Ypern
1928
Vor Jahren und Jahren war ich einmal in dieser nun so tragisch berühmten Stadt. Man ratterte zwei oder drei Stunden lang von Brügge mit einer wackeligen Dampfvizinalbahn, kam abends an, ein sehr vereinzelter Fremder, der Mühe hatte, irgendeinen Gasthof aufzustöbern: die Leute schliefen schon um neun Uhr, und nur ein paar kleine Estaminets zwinkerten Petroleumlicht aus halbgeschlossenen Fensterläden. Der große Platz vor den Hallen schwarz und leer, ein viereckiger Teich. Stille. Wahrhaftig, man hätte sich nicht gewundert, wäre plötzlich ein mittelalterlicher Nachtwächter aus dem Schatten getreten, um meistersingerische Schlafmützenweis’ durch die Gassen zu tuten. Riesig aber wuchteten aus diesem Schweigen die quadratischen Massen jenes herrlichen Gebäudes hervor, der Stadthalle; sie und die Kathedrale zu sehen, war ich eigens gekommen, drei Vizinalbahnstunden weit in diese behäbige und vergessene Provinzlerei.
Jetzt flammt der Name Ypern, der »ville martyre«, auf allen Plakaten von Lille bis Ostende, von Ostende bis Antwerpen und weit ins Holländische hinein: Gesellschaftsreisen, Automobilexkursionen, Separattouren überschreien sich in Angeboten, täglich sausen zehntausend Menschen (und vielleicht mehr!) für ein paar Stunden herüber: Ypern ist die great show Belgiens geworden, eine schon gefährliche Konkurrenz für Waterloo, ein Man-muß-es-gesehen-Haben aller Touristen. Widerstand regt sich als erstes Gefühl, solchem Wirbel nachträglicher Schlachtenbummler sich einzudrängen. Aber Verantwortung mahnt, nichts zu übersehen, was die Geschichte unserer Zeit sinnlich verlebendigt; nur wenn wir uns stark und bewußt orientieren, werden wir der furchtbaren Vergangenheit und damit der Zukunft gerecht.
Also nach Ypern. Aber in keinem der Massenautomobile, darin gemietete Führer in vorgeschriebener Route täglich Kirchhöfe, Monumente, Ruinen und zweihunderttausend Tote in wohlassortiertem Programm abschnurren. Lieber den kleinen Umweg nach Nieuport hinüber. Breite, bequeme Straßen, asphaltgegossenes glattes Gummiband zuerst, wo die Luxuswagen, geräuschlos federnd, von Badeort zu Badeort sausen, wahrscheinlich ohne rechts und links die schon langsam versandenden Spuren des Krieges überhaupt zu bemerken. Denn man muß scharf hinsehen, um sich zu vergegenwärtigen, daß, was jetzt als dünne Wasserschnur Zickzack durch die Felder läuft, vier Jahre lang Laufgraben war für geduckte Bataillone. Daß der runde, blaue Wolken spiegelnde Tümpel dort, aus dem gelbgefleckte Kühe mit ihren rosenweichen Nüstern gemütlich Wasser lecken, einem menschenmörderischen Trichtereinschlag eines schweren Geschützes sein Dasein dankt.
Ja, man muß anfangs noch scharf hinsehen, um all diese Mementos zu bemerken (denn die Zeit löscht in der nachgiebigen Erde die Spuren fast so schnell wie in den vergeßlichen Gehirnen der Menschen). Aber bald in der Nähe von Nieuport, der einstigen Hauptfront, mehren sich beängstigend die Zeichen. Immer mehr dieser troglodytischen Höhlen, dann schon zerspellte Bäume mit weggegiftetem Laub, skeletthafte Arme anklägerisch in den Himmel hebend. Immer mehr und immer mehr der weggeworfenen und zerstampften Wellblechdecken, der gestützten Unterstände…
Die Stadt ohne Herz
Rasch also auf Ypern zu. Rechts und links fließendes Gold von reifendem Getreide, körnerschwer: wieder spürt man’s, auch in der Natur lebt immer alles Lebendige von den Toten. Kranke Wälder mit abgefressenem Laub, vom Gasgift vergilbt, strecken ihre Stummel wie hilfeschreiend einem entgegen. Und an den vielen Friedhöfen rechts und links von der Straße spürt man unverkennbar: der Brennpunkt vierjährigen Kampfes muß schon nah sein. Kreuze, Kreuze, steinerne Armeen von Kreuzen, erschütternd durch den Gedanken, daß unter jedem dieser blankpolierten, rosenumflochtenen Steine ein Mensch ruht, der ohne diesen Wahnwitz noch heute, vierzigjährig, fünfzigjährig, in voller Gesundheit, Blüte und Kraft stünde. Denn ohne diesen Gedanken möchte man sie sonst schön nennen, diese beinahe musikalisch in die leere Landschaft hineinkomponierten Totenhaine, australische, kanadische, englische, belgische, französische und deutsche.
Ein paar enge Straßen noch, und man ist auf dem Marktplatze. Alles steht da wie einst, schön erneuert, frischer vielleicht noch, nur – entsetzlich – die gigantische Stadthalle ist weg, dieser zyklopische Riesenbau, der Stolz Belgiens, um den einstens die ganze Stadt mit ihren Häuserchen sich scharte wie Kücken um die Henne. Dort, wo diese Herrlichkeit heroisch wuchtete, Jahrhunderten trotzend, steht jetzt ein Nichts, ein paar rauchige Steinstümpfe, wie kariöse Zähne schwarz und zerfressen gegen den Himmel gebleckt. Das Herz der Stadt ist ausgerissen, und man denke es sich aus im Vergleich, daß in Berlin statt des Schlosses und der Linden ein schottriger Trümmerhaufen läge.
Schaurig das anzusehen. Schauriger noch als die Photographien in den Schaufenstern, die Ypern 1918 in einer Flugaufnahme zeigen, als eine Kraterlandschaft, eine einzige Schuttwucherung. Aber diese schaurige Wirkung der Nichtwiederherstellung gerade dieses mächtigsten Baues entspringt einer Absicht, denn es ist bestimmt, daß dieses eine und gewaltigste Gebäude der belgischen Kriegswelt für ewige Zeiten Trümmerhaufen verbleiben soll, ähnlich wie die Heidelberger Ruine, damit Geschlechter und Geschlechter sich des Geschehenen erinnern. Wahrscheinlich beabsichtigte ein Gefühl der Rache, damit den Abscheu und das Ressentiment gegen die Eindringlinge zu verewigen, das Martyrium dieser Stadt noch Generationen zu zeigen. Aber mag diese Absicht die ursprüngliche gewesen sein – die Wirkung wird eine andere. Was als Denkmal des Krieges bestimmt war, wirkt nun schon als Denkmal gegen den Krieg, und dieses zerschmetterte, beinahe zu Schutt und Staub zermörserte Kunstdenkmal erweist sich als die denkbar furchtbarste Mahnung für alle, die ihre Heimat lieb haben, nie mehr die heiligsten Werke ihrer Geschichte solchen mörderischen Zerstörungen auszusetzen.
Meningate
Sein erlauchtestes Kunstwerk ist damit Ypern genommen. Niemand wird in Hinkunft mehr, wie wir einstens, hinpilgern in die abseitige Stadt, einzig um, maßvoll und mächtig, dieses herrliche Hallenwerk mit seinen breiten Schultern dastehen zu sehen. Aber für das verlorene Denkmal hat Ypern ein neues gewonnen, und daß ich es gleich voraussage, ein seelisch wie künstlerisch überwältigendes: das Meningate, errichtet von der englischen Nation für ihre Toten, ein Denkmal, so ergreifend wie nur eins auf europäischer Erde.
Auf der Straße, die vormals zum Feinde führte, ist dies riesige Tor errichtet, hoch und marmorhell. Es schattet und deckt ein paar Meter weit die Straße, jene einzige des umschlossenen Ypern, wo in Sonnenbrand und Regen die englischen Regimenter an die Front rückten, wo die Kanonen, die Lazarettwagen, die Munition zugeführt und unzählige Särge heimgekarrt wurden. In schlichten römischen Maßen, mehr Mausoleum als Triumphbogen, wölbt sich das breite Tor. Auf der Vorderseite, der Feindrichtung zugewandt, liegt auf dem First ein Marmorlöwe, die Pranke wuchtig niedergelegt wie auf eine Beute, die er nicht lassen will; auf der Rückseite, der Stadt zugewandt, erhebt sich ernst und schwer ein marmorner Sarkophag. Denn dieses Denkmal gilt den Toten, den sechsundfünfzigtausend englischen Toten bei Ypern, deren Gräber nicht gefunden werden konnten, die irgendwo in einem Massengrabe vermodern, unkenntlich von Granaten zerfetzt, oder im Wasser verfaulten, all jenen, die nicht wie die anderen auf den Friedhöfen rings um die Stadt ihre hellen, weißen, geschliffenen Steine haben, eigenes Wahrzeichen letzter Ruhestatt. Ihnen allen, den Sechsundfünfzigtausend, hat man diesen Marmorbogen als gemeinsames Grabmal gewölbt, und alle diese sechsundfünfzigtausend Namen sind eingegraben mit goldenen Lettern in den marmornen Stein, so viele, so unendlich viele, daß, ähnlich wie auf den Säulen der Alhambra, die Schrift zum Ornamente wird. Ein Denkmal also nicht dem Siege, sondern den Toten, den Opfern dargebracht, ohne jeden Unterschied, den gefallenen Australiern, Engländern, Hindus und Mohammedanern, verewigt in gleichen Maßen und in gleicher Größe, in demselben Stein, für denselben Tod. Kein Bildnis des Königs, keine Erwähnung von Siegen, keine Kniebeuge vor genialen Feldherren, kein Schwatz von Kronprinzen, Erzherzögen, nur lakonisch großartige Stirninschrift: Pro rege, pro patria. In dieser wahrhaft römischen Einfachheit wirkt dieses Grabmal der Sechsundfünfzigtausend erschütternder als alle Triumphbogen und Siegesdenkmäler, die ich jemals gesehen, und diese Erschütterung mehrt sich noch am Anblick der immer wieder neu gehäuften Kränze der Witwen, der Kinder, der Freunde. Denn eine ganze Nation pilgert alljährlich zu dieser gemeinsamen Grabstätte der unbegrabenen und verschollenen Soldaten.
Kirmes über den Toten
Ein Wallfahrtsort der englischen Nation ist Ypern heute geworden. Man kann es verstehen, wenn man diese Tausende und aber Tausende von Gräbern, wenn man diese tragische Stelle der Sechsundfünfzigtausend gesehen. Aber gerade die Fülle des Verkehres gefährdet arg die Ehrfürchtigkeit des Eindruckes, und mitten in der Ergriffenheit wehrt sich das Gefühl gegen die zu gute, zu präzise funktionierende Organisation. Auf dem Marktplatze staut sich ein Autopark wie vor einer Oper, die grünen und gelben und roten Massenautos, diese fahrenden Bassins, schütten stündlich Tausende von Menschen in die Stadt, ganze Touristenarmeen, die mit lautsprechenden Führern die »Sehenswürdigkeiten« (zweihunderttausend Gräber!) betrachten. Für zehn Mark kriegt man alles, den ganzen Krieg von vier Jahren, die Gräber, die großen Kanonen, die zerschossene Stadthalle, mit Lunch oder Diner und allem Komfort und nice strong tea, wie es auf allen Schildern angeschrieben ist. In allen Buden wird mit den Toten kräftig Geschäft gemacht, man bietet Galanteriewaren aus, gefertigt aus Granatsplittern (die vielleicht einem Menschen die Eingeweide zerrissen haben), hübsche Schlachtfeldandenken, deren entsetzlichste Probe ich in einem Schaufenster sah: einen Bronze-Christus, das Kreuz gefertigt aus aufgelesenen Patronen. In den Hotels spielt Musik, die Kaffeehäuser sind voll, auf und nieder sausen die Autos, die Kodakverschlüsse klappern. Trefflich ist alles organisiert, jede Sehenswürdigkeit hat ihre Dutzend Minuten, denn man muß ja spätestens um sieben Uhr in Blankenberghe zurück sein und in Ostende, um den Smoking noch anziehen zu können für das Diner.
Das ist furchtbar durchzudenken, fast so würgend wie der Gedanke an die Toten, daß, wie die Erde ihren Dung hat von den Leichen, auch die Lebendigen an den Toten verdienen, daß die sorglosen Nachfahren sich die erschütternden Qualen einer halben Million Brüder so bequem, so gut organisiert ansehen können wie eine Kinovorstellung. Daß sie dieselben Straßen in gut gefederten Autos sausen, die jene, bepackt wie die römischen Ziegelsklaven, monatelang verschmutzt und verschweißt, durchschritten. Daß sie in gut ventilierten Gaststuben alle die Refreshments prompt serviert bekommen, die jenen in ihren nassen, dreckigen Erdhöhlen wie Nektar und Ambrosia erschienen wären. Daß sie einer halben Million Menschen vierjähriges Martyrium in einer halben Stunde, die Zigarette im Munde, bequem und zufrieden um zehn Mark betrachten können und dann mit ein paar Dutzend Ansichtskarten das Erlebnis als ein sehenswertes rühmen.
Dennoch!
Dennoch: es ist gut, daß an einigen Stellen dieser Welt noch ein paar grauenhaft sichtbare Zeichen des großen Verbrechens übrig sind. Es ist im letzten Grunde gut sogar, daß hunderttausend Menschen hier bequem und sorglos alljährlich vorüberknattern, denn immerhin, ob sie wollen oder nicht, diese unzähligen Gräber, diese vergifteten Wälder, dieser zerschmetterte Platz erinnern. Und alles Erinnern wird selbst der primitivsten, der gemächlichsten Natur irgendwie bildnerisch. Alles Erinnern, in welcher Form und Absicht auch immer, drängt das Gedächtnis wieder zu jenen furchtbaren Jahren zurück, die nie vergessen und verlernt werden dürfen. So empfand ich es auch als erziehlich und richtig, daß in Belgien jedes Jahr am 4. August, morgens um neun Uhr, zu ebenderselben Stunde, da 1914 die Deutschen einrückten, alle Glocken zu läuten beginnen, die Sirenen aller Fabriken pfeifen und einige Minuten lang die Arbeit stockt. Die Behörden, die dies verfügten, haben das wohl im nationalen, im patriotischen Sinne verfügt, nicht im kriegsgegnerischen; aber immerhin, auch diese Maßnahme hilft erinnern, sie gibt dem trüben, hindämmernden Gewissen einen Ruck und Stoß. Und man könnte es nur begrüßen, wenn alle einstmals kriegführenden Länder Europas diesen feierlichen Gebrauch übernehmen würden, wenn alljährlich auch in Deutschland und Frankreich genau zur Stunde der Kriegserklärung die Glocken läuteten, alle Sirenen gellten und die Arbeit für Minuten ruhte – für fünf Minuten der Besinnung, der Erinnerung und der Empörung.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.