Das europäische Gewissen


Wieder wie so oft im Laufe bewegten Lebens hat der unerschütterliche Gläubige einen Brief zur Gemeinsamkeit in die Welt geworfen, wiederum vergebens. Die Dichter, die Gelehrten, die Philosophen, die Künstler, alle stehen sie zu ihren Vaterländern, die Deutschen sprechen für Deutschland, die Franzosen für Frankreich, die Engländer für England, alle für sich, keiner für alle. »Right or wrong – my country« ist ihr einziger Wahlspruch. Jedes Land, jedes Volk hat begeisterte Sprecher, die auch die unsinnigste seiner Taten blindlings zu rechtfertigen bereit sind, die seine Irrtümer, seine Verbrechen hinter rasch konstruierten moralischen und metaphysischen Notwendigkeiten gehorsam verbergen – nur ein Land, das allen Gemeinsame, das Mutterland aller Vaterländer, das heilige Europa hat keinen Sprecher, keinen Vertreter. Nur eine Idee, die selbstverständlichste einer christlichen Welt, bleibt ohne Anwalt, die Idee der Ideen, die der Menschlichkeit.


In diesen Tagen mag Rolland aus vergangener Zeit die Stunde wieder heilig bewußt geworden sein, da er wie eine Botschaft für sein ganzes Leben jenen Brief Leo Tolstois empfing. Tolstoi war der einzige gewesen, der in dem berühmten Aufschrei »Ich kann nicht länger schweigen« inmitten eines Krieges in seinem Vaterlande aufgestanden war und die Rechte des Menschen gegen die Menschheit verteidigte, der Protest erhoben hatte gegen ein Gebot, das Brüdern den Mord der Brüder befahl. Nun war seine reine Stimme verklungen, die Stelle war leer, das Gewissen der Menschheit stumm. Und Rolland empfindet das Schweigen, das entsetzliche Schweigen des freien Geistes im Getümmel der Knechte furchtbarer als den Donner der Kanonen. Die er zu Hilfe rief haben ihn verlassen. Die letzte Wahrheit, die des Gewissens, hat keine Gemeinsamkeit, niemand hilft ihm, für die Freiheit des europäischen Geistes zu kämpfen, für die Wahrheit inmitten der Lüge, für die Menschlichkeit gegen den wahnwitzigen Haß. Er ist wieder allein mit seinem Glauben, mehr allein als in den bittersten Jahren seiner Einsamkeit.


Aber Alleinsein hat für Rolland nie Resignation bedeutet. Zuschauen, wie ein Unrecht tätig wirkt, ohne Einspruch zu erheben, hat schon dem jungen Dichter so verbrecherisch geschienen wie das Unrecht selbst. »Ceux qui subissent le mal sont aussi criminels que ceux qui le font.« Und keiner so sehr wie der Dichter scheint ihm die Verantwortung zu haben, dem Gedanken das Wort zu geben und das Wort durch die Tat zu verlebendigen. Die bloße Arabeske zur Zeitgeschichte zu schreiben ist zu wenig: erlebt der Dichter die Zeit vom Mittelpunkt seines Seins, dann ist es seine Verpflichtung, für die Idee seines Seins zu wirken, die Idee lebendig zu machen. »Die Elite des Geistes stellt eine Aristokratie dar, die vorgibt, jene des Blutes zu ersetzen. Aber sie vergißt, daß jene damit begann, ihre Privilegien mit dem Blute zu bezahlen. Seit Jahrhunderten hören die Menschen viele Worte der Weisheit, aber selten sehen sie die Weisen sich aufopfern. Um die anderen gläubig zu machen, muß man beweisen, daß man selbst glaubt. Es genügt nicht, bloß Worte zu sprechen.« Der Ruhm ist nicht nur ein sanfter Lorbeerkranz, er ist auch ein Schwert. Glaube verpflichtet: wer einen Johann Christof das Evangelium eines freien Gewissens sprechen ließ, darf sich nicht verleugnen, wenn die Welt ihm das Kreuz bereitet hat, er muß das Apostolat auf sich nehmen und gegebenenfalls das Märtyrertum. Und während fast alle Künstler der Zeit in ihrer überreizten »passion d’abdiquer«, in ihrer Leidenschaft, die eigene Meinung wegzuwerfen und sich ganz in der Massenmeinung willenlos aufzulösen, die Gewalt, die Macht, den Sieg nicht nur als den Herrn der Stunde bejubeln, sondern sogar als Sinn der Kultur, als Lebenskraft der Welt, stellt sich hier das unbestechliche Gewissen schroff gegen alle.


»Jede Gewalt ist mir verhaßt«, schreibt Rolland in jenen entscheidenden Zeiten an Jouve, »kann die Welt nicht ohne Gewalt auskommen, so ist es meine Pflicht, nicht mit ihr zu paktieren, sondern ein anderes, entgegengesetztes Prinzip darzustellen, das jenes aufhebt. Jedem seine Rolle, jeder gehorche seinem Gott.« Nicht einen Augenblick ist er sich im unklaren, wie groß der Kampf ist, den er aufnimmt, aber das Jugendwort klingt noch in seiner Brust: »Unsere erste Pflicht ist, groß zu sein und die Größe auf Erden zu verteidigen.«


Wieder wie damals, als er mit seinen Dramen einem Volke den Glauben wiedergeben wollte, als er die Bilder der Heroen über eine kleine Zeit erhob, als er in dem Werk eines schweigenden Jahrzehnts die Völker zur Liebe und zur Freiheit aufrief, wieder beginnt er allein. Keine Partei ist um ihn, keine Zeitung, keine Macht zu seiner Verfügung. Er hat nichts als seine Leidenschaft und jenen wunderbaren Mut, dem das Aussichtslose nicht Abschreckung, sondern Anreiz ist. Allein beginnt er den Kampf gegen den Wahnwitz von Millionen. Und in diesem Augenblick lebt das europäische Gewissen – mit Haß und Hohn verjagt aus allen Ländern und Herzen – einzig in seiner Brust.

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Die Manifeste

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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.