»Liluli« und »Pierre et Luce«
Der Ethiker, der Menschenfreund, der Europäer hatte in diesen fünf Jahren zu den Völkern gesprochen, der Dichter war scheinbar verstummt. Und es mochte manchem vielleicht verwunderlich erscheinen, daß Rollands erstes dichterisches Werk, das er noch vor dem Kriegsende vollendete, eine sarkastische, witzige Komödie »Liluli« war. Aber gerade diese Heiterkeit entspringt den untersten Tiefen des Leidens: mit der Ironie hat Rolland – um einen Ausdruck der Psychoanalytiker zu übernehmen – den ohnmächtigen Schmerz über die eigene Wehrlosigkeit gegen den Wahnsinn der Welt, die Verzweiflung seiner zernichteten Seele gleichsam »abzureagieren« versucht. Vom Pol der gestauten Empörung springt der Funke über ins Gelächter: auch hier, wie in allen Werken Rollands, ist der eigentliche Wille, sich frei zu machen von einer Empfindung. Schmerz wird Gelächter, Gelächter wieder zu Bitterkeit aus einem kontrapunktischen Gefühl, das eigene Ich gegen die Schwere der Zeit in Schwebe zu halten. Wo der Zorn ohnmächtig ist, bleibt noch der Spott lebendig: wie ein brennender Pfeil fliegt er über die dunkle Welt.
»Liluli« ist das Satyrspiel einer ungeschriebenen Tragödie oder vielmehr jener Tragödie, die Rolland nicht zu schreiben brauchte, weil die Welt sie erlebte. Und es hat den Anschein, als ob sie im Schreiben bitterer, sarkastischer, fast zynischer geworden wäre als launiger Einfall beabsichtigte, daß die Zeit selbst sie gleichsam salziger, brennender, mitleidsloser gestaltet, als der Dichter sie gewollt. In ihrem Mittelpunkt stand jene (zuerst im Sommer 1917) geschriebene Szene der beiden Freunde, die, von Liluli (L’illusion), der spitzbübischen Göttin des Wahns verführt, gegen ihren inneren Willen sich im Kampf vernichten. Das alte Symbol Oliviers und Johann Christofs war in diesen beiden Märchenprinzen gestaltet, und ergreifender Lyrismus schwang aus ihren brüderlichen Worten: Frankreich und Deutschland waren dies, die einander begegneten, beide blind hinter einem Wahn hereilend, zwei Völker vor dem Abgrund, über den sie längst die Brücke der Versöhnung gespannt hatten. Aber die Zeit erlaubte nicht diesen reinen Klang der lyrischen Trauer: immer schärfer, immer spitziger, immer grotesker konstruierte sich im Schaffen die Komödie. Alles, was Rolland vor sich sah, die Diplomatie, die Intellektuellen, die Kriegsdichter (die hier in der lächerlichen Form tanzender Derwische auftreten), die Wortpazifisten, die Idole der Brüderlichkeit, der Freiheit, der Herrgott selbst verzerren sich ihm durch die Tränen zu Fratzen und Karikaturen: mit scharfen Plakatfarben, in grimmigem Riß des Zornes zeichnet er die ganze wahnsinnige Welt. Alles ist gelöst, zersetzt in der bitteren Lauge des Spottes, und den Spott selbst, das lose Lachen, trifft schließlich der zornige Pritschenschlag. Denn Polichinell, der Räsonneur des Stückes, der Vernünftige im Narrenzuge, ist allzu vernünftig; sein Lachen ist feig, weil es die Tat versteckt. Wie er der Wahrheit begegnet – der einzigen Gestalt in diesem Werke, die in tragischer Schönheit, ernst und erschütternd, gestaltet ist –, der armen Gefesselten, wagt er nicht ihr, die er liebt, zur Seite zu stehen. Selbst der Wissende jener kläglichen Welt ist feige, und gegen ihn, den Erkennenden, der nicht bekennt, wendet sich in der stärksten Stelle der Komödie die innere Leidenschaft Rollands. »Du weißt zu lachen«, ruft die Wahrheit, »weißt zu spotten, aber hinter der Hand wie ein Schulbub. Wie deine Großväter, die großen Polichinelle, die Meister der freien Ironie und des Lachens, wie Erasmus und Voltaire bist du vorsichtig, höchst vorsichtig, dein großer Mund ist verschlossen über seinem Lächeln… Aber lacht nur, ihr Lacher! Zur Strafe könnt ihr wohl lachen über die Lüge, die sich in euren Netzen fängt, aber nie, nie werdet ihr die Wahrheit haben… Ihr werdet allein sein mit eurem Lachen im Leeren. Dann werdet ihr mich rufen, aber ich werde euch nicht antworten, ich werde geknebelt sein… Ah, wann kommt das große siegreiche Lachen, das mich mit seinem Dröhnen befreit.«
Von diesem großen, siegreichen, hinreißenden Lachen konnte Rolland in dieser Komödie nichts geben: aus zu viel Bitternis ist sie entstanden. Sie hat nur tragische Ironie, Notwehr gegen die eigene Ergriffenheit. Obwohl der Rhythmus des Colas Breugnon mit seinen lose schwingenden Reimen bewahrt ist und auch hier die »raillerie«, der kleine gutmütige Spott, sich versucht – wie anders doch klang das Werk aus der seligen Zeit der »douce France« gegen diese Tragikomödie des Chaos! Dort kam die Heiterkeit aus einer vollen, hier aus einer übervollen, einer gepreßten Brust, dort war sie gutmütig, die Jovialität eines breiten Lachens, hier ironisch, aus der Bitterkeit gereizter Empfindung, aus gewaltsamer Irreverenz gegen alles Seiende. Eine Welt, eine zerstörte, geschlagene, vernichtete Welt voll edler Träume und gütiger Visionen starrt zwischen dem alten Frankreich des Colas Breugnon und dem neuen der Liluli. Vergebens setzt die Farce an zu immer tolleren Kapriolen, vergebens springt und überspringt sich der Witz: immer fällt die Schwere des Gefühls wieder schmerzhaft zurück auf die blutige Erde. Und in keinem Werke, keinem pathetischen Aufruf, keiner tragischen Beschwörung aus jener Zeit fühle ich das persönliche Leiden Romain Rollands in jenen Jahren so stark, wie hier in seinem bitteren Selbstzwang zur Ironie, an dem spitzen und zersprungenen Lachen dieses Spieles.
Aber der Musiker in Romain Rolland läßt nie eine Empfindung in Disharmonie ausklingen: selbst das grellste Gefühl des Herzens löst er in lindere Harmonie. Und so stellt er, ein Jahr später, neben die bittere Farce des Zornes eine zarte Idylle der Liebe, gleichsam in Aquarellfarben zärtlich hingetuscht, seine entzückende Novelle »Pierre et Luce«. War in »Liluli« der Wahn gezeigt, der die Welt verwirrt, so offenbart Rolland hier einen andern, erhabeneren Wahn, der die Welt und die Wirklichkeit überwindet. Zwei Menschen, Kinder fast noch, spielen sorglos über dem Abgrund der Zeit: der Donner der Kanonen, der Sturz der Lufttorpedos, die Not des Vaterlandes, alles überhören diese zwei verliebten Träumer in ihrer Seligkeit. Raum und Zeit schwinden hin in ihrem trunkenen Gefühl, Liebe fühlt in einem Menschen die Welt und ahnt nichts von jener andern des Wahns und des Hasses: selbst der Tod wird ihnen ein Traum. Zu diesen beiden seligen Menschen, zu Pierre und Luce, dem Knaben und dem Mädchen, flüchtet der Künstler: und kaum hat je in einem seiner Werke der Dichter in Rolland sich so rein ausgelebt wie in dieser Novelle. Der Sarkasmus und die Bitterkeit sind von seinen Lippen gewichen, mit lindem Lächeln verklärt er diese jugendliche Welt: eine Strophe der Stille ist dieses Werk in seinem Kampfgedicht wider die Zeit, ganz die innere Reinheit seines Wesens spiegelnd und seinen Schmerz lindernd zu einem schönen Traum.
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.