Die Kathedrale von Chartres
1924
Nie war Paris so stark, so blendend wie in diesem Jahr, nie so strotzend von innerer Energie, so strahlend in einem vielfältigen Licht: ein anderer vehementerer Rhythmus schlittert die Straßen, und wer vordem den linden, lässigen Atem dieser Stadt geliebt, spürt erstaunt und beinahe erschreckt, wie heiß, wie leidenschaftlich und fast fieberhaft er nun schwingt. Etwas von New York, vom Tempo der amerikanischen Riesenstädte hat sich eingedrängt in die Avenuen: weiß und blendend gießt sich das Licht über die menschenflirrenden Straßen, von Dach zu Dach springen die Leuchtplakate, und die Häuser zittern bis hinauf zum First vom Gedröhn der Automobile. Die Farben, die Steine, die Plätze, alles glüht und flackert und brennt von diesen neuen Geschwindigkeiten, bis hinab in die donnernde Höhlung der Untergrundbahnen schwingt jeder Nerv dieser blendenden Stadt, und jede Fiber des eigenen Leibes schwingt unbewußt mit: man fühlt sich gejagt, geschoben, getragen von diesem flirrenden Rausch, der betäubt und beglückt und doch müde macht. Lustvoll ist dieses Tempo, eine Phantasmagorie dem Blick, eine starke Spannung dem Gefühl – aber dann kommt immer wieder ein Augenblick, in dem man sich sagt: zu viel! Man möchte für eine Stunde ruhen und rasten, wie vor Jahren lässig schlendern in den alten Gassen der Rive gauche, auf dem jugendgeliebten Boul’ Mich’. Aber die alten Gassen sind nicht mehr stiller Wanderschaft wohlgewillt – wie aus dem Geschützrohr einer Kanone zuckt aus ihrem schmalen Schlund gleich einem Geschoß Schlag auf Schlag, Schuß auf Schuß ein Automobil hinter dem andern. Und auf dem Boul’ Mich’ haben (wie überall) die Banken die Cafés verdrängt – die Jugend, die Studenten, sie sind hinaufgeschoben in die Vorstädte, nach Montparnasse. Nirgends ist eine halbe Stunde Stille von morgens bis morgens in dieser aufgeschwellten, fiebrigen Stadt, bis weit hinaus nach St. Cloud und Sèvres zucken noch die Nerven ihrer ruhelosen Leidenschaft: nirgends, nirgends mehr »la douce France«, nirgends eine Stelle, wo man still gegen Abend zu das silberne Licht über die Seine sehen kann, nirgends mehr das alte Paris; die weiche wollüstig warme Stadt hat Muskeln bekommen und hämmert den Takt wie ein fanatischer Arbeiter –, ihr Glanz zischt auf wie ein zuckendes Raketenspiel. Man muß weit fort, um hinter ihrem englischen, ihrem amerikanischen Antlitz wieder Frankreich, das Frankreich von einst zu fühlen, um beschaulich zu genießen, was einem hier Paris in tausend flirrende Funken zerschlägt. Und plötzlich, sehnsüchtig nach einer Stunde Entspannung, erinnere ich mich, als einzige der großen Kathedralen jene von Chartres nicht gesehen zu haben; sie ist anderthalb Stunden weit, und ich weiß im voraus schon: zwischen ihr und Paris liegt ein Jahrtausend –, in anderem, ruhevollerem Takt schwingt dort der Rhythmus der Zeit.
Seltsam: schon der Schnellzug, der im Flug an den Telegraphenstangen vorbeiknattert, scheint einem Entspannung gegen das Flimmerspiel von Paris. Man lehnt sich hin ans Fenster und sieht die flache Landschaft: der Blick scheint einem vertraut, denn von den Bildern der Impressionisten meint man jeden Baum, jeden Kanal, jeden Tümpel zu kennen. Wie oft haben Monet, Pissaro, Renoir, Sisley dies alles gemalt, die kleinen Gärten im nassen Vorfrühlingsglanz, die schüchternen Birken, die glitzernden Rasen, dies üppige und doch flache, dies volle und doch ein wenig monotone Land um Paris. Nirgends ein rechter Wald, nirgends ein Hügel, nirgends auch von ferne nur ein wahrhafter Berg; immer nur Wiese und Häuser und Wasser, sorglich bestellt und nutzbar gemacht. Schon ermüdet der Blick, der nichts Sonderliches in der Runde faßt; aber plötzlich, wie der Zug sich zu verlangsamen beginnt, steigt etwas aus der niederen Landschaft mächtig, übermächtig auf, ein großes und wunderbares Gebilde. »Wie ein kniender Riese, der seine Arme betend über die niedere Ebene zu Gott aufhebt –«, so hat Paul Claudel einmal eine der Beschwörungen der französischen Kathedrale begonnen. Und plötzlich, mit dem gewaltsamen Einbruch einer Wahrheit, fällt mir die Zeile wieder ein: denn wirklich, wie ein Fremder, wie ein gewaltiger Riese, gedrungenen Leibes hebt sich hier über der niederen Wölbung einer provinziellen Stadt das schwere wuchtige Dach einer Kathedrale, und über sie hochgereckt zu ewigem Gebet ragen die beiden Türme in den Himmel hinein. Gerade das scheinbar Sinnlose, daß hier mitten im leeren Land, mitten aus einer niederen gleichgültigen Stadt ein so ungeheurer Bau emporbricht, gerade dies schafft einen Eindruck unvergeßlicher Großartigkeit. In Paris scheint es verständlich, wenn im unendlichen Gedränge der Straßen Notre-Dame wie ein gewaltiger Brunnen die Gläubigkeit von Millionen sammelt, und man kann sich Wien oder Köln kaum denken ohne die steinerne Spitze, in die das Gewirr der Häuser gleichsam befreit aufschießt; hier aber wird die Dimension zur Überraschung, die Proportion zum Erlebnis.
Wer hat sie gebaut, diese gewaltige Kathedrale, in das Leere des Landes, hoch über die kleine alltägliche Stadt? Die Namen der Meister, sie sind verschollen, und wüßte man sie auch, ihre Namen sagten nicht viel. Denn nicht einer oder einzelne können solche Wunder schaffen, die Jahrhunderte brauchen, um wahrhaft dazusein und ins Ewige zu reifen; die wahren Baumeister, sie hießen: Glaube und Geduld, Glaube von Tausenden namenlosen, verschollenen Menschen und Geduld von Abertausenden einsam wirkenden Werkleuten. Vergebens durchforscht man die Linien, die Pläne: sie haben keine Antwort auf die unabweisliche Frage, wie einzelne einstmals den Mut aufbrachten, eine solche Riesenkathedrale zu bauen mitten ins Leere der Natur, kaum angelehnt an ein ärmliches Städtchen. War da nur der Ehrgeiz, es Paris, der gewaltigen Schwester, an Größe gleichzutun, jener Ehrgeiz, der die Kirchen Italiens, die Dome Deutschlands, die Beifriede Belgiens zwang, sich, jeder immer mächtiger als alle früheren, zu gestalten? Oder war hier mitten im flachen Land, wo kaum ein Hügel sich über die Wiesen hebt, vor grauen Jahren vielleicht einer gewesen, der auf ferner Wanderschaft Berge gesehn und getürmten Fels, und der nun den anderen die Sehnsucht verriet, ein so Hohes zu schaffen, daß man adlergleich blicken könnte von Horizont zu Horizont? Jedenfalls: sie huben an, sich so ein steinernes Gebirge zu bauen, eine Zwingburg Gottes, mächtig gequadert gegen den Ansturm der Zeit, und sie rasteten nicht, ehe sie vollendet war. Wo ein Geschlecht endete, hub ein anderes an, und so wuchs diese riesige Wölbung mit den Türmen bis hinauf zum glitzernden Knauf, zur luftigen Wohnung der Glocken.
Wie aber dieser wölbige Fels gebaut war, werden sie selbst erschrocken sein, diese Menschen des hellen sonnigen Landes, denn sein Inneres mag dunkel und kalt gewesen sein wie eine Höhle. Das Ungeheure dieser Wölbung, Stein in Stein, atmete wohl Düsternis und ein geheimes Grauen: da taten sie, um das Lastende dieses grauen Lichtes zu mildern, bunte Scheiben in die Höhlen der Fenster, die Sonne zu filtern in allen Farben und die Buntheit des Lebens auch hier im Dunkel selig zu gewahren. Diese Glasfenster von Chartres sind nun eine Herrlichkeit ohnegleichen. Nicht so dicht gedrängt wie jene der Sainte Chapelle in Paris (die eigentlich nur funkelndes Glas ist, von schmalen Steinstäben gespalten), teilen sie in blauen Ovalen, in glühenden Rosetten unendlich vielfältig die starre Wand: wie in der Grotte von Capri strahlt magisch das Licht aus einer unsichtbaren Ferne kobaltblau und violett in unfaßbarer Bindung und Zerstreuung in den Raum der nun weich sich löst zu einer unbeschreiblichen Dämmerung. Und jede dieser Farben ist satt und leuchtend, ist von jener reinen Tiefe, wie sie in unserer vielfältigen Welt einzig die Alpenblumen haben, der Enzian, die Schneerose und das Edelweiß, wie unsere neue Chemie und die donnernden Fabriken sie nie mehr so glühend dem flüssigen Glas einzuschmelzen vermochten. Mitten in Kühle und Höhe fühlt man sich im Feuer, in einer einzigen Seligkeit des Blickes.
Doch auch dies war jenen Namenlosen noch nicht genug des Lebens in diesem ragenden Haus: jetzt war der Fels zwar schon beblümt und beglänzt, war Natur geworden und Landschaft. Aber noch fehlte das wahre Leben darin, der Mensch in all seinen Formen und das wimmelnde Getier. So stellten sie Bildnisse, steinerne Gestalten überall hin, die Starre des Felsens zu beleben: unübersehbar ist diese Schar. Vor den Portalen stehen sie schon streng als Wächter, die Engel und Erzväter, aus den Säulen strecken sie sich streng und gotisch schmal hervor, sie flügeln als zackiges Fledermausgetier aus den Nischen, beugen sich aufgerissenen Maules als Wasserspeier vom Turm. Die Wölbungen füllen sie als quirlende Haufen, als wandernde Erzählung, rings um den Altar gürten sie sich als plastische Legenden. Verkündigung und Geburt und Auferstehung, die Feiertage des Jahres und die Legenda Aurea und den verlorenen Sohn und den guten Samariter: alles sieht man hier im Steine leben und in den Fenstern glühend gebildet, und niemand vermöchte die Fülle der Figuren zu Ende zu zählen. Sind es Tausende oder Zehntausende – als Gestrüpp und Dickicht drängt sich menschliche Gestalt hier zwischen den ragenden Bäumen der Säulen bis hoch zur Wölbung empor. Alle Stile, alle Formen sind versammelt, und jene Wand um den Altar, die Jean de Beauce im vierzehnten Jahrhundert begann, und die das achtzehnte erst vollendete, spiegelt die ganze Varietät der Plastik: in wenigen Minuten hat man Jahrhunderte der Kunstgeschichte durchschritten. Und man weiß, man sieht sich nie zu Ende, denn ganze Geschlechter von Steinmetzen und Bildnern haben dies irdische Heer von Gestalten ersonnen, das sich hier ewig zu Ehren Gottes versammelt.
Aber ihre ganze, ihre unübersehbare Schar, wie sie von Säule und Krypta und Wölbung und Wand sich zusammendrängt – sie fühlt man erst an den lebendigen Menschen von heute. Es ist Sonntag, und die Bürger füllen den Dom: doch nur gesagt ist dies Wort, denn sie füllen ihn nicht. Sie füllen ein paar Bänke bloß, und hier und dort scharen sie vor einem Bilde sich zusammen; aber wie bröcklig, wie ärmlich ist dies Menschenhäufchen neben der Unzahl der Steingestalten, wie winzig der Klüngel Beter unter dem riesigen Gestühl der Kathedrale. Diese Kirche hätte Raum für ein ganzes Geschlecht, und es ist ihr heroisches Beispiel, ewig zu groß zu bleiben für alle irdischen Zwecke, ewig alle Möglichkeiten zu überragen und nur ein Symbol des Unendlichen zu sein. Nur den Glauben wollten sie verewigen, die diese Kathedrale auf richteten mitten im niedren Land, in gestaltetem Stein ihren frommen Willen bewahren über die Zeit: ehrfürchtig spürt man hier den »Geist der Gotik«, das Jahrhundert des Glaubens und der Geduld, ein Jahrhundert, das nicht wiederkehrt. Denn nie werden solche Werke in unserer Welt wieder entstehen, die mit anderen Maßen die Stunden zählt und hinlebt in anderen Geschwindigkeiten: die Menschen bauen keine Dome mehr.
Die Menschen bauen keine Dome mehr: wie Armut fühlt man vorerst unsere Zeit in der Heimkehr von solcher dauerhaften Gestalt. Unsere Pläne zielen auf rasche Zwecke, hastiger geht unser Rhythmus, und niemals mehr überwächst ein einzelnes Werk ein ganzes Geschlecht, ja selten noch ein einzelnes Leben. Wir, die ein sprechender Funke in einer Sekunde zu anderen Kontinenten reden läßt, haben verlernt, in langsamen Steinen, in unendlichen Jahren unser Wesen auszudrücken: unsere Wunder sind handlicher geworden und geistiger, unsere Träume weniger kompakt. Wie von etwas großartig Fremdgewordenem, wie von dem Parthenon oder den Pyramiden nimmt die Seele Abschied von so ragender Gestalt, und wir sind uns wohl bewußt, daß wir für Unendliches, das die Welt seitdem gewonnen, doch die Fähigkeit verloren haben, so herrlich den Geist eines ganzen Volkes, den Genius einer Zeit in einem Werke zu verkörpern. Aber dies ist dahin: die Menschen bauen keine Dome mehr.
Und doch, wie der Zug jetzt zurücksaust durch die abendlich dunkelnde Landschaft, taucht dort, wo noch nicht der Blick, nur erst das Gefühl Paris, die gigantische Stadt ahnt, eine glühende Kuppel auf, rötlich gewölbt über dem Horizont bis hinauf in den unsichtbaren Himmel. Es ist der Feuerkreis von Paris, ein anderer Dom, der dort ohne Stein und Stütze allnächtlich aufgerichtet ist, einzig gebaut – wie jener von Chartres aus Tausenden von Quadern – aus Hunderttausenden von Lichtern und elektrischen Flammen. Allnächtlich unzerstörbar steht dieser glühende Dom von Licht über der brausenden Stadt, die herrlichste Kathedrale unserer Zeit, zusammengefügt aus den unzählbaren elektrischen Energien, aus dem heißen zuckenden Leben der Millionen. Mag sein, er ist nicht aus dem gleichen Glauben gestaltet wie jene alten Kathedralen, aber doch aus dem gleichen brennenden Willen, aus der gleichen unsterblichen irdischen Energie. Herrlich gewölbt, überirdisch leuchtend ragt er hoch in die lauschende Nacht, dieser neue Dom von Paris, und vielleicht würden jene Baumeister von einst ihn so herrlich, so gewaltig und göttlich finden, wie wir ihre uns überkommenen Werke. In anderen Zeichen schreiben eben die Zeiten ihre Geschichte in die Landschaft der Erde, und nichts ist wunderbarer, als im Zwischenraum einer Stunde das eine und das andere Zeichen ihres Lebenswillen (so fremd sie einander auch scheinen) zu lesen, zu verstehen und zu lieben.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.