Clerambault
Ein Aufschrei, ein Stöhnen, ein schmerzhafter Spott war die Tragikomödie »Liluli« – ein heiter zärtlicher Traum über den Tag hinaus die Idylle »Pierre et Luce«, beides nur episodisches Gefühl, gelegentliche Aussprache und Gestaltung. Aber die ernste, stille, dauernde Auseinandersetzung des Dichters mit der Zeit ist sein Roman »Clerambault«, die »Geschichte eines freien Gewissens«, die er in vier Jahren langsam zur Vollendung gestaltet hat. Nicht eine Autobiographie, sondern eine Transkription seiner Ideen ist dieser Clerambault, wie Johann Christof eine imaginäre Biographie und ein umfassendes Zeitbild zugleich. Hier war innerlich gesammelt, was sich in Manifest und Brief zerstreute, hier die unterirdische, künstlerische Bindung seiner in viele Formen gestalteten Wirksamkeit. Durch vier Jahre, immer gehemmt durch die öffentliche Tätigkeit und äußere Lebensumstände, hat Rolland hier sein Werk aus der Tiefe des Schmerzes zur Höhe der Tröstung emporgeführt: erst nach dem Kriege, in Paris im Sommer 1920, ist es vollendet.
Auch »Clerambault« ist ebensowenig wie der Johann Christof, was man einen »Roman« nennt, er ist wie jener weniger und unendlich viel mehr. »Clerambault« ist ein Entwicklungsroman, aber nicht der eines Menschen, sondern einer Idee: der gleiche künstlerische Prozeß wie im Johann Christof gestaltet vor uns eine Weltanschauung nicht schon als etwas Fertiges, Abgeschlossenes und Gegebenes. Stufe um Stufe aus dem Irrtum und der Schwäche steigen wir mit einem Menschen zur Klarheit empor. In gewissem Sinne ist es ein religiöses Buch, die Geschichte einer Umkehr, einer Erleuchtung, die moderne Heiligenlegende eines sehr einfachen bürgerlichen Menschen, oder eigentlich, wie der Titel sagt, die Geschichte eines Gewissens. Auch hier ist Freiheit der letzte Sinn, die Einkehr in sich selbst, aber ins Heroische dadurch erhoben, daß Erkenntnis Tat wird. Und die Szene der Tragödie ist ganz innen in einem Menschen, im Unzugänglichsten seines Wesens, wo er allein ist mit der Wahrheit. Darum fehlt auch diesem Roman der Gegenspieler, der Olivier des Johann Christof, ja selbst der eigentliche Gegenspieler jenes Werkes: das äußere Leben. Der Gegenspieler Clerambaults, der Feind ist er selbst: der alte, der frühere, der schwache Clerambault, den der neue, der wissende, der wahre Mensch erst niederringen muß; sein Heroismus spielt nicht gegen die sichtbare Welt wie jener Johann Christofs, sondern im unsichtbaren Raum der Gedanken.
»Roman méditation« hatte darum Rolland ursprünglich den Roman genannt und ihm vorerst den Titel gegeben »L’un contre tous« – »Der Eine gegen Alle«, in bewußter Variation des Titels von La Boëtie »Le Contr’un«; doch Bedenken vor Mißverständnissen ließen ihn von der ursprünglichen Titelgebung abstehen. Im geistigen Charakter sollte die künstlerische Anlage an eine längst vergessene Tradition erinnern, die Meditationen der alten französischen Moralisten, der Stoiker des XVI. Jahrhunderts, die mitten im Kriegswahn, im belagerten Paris, die Klarheit ihrer Seele in platonischen Dialogen zu steigern suchten. Aber nicht der Krieg selbst war hier das Motiv – mit Elementen streitet der erhabene Geist nicht –, sondern das geistige Begleitphänomen dieses Krieges, das Rolland als ebenso tragisch empfindet wie den Untergang von Millionen Menschen: der Untergang der freien Einzelseele in der Sturzflut der Massenseele. Er wollte zeigen, welcher Anstrengung ein freies Gewissen bedarf, um sich aus der Hürde der Herdeninstinkte zu retten, er wollte die entsetzliche Knechtung der Einzelnen durch die rachsüchtige, eifersüchtig-herrische Mentalität der Masse schildern, die furchtbare, die tödliche Anstrengung, um der Aufsaugung in die Gemeinschaftslüge zu entgehen. Er wollte zeigen, daß gerade das scheinbar Einfachste in solchen Epochen überreizter Solidarität das Schwierigste ist: der zu bleiben, der man in Wahrheit ist, und nicht der zu werden, zu dem einen die Welt, das Vaterland oder andere künstliche Gemeinschaften zu nivellieren begehren.
Mit Absicht hat Romain Rolland seinem Helden nicht – wie etwa dem Johann Christof – heroisches Format gegeben. Agénor Clerambault ist ein Unscheinbarer, ein braver, stiller Mensch, ein braver, stiller Dichter, dessen literarisches Werk gerade noch eine dankbare Gegenwart durch seine Gefälligkeit zu erfreuen vermöchte und ohne Belang für die Ewigkeit ist. Er hat den konfusen Idealismus des Mittelmäßigen, besingt den ewigen Frieden und die Versöhnung der Menschen, er glaubt aus seiner lauen Güte an eine gütige Natur, die der Menschheit wohlwill und sie mit sanfter Hand einer schöneren Zukunft entgegenführt. Das Leben quält ihn nicht mit Problemen, so rühmt er das Leben, und aus der stillen Behaglichkeit einer bourgeoisen Existenz, zärtlich umgeben von einer gütig-einfältigen Frau, einem Sohn und einer Tochter, besingt er, ein Theokrit mit der Ehrenlegion, die erfreuliche Gegenwart und die noch schönere Zukunft unseres alten Kosmos.
In dieses stille Vorstadthaus schlägt nun der zündende Blitz: die Kriegsnachricht. Clerambault fährt nach Paris: und kaum berührt ihn die heiße Welle des Enthusiasmus, so verdunsten schon alle Ideale der Völkerliebe und des ewigen Friedens. Als Fanatiker kehrt er zurück, glühend vor Haß, dampfend vor Phrase: unter dem ungeheuren Sturm beginnt seine Leier zu klingen, Theokrit wird zum Pindar, zum Kriegsdichter. Wunderbar schildert nun Rolland – wie haben wir alle dies erlebt –, wie Clerambault und alle mittelmäßigen Naturen mit ihm, ohne es sich einzugestehen, das Entsetzliche im Tiefsten als eine Wohltat empfinden. Er ist beschwingt, er ist verjüngt, die Begeisterung der Massen reißt ihm den längst eingesunkenen Enthusiasmus aus der Brust; er spürt sich erhoben von der nationalen Welle, begeistert, geschwellt vom Atem der Zeit. Und wie alle Mittelmäßigen feiert er in diesen Tagen seine größten literarischen Triumphe: seine Kriegslieder, gerade weil sie das Allgemeinempfinden so stark ausdrücken, werden nationales Eigentum, Ruhm und Beifall rauschen dem stillen Menschen zu, und er fühlt sich (in einer Zeit, wo Millionen zugrunde gehen) im tiefsten so wohl, so wahr, so lebendig wie nie.
Daß sein Sohn Maxime begeistert in den Kampf zog, erhöht nur seinen Stolz, steigert sein Lebensgefühl. Und das erste, als sein Sohn nach Monaten von der Front zurückkehrt, ist, daß er ihm seine Kriegsekstasen vorliest. Aber seltsam – der Sohn, die Augen noch heiß vom Gesehenen, wendet sich ab. Er verwirft nicht die Hymnen, um den Vater nicht zu kränken. Aber er schweigt. Und dieses Schweigen steht durch Tage zwischen ihnen: vergeblich will der Vater es enträtseln. Stumm fühlt er, daß sein Sohn ihm etwas verschweigt. Aber Scham bindet sie alle beide. Am letzten Tage des Urlaubs rafft sich der Sohn auf und fragt: »Vater, bist du auch sicher…?«, doch die Frage bleibt ihm in der Kehle stecken. Schweigend geht er zurück in die Wahrheit des Krieges.
Einige Tage später bricht eine neue Offensive los. Maxime wird »vermißt«. Und bald weiß sein Vater: er ist tot. Mit einemmal fühlt er seine letzten Worte hinter dem Schweigen, das Unausgesprochene beginnt ihn zu quälen. Er schließt sich ein in sein Zimmer: zum erstenmal ist er allein mit seinem Gewissen. Er beginnt sich zu fragen nach der Wahrheit und wandert die lange Nacht den langen Weg nach Damaskus mit seiner Seele. Stück für Stück reißt er die Hüllen der Lüge von sich los, mit denen er sich umgürtet, bis er nackt vor sich selber steht. Tief in die Haut haben sich die Vorurteile gefressen, blutend muß er sie losreißen, das Vorurteil des Vaterlands, der Gemeinsamkeit, bis er erkennt: nur eines ist wahr, nur eines ist heilig – das Leben. Ein Fieber des Suchens verzehrt ihn und der ganze alte Mensch verzehrt sich in ihm: im Morgengrauen ist er ein anderer. Er ist genesen.
Hier beginnt nun die eigentliche Tragödie, jener Kampf, den Rolland immer als den einzig wesentlichen des Lebens, ja als das Leben selbst empfindet: das Ringen eines Menschen um seine eigene, ihm persönlich zugehörige Wahrheit. Clerambault macht seine Seele frei von all dem, was durch den ungeheuren Druck der Zeit gewaltsam in sie eingeströmt war, aber nur die erste Stufe ist dies Wissen um die Wahrheit: wer um sie weiß und sie verschweigt, wird schuldiger als der Unbewußte in seinem Irrtum. Jede Erkenntnis bleibt wertlos, solange sie nicht in Bekenntnis verwandelt wird, es genügt nicht, wie Buddha, mit schweigender Lippe und starrem Auge wissend und doch kühl über den Wahn der Welt hinwegzusehen: in tiefer Stunde gedenkt Clerambault jenes anderen indischen Heiligen, des Bodhisatwa, der geschworen, erst dann ins Abseits zu gehen, wenn er die Welt und die Menschen von ihren Leiden erlöst habe. Und in dem Augenblicke, da er beginnt den Menschen helfen zu wollen, beginnt auch sein Kampf mit den Menschen.
Nun wird er plötzlich »l’un contre tous«, der Eine gegen Alle, aus den brüchigen, unsichern Menschen erwächst der Charakter, der heroische Mensch. Er ist einsam wie Johann Christof, einsamer sogar, denn jenen umrauscht noch Musik und in den Ekstasen der Schöpfung steigert sich dem Genie Wille und Kraft. Der ungeniale Clerambault hat niemand als sich selbst, seine Freunde verlassen ihn, seine Familie schämt sich seiner, die öffentliche Meinung fällt über ihn her, die ganze menschliche Masse stürzt sich gegen den Vorwitzigen, der sich ihr frei entwinden will und frei bleiben von ihrem Wahn. Das Werk, das er verteidigt, ist ein unsichtbares: seine Überzeugung. Je weiter er geht, umso kälter überfällt ihn Einsamkeit, desto heißer umstrickt ihn Haß, bis er schließlich, ein Märtyrer der Wahrheit, mit dem Leben seinen Glauben bezahlt.
Ein Roman aus der Zeit, eine Abrechnung mit dem Krieg scheint diese »Geschichte eines freien Gewissens« dem ersten Blick zu sein; aber wie der Johann Christof ist dies Lebensbild unendlich mehr: ein Kampf, nicht für oder wider ein Einzelnes des Lebens, sondern ein Kampf um das Ganze des Lebens, eine Abrechnung mit der Welt, wie sie nie ein Künstler restloser vollzogen hat. Nur ist von der naiven stürmischen Gläubigkeit Johann Christofs etwas dahin geschwunden, der lodernde Enthusiasmus des Schöpfers ist gedämpft zur tragischen Weisheit des Erkennenden. Johann Christof rief noch: »Das Leben ist eine Tragödie. Hurra!«, hier fehlt jenes rauschende aufspringende »Hurra«. Die Erkenntnis ist leidenschaftlicher geworden, aber reiner, klarer, logischer, sie hat sich vergeistigt und verklärt. Denn gerade im Kriege ist Rollands Glaube an die Menschheit als Masse tragisch erschüttert worden. Noch ist der Lebensglaube in ihm stark und aufrecht, aber er ist nicht mehr Menschheitsglaube. Rolland hat erkannt, daß die Menschheit betrogen sein will, daß sie Freiheit zu ersehnen nur vorgibt, in Wirklichkeit aber glücklich ist, sich von jeder geistigen Verantwortung zu lösen und sich in die warme Knechtschaft eines Massenwahns zu flüchten. Er hat erkannt, daß eine Lüge, die sie begeistert, ihr teurer ist als eine Wahrheit, die sie ernüchtert; und Clerambault drückt sein ganzes Gefühl der Resignation und Hingabe aus, wenn er sagt: »Man kann den Menschen nicht helfen, man kann sie nur lieben.« Das Vertrauen für die Massen, die »leicht verführbaren«, ist einem tiefen Mitleid für die Menschheit gewichen, und wieder – zum wievielten Male! – wendet sich des ewig Gläubigen ganze Begeisterung zu den großen Einsamen, die für die Menschheit leben und an ihr zugrunde gehen, zu den Heroen jenseits der Zeiten und jenseits der Völker. Was Rolland einst im Beethoven gezeigt, im Michelangelo und später im Johann Christof, das erhebt nun die Gestalt seines Clerambault zu der schönsten tragischen Form: daß er für alle wirkt, aus der tiefsten Wahrheit seiner Natur, notwendigerweise der »l’un contre tous«, der Eine gegen Alle sein muß. Aber man braucht das Bildnis des wahren Menschen, um die Menschheit zu heben, man braucht den Helden, um daran glauben zu können, daß der Kampf um das Leben einen Sinn und eine Schönheit hat: nie hat ein Werk scheinbarer Resignation darum reiner dem ewigen Idealismus seines Schöpfers gedient.
So fügt Rolland an die Gestalten seiner irdischen Kämpfer noch die erhabenste, die irdisch-religiöse: die des Märtyrers seiner Überzeugung. Aus bürgerlicher Welt, aus dem Mittelmaß eines Menschen wächst diese Tragödie, und gerade dies ist die wunderbare moralische Größe, die von diesem Buche der Trauer ausgeht, die Tröstung, daß es jedem, und auch dem einfachsten Menschen, nicht bloß dem Genius gestattet sei, stärker zu sein als die Welt wider ihn, wenn er seinen Willen aufrecht hält, frei zu sein gegen alle und wahr gegen sich selbst. Freiheit und Gerechtigkeit, die beiden Urkräfte, die Rolland zum wirkenden Menschen seiner Zeit gemacht haben, erhebt er in dem Bildnis dieses Menschen zur höchsten Lebendigkeit, zur Lebendigkeit einer moralischen Tat, die weder die Welt noch der Tod zu zerstören vermag.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.