Die Manifeste
Zeitungsaufsätze sind die Form seines Kampfes: um der Lüge und ihrem öffentlichen Ausdruck, der Phrase, entgegenzutreten, muß Rolland sie auf ihrem eigenen Kampfplatz aufsuchen. Aber die Intensität der Ideen, die Freiheit ihrer Meinung, die Autorität seines Namens macht diese Aufsätze zu Manifesten, die Europa überfliegen und einen geistigen Waldbrand entzünden. Wie elektrische Funken an unsichtbaren Drähten laufen sie weiter, hier furchtbare Explosionen des Hasses herbeiführend, dort hell hinableuchtend in die Tiefen freier Gewissen, immer aber Wärme, Erregung in den polarsten Formen der Entrüstung und Begeisterung erzeugend. Niemals vielleicht haben Zeitungsaufsätze eine so gewitterhafte, zündende und reinigende Wirkung gehabt wie diese zwei Dutzend Aufrufe und Manifeste eines einzelnen freien, klaren Menschen in einer geknechteten und verwirrten Zeit.
Künstlerisch zählen diese Aufsätze selbstverständlich nicht gleich den überlegten, ausgefeilten, komponierten Werken. Auf weiteste Kreise berechnet, eingeengt durch den Gedanken an die Zensur (denn es war Rolland vor allem wichtig, daß die Aufsätze, die er im »Journal de Genève« veröffentlichte, auch in der Heimat gelesen würden), müssen sie die Gedanken zugleich mit Bedacht und mit Eile entwickeln. Sie enthalten wunderbare, unvergeßliche Schreie, sublime Stellen der Empörung und Beschwörung, aber sie sind Produkte der Leidenschaft, ungleich darum im Sprachlichen, oft auch gebunden an das gelegentliche Geschehnis. Ihr Wert liegt weitaus im Moralischen: hierin sind sie eine einzige und unvergleichliche Leistung. Künstlerisch fügten sie dem Werke Rollands kaum mehr als einen neuen Rhythmus an: ein gewisses Pathos des öffentlichen Sprechers, eine heroisch gehobene Rede, die bewußt zu Tausenden und Millionen spricht. Denn in diesen Aufsätzen redet nicht ein einzelner, sondern das unsichtbare Europa, als dessen Kronzeuge und öffentlichen Verteidiger Romain Rolland sich zum ersten Male fühlt.
Was sie in unsrer Welt damals bedeutet haben, wird das eine spätere Generation, die sie nun gesammelt in den Bänden »Au-dessus de la Mêlée« und »Les Précurseurs«, liest, überhaupt noch ermessen können? Man vermag eine Kraft nie zu berechnen, ohne ihren Widerstand, eine Tat nie ohne ihr Opfer. Um die moralische Bedeutung, den heroischen Charakter dieser Manifeste würdigen zu können, muß man den (heute kaum mehr faßlichen) Irrsinn des ersten Kriegsjahres, die geistige Epidemie ganz Europas, das intellektuelle Narrenhaus sich vergegenwärtigen. Muß sich erinnern, daß Maximen, die uns heute das Banalste scheinen, wie zum Beispiel, daß nicht alle Menschen einer Nation für den Ausbruch eines Krieges verantwortlich seien, als strafwürdige politische Verbrechen galten, muß sich vergegenwärtigen, daß ein Buch wie dieses heute uns selbstverständliche »Au-dessus de la Mêlée« vom Staatsanwalt ein »niederträchtiges« genannt wurde, daß der Autor verfemt war, die Aufsätze lange verboten gewesen sind, während eine Schar von Pamphleten gegen dieses freie Wort ungehindert ihren Weg nahm. Man muß sich zu diesen Aufsätzen immer die Atmosphäre, das Schweigen der anderen hinzudenken, um zu verstehen, daß sie so laut hallten, weil sie in eine ungeheure geistige Leere hineingesprochen waren, und wenn heute ihre Wahrheiten leicht als selbstverständlich abgetan werden können, sich an das wundervolle Wort Schopenhauers erinnern, »der Wahrheit ist auf Erden nur ein kurzes Siegesfest verstattet zwischen zwei langen Zeiträumen, in denen sie als paradox verspottet oder als banal mißachtet wird«. Heute mag (für einen flüchtigen Augenblick) der Zeitpunkt gekommen sein, wo viele dieser Worte als banal gelten werden, weil sie inzwischen von tausenden Nachschreibern kleingemünzt wurden. Wir aber haben sie zu einer Zeit gekannt, da jedes dieser Worte wie ein Peitschenschlag wirkte, und die Empörung, die sie damals verursachten, bezeugt das historische Maß ihrer Notwendigkeit. Nur die Wut der Gegner (heute noch erkenntlich in einer Flut von Broschüren) gibt Ahnung von dem Heroismus dieses Mannes, der sich zum erstenmal mit seiner freien Seele »über das Getümmel« erhob. Vergessen wir es nicht: »Dire ce qui est juste et humain«, zu sagen, »was gerecht und menschlich ist«, galt damals als das Verbrechen der Verbrechen. Denn damals war die Menschheit so toll vom ersten Blute, daß sie, wie Rolland einmal so wundervoll sagte: »Jesum Christum, wenn er auferstanden wäre, noch einmal gekreuzigt hätte, weil er sagte: Liebet einander.«
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Die hier vorzufindene Sammlung der gemeinfreien Werke Stefan Zweigs ist aus der Ausgabe des Null Papier Verlages übernommen. Zu dieser Ausgabe gelangen Sie durch einen Klick auf diesen Eintrag.