vom Fenster hinuntergeworfen, weil sie Angst hatte, man führe sie zur Polizei, und daß es die Mutter erfahren könne oder … daß man sie untersucht auf Geschlechtskrankheiten… Da ist sie lieber hinuntergesprungen, drei Stock tief… Ich habe es gelesen in der Zeitung, zwei Zeilen, zwei Zeilen… Es ist ja wirklich nur eine Kleinigkeit, wir sind ja nicht verwöhnt … dafür kriegt wenigstens so einer ein eigenes Grab und nicht mehr ein Massengrab wie früher, man ist es ja gewöhnt … zehntausend Tote pro Tag, was ist da ein Mensch, das heißt, wenn er so einer ist wie wir, einer von denen, mit denen man sich alles erlaubt. Ja, in den guten Hotels, da salutieren sie und schicken nur Detektive ins Haus, damit den Damen der Schmuck nicht gestohlen wird, aber dort schnüffelt niemand einem sogenannten Bürger nachts in das Zimmer. – Doch ich brauche mich nicht zu genieren.« Christine beugt sich noch tiefer. Unbewußt erinnert sie sich, wie hatte die kleine Mannheimerin gesagt… Von Tür zu Tür geht’s da zu in der Nacht. Sie erinnert sich: die hellweißen, breiten Betten und Morgenlicht, die Türen, die wie auf Gummi schließen, leicht und geräuschlos, und die weichen Teppiche und die Blumenvase beim Bett. Dort konnte ja alles schön sein und gut und leicht, und hier… Sie schüttelt sich vor Ekel. Er steht verzweifelt neben ihr und sagt ganz sinnlos: »Beruhige dich, beruhige dich, beruhige dich. Es ist schon vorbei.« Aber der kalte Körper zuckt und zuckt immer wieder aufs neue unter seiner Hand. Etwas in ihr ist zerrissen, und die Nerven schwingen nach, wie ein in übermäßiger Spannung zerfetztes Seil. Sie hört nicht auf ihn, sie horcht nur dem Klopfen, das immer weitergeht, von Tür zu Tür, von Mensch zu Mensch. Noch ist das Gräßliche im Haus.


Jetzt sind sie schon im obern Stock. Plötzlich wird das Klopfen heftig. Heftiger und heftiger wird es: »Aufmachen! Im Namen des Gesetzes!« Beide horchen in die momentane Stille hinein. Wieder hämmert es oben, jetzt nicht mehr die Knöchel, sondern die ganze Faust. Es schallt dumpf und hart von der fremden Tür herab, zu allen Türen, zu allen Herzen. »Aufmachen! Aufmachen!« brüllt oben die Stimme befehlerisch. Offenbar weigert sich dort oben jemand. Dann kommt ein Pfiff, Schritte laufen die Stufen hinauf, vier, sechs, acht Fäuste hämmern gegen die Tür da droben. »Aufmachen! Sofort!« Dann ein Stoß, der durch das ganze Haus geht – ein schleifender Ton von zerbrochenem Holz und dann ein Frauenschrei, hoch, gell, in höchster Angst, ein Schrei, der wie ein Messer durchs ganze Haus schneidet. Dann poltern Stühle, irgend jemand ringt mit irgend jemand, Körper fallen um, wie Säcke mit Steinen gefüllt, dumpf schrillt und immer heulender der Schrei.


Sie horchen beide, als geschehe ihnen alles selbst. Er ist der Mann, der droben wütend mit den Wachleuten ringt, sie ist die Frau, die halbnackt und zornig schreit, angefaßt am Handgelenk und sich heulend windend unter dem polizeimäßig geübten Griff, und jetzt gellt schrecklich deutlich der Schrei: »Ich gehe nicht, ich gehe nicht!« heulend, brüllend, mit aufgeschäumtem Mund. Ein Fenster klirrt, sie muß es zerschlagen haben oder jemand hat es eingestoßen, dieses fremde gejagte Tier Frau. Und jetzt haben sie sie (beide spüren sie es) zu zweit, zu dritt gefaßt und schleifen sie. Sie muß sich zu Boden geworfen haben, man hört Strampeln, das Keuchen durch Kalk und Stein und Wand. Und jetzt – jetzt schleppt man sie den Gang und die Stiegen herab und immer erstickter, immer ersterbender klingt das Falsett der Angst, das Schreien: »Ich gehe nicht, ich gehe nicht! Loslassen! Zu Hilfe!« Dann sind sie unten. Das Automobil kurbelt an, man hat sie verstaut. Ein Tier ist im Sack gefangen.


Es wird wieder still, und viel stiller als früher. Wie eine dicke Wolke liegt das Grauen über dem Haus. Er versucht, sie in die Arme zu nehmen, er hebt sie vom Sessel auf und küßt sie auf die kalte Stirn. Aber sie liegt in seinem Arm, schlaff, feucht und tot wie eine Ertrunkene. Er küßt sie. Aber ihre Lippen sind dürr und werden nicht wach. Er versucht, sie hinzusetzen auf das Bett: sie fällt nieder, ausgeleert, matt und verstört. Er beugt sich über sie und streicht ihr übers Haar. Endlich schlägt sie die Augen auf: »Weg!« haucht sie. »Führ mich weg, ich ertrag’ es nicht, ich ertrag’ es nicht eine Sekunde länger.« Und plötzlich, in einem hysterischen Ausbruch, fällt sie vor ihm in die Knie: »Führ mich weg, ich bitte dich, nur weg aus diesem verfluchten Haus.«


Er sucht sie zu beruhigen. »Kind, wohin denn … wir haben jetzt noch nicht halb vier, und dein Zug geht erst um halb sechs. Wohin sollen wir gehen, willst du dich nicht lieber ausruhen?«


»Nein, nein, nein.« Sie wirft einen Blick wahnwitzigen Abscheus auf das zerknüllte Bett. »Nur weg, nur weg von hier, nur weg! Und nie mehr … nie mehr … so … wohin, nie mehr!«


Er gehorcht. In der Portiersloge steht noch ein Polizist, die Meldezettel vor sich, und macht sich Notizen. Er wirft einen kurzen, scharfen Blick herüber wie einen Hieb. Christine wankt, Ferdinand muß sie halten. Aber schon beugt sich wieder der Kommissär über die Papiere, und im Augenblick, wo sie die Gasse spürt, Luft, Freiheit, atmet sie tief, als sei ihr noch einmal das Leben geschenkt.

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